Goethe: "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust"

Im Faustmythos geht es um den hintergründigen Sinn der menschlichen Existenz, um den Menschen in der Zerreißprobe zwischen hellen und dunklen Mächten. Dr. Agnes Aregger enthüllt hier das Esoterische in Goethes 'Faust'.

Faust und sein Schatten MephistoDie tragische Faust-Thematik ist seit dem 16. Jh. unzählige Male literarisch bearbeitet worden.1 Offensichtlich ist dies ein Stoff, der die Geister und Gemüter der Menschen immer wieder aufs neue herausfordert. Und über kaum ein Thema ist soviel geschrieben und herumgerätselt worden. Jedes einzelne Motiv des Faust-Stoff wurde verschiedentlich untersucht und erläutert.

 Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust (= Staub) Zu den Gefilden hoher Ahnen.
(Faust I, Vers 1112 1117)2

Das ist das tragische Dilemma, indem der melancholische Doktor Faust steckt und das ihm "schier das Herz verbrennt". Um seinen ungeheuren Wissensdurst zu stillen, hat er "mit heißem Bemühen..." "Philosophie, Juristerei, Medizin und leider auch Theologie"(I,344 356) studiert - nur um festzustellen, "daß wir nichts wissen können" (I,364). Faust fühlt sich von allen guten Geistern verlassen und wendet sich der schwarzen Magie zu. Das führt ihn allerdings nicht aus dem Dilemma heraus, sondern in immer kompliziertere Verstrickungen hinein.

"Zwei Seelen wohnen, ach! in meine Brust". Diese berühmten Worte aus Goethes Faust sind inzwischen beinahe zu einem Synonym für den Namen Faust geworden. Sinnigerweise hat Faust eine doppelte Bedeutung: Im Deutschen steht er für Wut und Aufruhr, ungezähmte Kraft und Gewalt. Vom Lateinischen hergeleitet - (aus faustus = glücklich) - heißt Faust hingegen der Glückliche. Damit verweist der Name dieses tragischen Helden, der sein Glück nicht selten mit Gewalt zu erreichen versucht, auf die tiefe Zerrissenheit seines Wesens.

Faust als historische Figur

Die Faustlegenden gehen zurück auf eine historische Figur: Doktor Georg oder Johann Faust. Dieser wurde angeblich um 1480 - also zu Luthers Zeit - im Raum Württemberg geboren und zu Beginn des 16. Jahrhunderts als Gelehrter und Wahrsager bewundert, war aber auch als Scharlatan und Quacksalber verschrien. Ja, der waghalsige Tausendsassa soll sogar mit dem Teufel im Bunde gestanden sein. Vielleicht war dieser Faust auch bloß eine neugierige Forscherfigur, ein kühner Vorläufer unserer Naturwissenschaftler oder ein echter Alchemist, dem es gelungen war, die Geheimnisse der Natur zu ergründen und den "Stein der Weisen" herzustellen. Letztlich läßt sich das wohl kaum mehr ausmachen. Jedenfalls soll sein Leben ein jähes Ende gefunden haben - ob er nun vom Teufel persönlich abgeholt wurde oder einem seiner kühnen Experimente im eigenen Laboratorium zum Opfer fiel.

Kein Wunder, daß sich um diese historische Faustgestalt schon bald die Sagen spannen. Ab dem 16./17. Jahrhundert entstanden verschiedene in Prosa verfaßte "Volksbücher"3 über Faust - meist in lehrhaftem Predigtton -, ferner Tragödien in Versform, Schwänke und Puppenspiele, vor allem in deutscher Sprache, aber auch in Englisch (Chr. Marlowe )4 , Spanisch (Calderón de la Barca)5 und in Lateinisch (Schuldramen). Auch im 18., 19. und 20. Jahrhundert entstanden immer wieder neue Faustdichtungen6 , bis hin zu Thomas Manns monumentalem Roman Doktor Faustus (erschienen 1947)7 . Die zurecht weitaus berühmteste Faustdichtung stammt jedoch von J.W. Goethe. Sie sprengt die Dimensionen der übrigen Faustdichtungen, indem sie der Größe dieser Gestalt gerecht wird und einen Ausweg aus dem geistigen Dilemma aufzeigt. Zu den literarischen Bearbeitungen kamen später auch musikalische Faust-Darstellungen hinzu, u.a. Charles Gounods Oper Faust, die 1859 uraufgeführt wurde.

Faust als Mythos

Die vielen Faustbearbeitungen über die Jahrhunderte belegen es: Faust ist schon bald zu einem Mythos geworden, steht doch sein Name für die zwischen zwei entgegengesetzten, scheinbar unvereinbaren Welten hin und her gerissene menschliche Existenz schlechthin. Wir haben es also hier nicht etwa mit einer historischen Magierfigur zu tun, sondern mit einem Urproblem des menschlichen Daseins hier auf Erden, mit einem Archetypus, der wohl so alt ist wie der Fall des Menschen.

Als der Mensch allmählich den ‚Schleier der Maya' auf sich herabzog und dadurch aus seiner ursprünglichen Einheit mit der Gottheit herausfiel, begann sich seine geistige Sicht mehr und mehr zu trüben. Er geriet in den Kreislauf der Verkörperungen hinein, verlor den Kontakt zu seinem wahren Selbst und büßte seine gottgegebene Schöpferkraft und seine metaphysischen Fähigkeiten (wie die Hellsichtigkeit) weitgehend ein. Zurück blieb eine vage, wehmütige Erinnerung an das verlorengegangene Paradies, das fortan nur noch in den Mythen der Völker weiterlebte...

Durch eine bewußte Kontaktaufnahme mit ‚höheren' oder auch mit ‚tieferen' Mächten, mit göttlichen und dämonischen Wesen, wollte der Mensch fortan seine Ohnmacht wettmachen, seine Grenzen sprengen, sein beschränktes Wissen erweitern und die Elemente der Natur bezwingen. Die Mittel und Wege, die er dazu einsetzte, waren u.a. das Reisen und das Studium, aber auch Zeremonielle und rituelle Handlungen, Gebete und Beschwörungen, die Einsamkeit und die Meditation.

In diesem Sinn ist jeder verkörperte Mensch ein Faustus - oder eine Faustina, der oder die letztlich nichts anderes sucht als den Weg zurück nach Hause, sei es auch noch so verzweifelt und durch noch so viele Irrungen und Wirrungen - sprich Verkörperungen - hindurch. Bei den einen ist dieser Drang latent, bei andern jedoch akut - und damit sind wir beim faustischen Menschen angelangt. Er ist im Grunde ein ent-täuschter, hartnäckiger Gottsucher, selbst wenn er gelegentlich vor lauter Verzweiflung und Auflehnung gegen diesen Gott - oder auch gegen das Bild, das er sich von ihm macht Amok läuft und sich sogar mit dem ‚Leibhaftigen' verbündet, um ihm zu trotzen.

Faust als Magier

"Es möchte kein Hund so weiterleben! (I, 376-77) Drum hab' ich mich der Magie ergeben..."

Faust ist ein Magier was immer man darunter verstehen mag. Wie kommt es nun aber, daß Zauberkünstler auf große und kleine Kinder eine derart starke Faszination ausüben, auch heute noch? Lassen wir uns von ihnen nicht allzu gerne in eine Welt versetzen, die nicht nach unserem äußeren Verstand funktioniert - und sei es nur für kurze Augenblicke? Vielleicht ahnen wir in solchen Momenten, daß übersinnliche Kräfte auch in uns schlummern und daß wir einmal imstande waren, frei über sie zu verfügen. Oder es wird uns dabei aber auch angst und bange, da wir solche Fähigkeiten einst mißbrauchten.

Was heißt nun Magie genau? Was ist ein Magier? Das Wort magos (gr.) bzw. magus (lat.) stammt aus dem persischen Kult und bedeutet Feueranbeter, Priester, Sternkundiger oder Traumdeuter. Die biblischen ‚Weisen aus dem Morgenland', die dank ihren astronomischen Kenntnissen den Weg zum Avatar des Fischezeitalters fanden, waren solche Magier. Im Spanischen bezeichnet man sie noch heute als ‚los tres magos', die drei Magier.

Der ursprünglich neutrale Ausdruck wurde im deutschen Kontext später oft in einem abschätzigen Ton verwendet. Der Klarheit halber wird daher unterschieden zwischen weißer Magie, bei der sich der Mensch mit reinen, göttlichen Kräften verbindet - wie Jesus der Christus, der Kranke heilte und Dämonen austrieb , und schwarzer Magie, die unreinen Energien und Entitäten Tür und Tor öffnet, wie dies die ‚Baalspriester' zur Zeit des Propheten Elias taten. Natürlich kann auch ein Weißmagier zu einem Schwarzmagier verkommen, wie im Falle von König Salomon.

Biblische Magier waren u.a. Bileam (4. Mos. 22-24) oder Simon aus Samaria (Apostelgeschichte Kap. 8).8 Frühchristlichen Legenden berichten vom Magier und Märtyrer Cyprianus oder auch vom gefallenen Priester Theophilus was so viel heißt wie Liebling Gottes oder Gottlieb -, der ein überaus sinnenfreudiges Leben führte, bis ihn ein Strahl der göttlichen Gnade traf und zur Umkehr bewegte. Auch Merlin, der Erzieher des großen Königs Arthus, ist hier zu nennen. Berühmte Magier der Renaissance-Zeit waren u.a. Paracelsus und Albertus Magnus.

Eine Geheimwissenschaft wie die Magie, die die menschlichen Geister und Gemüter über die verschiedener Epochen, Religionen und Kulturen hinweg immer wieder aufwühlte, muß die menschliche Natur in ihrem innersten Lebenskern (be)treffen, wie vor allem aus Goethes Faust ersichtlich wird.

Der Pakt mit dem Teufel

Das Kernmotiv der Faustsage ist der berüchtigte Pakt mit dem Teufel, den Faust nach alter Tradition mit seinem Herzblut unterschreibt. Die Teufelsfigur, die diesen Pakt mit Faust eingeht, trägt in einigen Faustdichtungen - so auch bei Goethe den griechisch anmutenden Namen Mephistopheles9 , der frei übersetzt in etwa bedeutet: ‚Einer, der das Licht nicht liebt'10 .... Um Lebens oder Sterbens willen /Bitt' ich mir ein paar Zeilen aus,(/,1714 1715) verlangt Goethes Mephisto, denn als gewiefter Advokat will er auch etwas Schriftliches in Händen halten. Und er verlangt von Faust, der diesen Akt ohnehin nur für eine Farce hält: Du unterzeichnest dich mit einem Tröpfchen Blut (I, 1737) denn: Blut ist ein ganz besondrer Saft. (I, 1740).

Das ist es auch, denn es ist nicht nur physisch, sondern auch ätherisch. Blut trägt sozusagen den Stempel des Individuums und ist imstande (über die Lungen) das Prana aufzunehmen also den Lebensodem, die kosmische Energie , das den Menschen mit der reinen spirituellen Ebene verbindet Zudem ist das Herz der Tabernakel des Allerhöchsten im Menschen, beherbergt es doch den göttlichen Funken, die dreifältige Flamme. Als Universalgelehrter, der keine Trennung zwischen Geist und Natur kannte und in allen Erscheinungsformen nach den in ihnen wirkenden Kräften suchte, dürfte Goethe um diese Zusammenhänge gewußt haben - als intuitiver Dichter hat er sie zumindest erahnt.

Der Teufelspakt ist letztlich eine Umkehrung des Taufgelöbnisses, das einer Absage an den Teufel gleichkommt und das durch den Teufelspakt wieder außer Kraft gesetzt wird. Und so ungefähr lautet der Vertragsinhalt - hier in Mephistos Worten:

Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, (I, 1656 1659) auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; wenn wir uns drüben wiederfinden, So sollst du mir das gleiche tun.

Quellenangaben

  • 1 Die Faustliteratur hat ein Ausmass erreicht, das einen beinahe erschrickt. In meinem Artikel konzentriere ich mich auf die Kernaussage.
  • 2 Auf Zitate aus Goethes Faust I wird fortan wie folgt verwiesen: I (= erster Teil) bzw. II (= 2. Teil) plus Versnummern.
  • 3 Eines der berühmtesten war die "Historia von Dr. Johann Faustus, dem weitbeschreiten Zauberer und Schwarzkünstler", 1587 bei Spieß in Frankfurt am Main erschienen.
  • 4 Tragical History of the Life and Death of Dr. Faustus. Dieses bedeutende Werk erschien bereits Ende des 16.Jahrhunderts und hatte eine große Ausstrahlung.
  • 5 Der wundertätige Magus
  • 6 u.a. ein Faustfragment von Lessing und ein Faustpoem von Heine
  • 7 Manns Faustgestalt ist ein moderner Komponist, Adrian Leverkühn, der in der Manier Schönbergs auf der Basis der (disharmonischen) 12-Tontheorie komponiert und (nach dem Roman) Ende des 19. bis gegen Mitte des 20. Jahrhundert lebt. Manns Faust trägt Züge des historischen Faust, Friedrich Nietzsches, Arnold Schönbergs und des Autors selber.
  • 8 Weitere Ausführungen dazu in: Robert Petsch, Faustsage und Faustdichtung, Dorfmund 1966
  • 9 Fortan verwende ich die Kurzform Mephisto
  • 10 Nach einem uralten Fremdwörterbuch von Dr. Joh. Christ. Aug. Hense aus dem Jahre 1903.