Leid: Über rauhe Pfade zu den Sternen...

... sagt ein Sprichwort („Per aspera ad astra“) und meint damit, daß man den Himmel nicht gewinnen kann, wenn man nicht voller Mut und Zuversicht die Pfade des Leides gewandert ist.

Die Tränen des Leids sind Edelsteine der Läuterung für die Seele.

Die Tränen des Leids sind Edelsteine der Läuterung für die Seele.

In der Gegend von Delhi, in Indien also, lebte einmal ein armer, gottergebener Mann. Er wohnte am Waldrand in einer kleinen Hütte, zusammen mit seiner Frau und einer Kuh, die ihm sehr wertvoll war (in Indien gelten die Kühe ja als heilig). Immer, wenn sie auf dem Markt etwas verkauften, trug die Kuh die Lasten hin und her. Ihr Leben teilte auch noch ein Hund, der auf alles aufpasste, und ein forscher Papagei, der jeden Morgen seinen Weckruf „Erwacht, erwacht und betet zu Gott!“ kreischte.

Eines Tages kam ein Löwe aus dem Dschungel und tötete die Kuh; dem Hund gelang es, sich noch rechtzeitig zu verstecken. Als der arme Mann seine tote Kuh entdeckte, sagte er nur: „Es ist gut, Gott lässt alle Dinge zum Besten geschehen. Sein Wille ist nur zu unserem Besten.“ Seine Frau war über diese Worte sehr verärgert.

Etwas später am gleichen Tag benutzte der Papagei die Gelegenheit, als die Tür seines Käfigs offenstand, schlüpfte hinaus, wurde vom Hund gefangen und totgebissen. Der Mann sagte wiederum nur „Es ist gut, alles ist zu unserem Besten.“ Seine Frau schlug sich an den Kopf ob der Dummheit ihres Gatten. Kurze Zeit später kamen die Nachbarn und berichteten ihr, dass ihr Hund auf der Straße im Sterben liege. Als er gestorben war, meinte der Hausherr wiederum nur: „Alles ist gut. Was immer Gottes Wille ist, es geschieht nur zu unserem Besten.“

Seine Frau hielt es nicht länger aus. „Warum redest du solch sinnlose Worte?“ schimpfte sie mit ihrem Mann. „Die Kuh gab uns Nahrung und half uns, unsere Lasten zu tragen. Der Hund bewachte uns, und der Papagei hat uns jeden Morgen aufgeweckt. Nun sind alle tot. Warte nur, diese Nacht wird man uns auch noch holen und umbringen.“ Ihr Mann blieb gelassen und ruhig. „Was geschieht, geschieht. Man kann es nicht ändern“, bemerkte er. In der Nacht schliefen sie fest und tief. Als sie am nächsten Morgen vor die Hütte traten, sahen sie die Bewohner des Dorfes tot auf der Straße liegen. In der Nacht hatte eine Bande von Räubern das Dorf überfallen und alle Bewohner ermordet.

Die Hütte des armen Mannes am Rande des Dschungels aber war ohne Hund gewesen. So hielten sie die Räuber für unbewohnt und ließen sie unberührt. Auf diese Weise also hatte Gott das Paar gerettet. Der Mann erklärte seiner Frau: „Siehst du, hätte der Hund noch gelebt, hätte er die Räuber auf uns aufmerksam gemacht. Auch die Kuh wäre ihnen aufgefallen. Selbst der Papagei hätte uns mit seinem Geschrei verraten können. Gott in Seiner Güte hat alles so gerichtet, dass wir verschont blieben. Kannst du jetzt noch am Sinn des Geschehenen und an Seiner Weisheit zweifeln?“

Hin und wieder verkleidet sich das Glück als Leid; genauso, wie das als Glück Empfundene sich im Nachhinein als Unglück entpuppen kann. Wie beispielsweise bei der folgenden Geschichte:

Ein Priester, der nun schon 30 Jahre zölibatär gelebt hatte, vermochte eines Tages seinen Trieb nicht länger zu unterdrücken und begab sich ins Freudenhaus. Dort gönnte er sich den ‚vollen Service‘. Als er aber danach bezahlen wollte, sagte ihm die Vorsteherin des Etablissements milde: „Nein nein, Hochwürden, lassen Sie es gut sein.“ Dabei drückte sie ihm diskret einen Zwanziger in die Hand. Hochwürden wurde die ganze Nacht sosehr vom schlechten Gewissen geplagt, dass er am nächsten Morgen bei seinem Bischof beichtete. Dieser erteilte ihm gnädig die Absolution und versäumte nicht, ganz nebenbei nach der Adresse besagten Freudenhauses zu fragen. Sie ahnen schon: Am nächsten Abend war dort der Herr Bischof zu Gast, voller Service, volle Zufriedenheit. Derselbe Spruch der Vorsteherin, als er bezahlen wollte – doch statt eines Zwanzigers drückte sie ihm diskret zwei Hunderternoten in die Hand. Der verwunderte Bischof ging nach Hause, wo auch er die ganze Nacht lang vom Gewissen umgetrieben wurde, so dass er sich tags darauf beim Kardinal und einer tüchtigen Beichte Linderung verschaffte. Auch der Kardinal versäumte nicht, nach der Absolution ganz beiläufig nach der Adresse des Etablissements zu fragen, wohin er sich noch am selben Abend begab. Voller Service, volle Zufriedenheit, und beim Bezahlen derselbe fromme Spruch der Vorsteherin. Statt der zwei Hunderter drückte diese dem erstaunten Kirchenfürsten nun aber zwei Tausendernoten in die Hand. Der Kardinal war dermaßen perplex über den großzügigen Geldsegen, dass er die Vorsteherin fragte: „Hören Sie, meine Liebe, meinem Priester haben sie 20 Franken gegeben, meinem Bischof 200 und mir selbst nun 2000. Wie darf ich solche Großzügigkeit verstehen?“

„Das ist schon in Ordnung, Euer Gnaden“, strahlte ihn die Vorsteherin an. „Wissen’s, vom Priester haben wir ja nur Fotos gemacht; den Bischof auch nur mit Video gefilmt – aber Sie, Sie waren heute live im Fernsehen!“

Manchmal ist es offenbar gar nicht einfach, zu sagen, wo das Glück liegt und wo das Leid. Das perfide daran ist, dass doch die Menschen nur eines wollen im Leben: Glück in der Liebe, Glück im Spiel, Glück mit den Finanzen, Glück im Beruf, Glück auf allen Ebenen. Das Leid ist etwas für die Armen, Schwachen, Erfolglosen. Und so betrachtet es denn der junge Mann als größtes Glück, das schönste Mädchen im Dorf zu heiraten und ist empört, wenn es sich als vergnügungssüchtiges Flittchen entpuppt. Der weise Mann, sagte schon der bulgarische Weise Omraam Michael Aivanov, der weise Mann nimmt sich eine Xanthippe, weil er nur mit ihr etwas lernen wird im Leben. Und des Menschen wahres Glück liegt eben nur darin: Beim Abschied edler, stärker, weiser, liebender zu sein als bei der Ankunft.

Leid kann stark machen, wenn man richtig damit umgeht. Glück macht sehr oft nur schwächer – weil es den Menschen träge, egoistisch, gierig und genusssüchtig werden lässt. „Wer starken Willens ist, kann alle Schwierigkeiten überwinden“, schreibt Paramahansa Yogananda, der indische Weise, im sehr schönen Buch ‚Wo Licht ist‘. „Sagt euch angesichts von Prüfungen immer wieder: ‚Die Gefahr und ich wurden zusammen geboren, doch ich bin gefährlicher als jede Gefahr.‘ (...) Verhaltet euch nicht wie unterwürfige sterbliche Wesen. Ihr seid Gottes Kinder!“

Leid ist die Spitzhacke, mit der das Schicksal unser Bewusstsein umpflügt, um dabei auf einen verborgenen Quell geistiger Kraft zu stoßen. Dennoch fristet das Leid heute das Dasein eines Parias, eines Ausgestoßenen. Wir sind umgeben von schönen, gesunden, lächelnden Erfolgsmenschen, die vom Aufstehen bis zum Zubettgehen höchstens von der Sorge um das richtige Deodorant und die perfekte Figur umgetrieben werden – und auch das lässt sich in den Griff kriegen. Leid macht so unattraktiv, nicht wahr! Und man möchte doch immer so gut ‚drauf‘ sein. Leid wirkt mindestens so Karriere-hemmend wie starker Körpergeruch oder extreme Fettleibigkeit.

Leserstimmen zum Artikel

Ich möchte Euch herzlich danken für die phantastischen Artikel in der ZeitenSchrift 22, vor allem den mit ‘Aha-Erlebnis’ verbundenen Artikel ‘Über rauhe Pfade zu den Sternen...’, der viele Dinge, die uns (mir) geschehen, begreiflicher macht. Danke und macht immer weiter.

K. R., DE-Ettlingen