Selbst-Erkenntnis: Warum wir nur gewinnen können, wenn wir uns getrauen, so zu sein, wie wir sind. Alles andere führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern auch auf Umwege, die uns vom wahren Pfad wegführen.
Dreißig Jahre war Irene schon mit Ferdinand verheiratet. Dass dem so war, lag nur daran, dass Ferdinand häufig auf Geschäftsreise ging. Er war so cholerisch, dass es Irene immer wieder genoss, ein paar Tage ihre Ruhe zu haben und ihr Leben leben zu können, ohne ständig kritisiert, bevormundet und angeschrien zu werden. War er dann da, konnte sie sich darüber freuen – schließlich ging er ja immer wieder, bevor die Situation unerträglich wurde. Das Einzige, was ihr Sorgen bereitete, war die näher rückende Pensionierung von Ferdinand. Sie erschien ihr wie eine Zwangsjacke, die man um sie legen würde, und es gab kein Entrinnen. Acht Tage, nachdem Ferdinand zum Rentner wurde, starb Irene eines natürlichen Todes.
Dennoch war es eine Art Selbstmord. Hätte Irene es gewagt, außerhalb des gesellschaftlich akzeptierten Schemas zu denken, hätte ihr Körper nicht kapitulieren müssen vor ihrer Angst. Sie hätte den Mut gehabt, Ferdinand die Sachlage zu erklären und sich entschieden, sich eine kleine Zweitwohnung zu nehmen, damit sie immer mal wieder ein paar Tage für sich sein und ihre Seele regenerieren konnte – so wie es dreißig Jahre lang gut funktioniert hatte.
Ganz ähnlich ging es Georg. Als er Marianne heiratete, hatten sie kein Geld, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als die ersten fünf Ehejahre bei Mariannes Eltern zu wohnen. Georg litt sehr unter der Fuchtel der Schwiegereltern, die sich seiner Meinung nach in alles einmischten und sie ständig bevormundeten. Er atmete auf, als er mit seiner Frau endlich in eine Mietwohnung ziehen konnte, wo sie beide zwanzig Jahre lang glücklich lebten. Bis die Schwiegereltern eine Idee hatten: Sie schlugen vor, ihr Haus zu verkaufen und durch ein größeres zu ersetzen, in dem sie beide Platz finden würden – jeder in seiner Wohnung. So, hofften sie, wäre für ihre Betreuung in gebrechlichen Tagen gesorgt. Georg erschien das als ein einziges Schreckensszenario. Doch schließlich gab er dem Drängen von Ehefrau und Schwiegereltern nach – scheinbar. Denn am Tag, an dem der Verkauf des Elternhauses besprochen werden sollte, erlitt er einen Herzinfarkt. Zwei Tage später war er tot. Seine Frau erfuhr erst dann, dass noch etwas anderes Georg niedergedrückt hatte: Zum dritten Mal war er im Geschäft bei den Beförderungen übergangen worden.
Hätte Georg zum einen auf seine innere Stimme gehört und sich standfest dem Projekt der Schwiegereltern widersetzt, und hätte er entweder seine berufliche Schlappe zu Hause vertrauensvoll kommuniziert oder aber daraus geschlossen, dass sein Beruf wohl nicht seine Berufung war und den Mut gehabt, auch hier der Stimme seines Herzens zu folgen – auch sein Leben hätte nicht in unbewusster Selbstvernichtung vorzeitig enden müssen.
Wir sehen: Sich selbst nicht zu leben, kann ans Lebendige gehen. Denn auch wenn es einen Plan für unser Leben gibt, auch wenn uns eine bestimmte Zeitspanne im Voraus zugemessen ist, bedeutet dies nicht, dass wir nicht durch falsche Entscheidungen oder eine falsche Lebensführung diese Zeitspanne vorzeitig beenden können – und dies nicht nur durch eigenhändig ausgeführten Suizid.
Es kann also lebensgefährlich sein, wenn wir unsere Berufung nicht leben, wenn wir uns von außen bestimmen lassen, statt dem, was wir innerlich spüren nachzugeben. Werner Bartens berichtet in seinem Buch Körperglück – wie gute Gefühle gesund machen von einer Frau, die mit einem angeblichen Herzinfarkt in die Klinik eingeliefert worden war. Angeblich, weil die Symptome zwar eindeutig für einen Infarkt sprachen, sich jedoch am Herzen mit allen professionellen Mitteln kein Schaden feststellen ließ. Einzig ihre linke Herzkammer wies eine bestimmte Beeinträchtigung auf. Nun wusste man, woran die Dame litt: Am sogenannten Broken Heart-Syndrom – an „gebrochenem Herzen“.
„Bei Patienten mit gebrochenem Herzen ziehen sich die Herzmuskel und oft auch die Kranzgefäße krampfartig zusammen. Auslöser für die bedrohliche Lage ist aber nicht, wie typischerweise beim Infarkt, ein Blutgerinnsel, das die Koronarien verstopft, oder eine Herzrhythmusstörung, sondern seelische Überlastung.“
„Für Psychosomatiker gab es Vorzeichen. ‚Das ganze Leben über war diese Frau einem unglaublichen Druck ausgesetzt’, sagt ihr behandelnder Arzt. ‚Es ist ein Wunder, dass sie so lange ausgehalten hat.’ Zwar erzählt die Patientin, dass sie seit Jahren Rückenschmerzen hat, Schlafstörungen und furchtbare Kopfschmerzen. Aber sie hat das nicht zugelassen, weitergekämpft, die Zähne zusammengebissen. So hatte sie es ja gelernt.
In der Psychosomatischen Klinik übt sie, sich Gutes zu tun. (…) Ihr ganzes bisheriges Leben lang war die Patientin eingezwängt gewesen, jetzt genoss sie es, sich freier, entspannter und ohne Druck zu bewegen, ohne ständig etwas leisten zu müssen. ‚Ich hätte nicht gedacht, dass ich solche Gefühle noch einmal erlebe’, sagt sie, und dabei stehen ihr Tränen in den Augen.“
Die meisten „vorzeitigen Tode“ seien im Grunde Akte der Selbstvernichtung von Menschen, die innerlich spüren, dass sie auf diese Weise nicht mehr weiterleben können, die aber zu verängstigt sind, als dass sie es wagten, die Weichen umzustellen, postuliert Hermann Meyer in seinem (vergriffenen) Buch Der Tod ist kein Zufall. Meist werden diese Ängste verdrängt. Sie rufen selbst wieder solche Angst hervor, dass man sich ihnen nicht einmal stellen darf. Und so bleibt eines Tages nichts weiter als die Flucht aus dem Leben – durch eine tödliche Krankheit oder einen Unfall.
Es ist eben nicht egal, was wir mit unserem Leben anfangen, und der Weg des geringsten Widerstandes führt am Ende meist in die seelische Einöde, aus der man dann keinen Ausweg mehr zu finden glaubt.
Dass in unseren reichen Ländern so viele Menschen in seelischer Armut und Ausweglosigkeit dahinvegetieren, hat damit zu tun, dass sie nirgendwo die wirklich wichtigen Dinge lernen. Beispielsweise, dass sie nicht nur dieses eine Leben haben und dieses deshalb nicht nur damit verbringen sollten, dem größtmöglichen Vergnügen nachzujagen.
Vielmehr verkörpert sich jeder Mensch immer und immer wieder – und dabei ist es natürlich ganz egal, ob er selbst an die Tatsache der Reinkarnation glaubt oder nicht. Er hat sich dieses Leben ausgesucht durch das, was er in früheren Leben tat. Und das, was er in diesem Leben tut, wird wiederum entscheiden, wo er als nächstes geboren wird – in welchem Land, in welche soziale Schicht, mit welcher Gesundheit oder Krankheit, zu welchen Menschen. Tut er nichts Gutes, lernt er nichts Wesentliches, wird sein nächstes Leben ziemlich ähnlich dem Jetzigen sein. Verplempert er dieses Leben mit Unsinn und Untugend, dann werden seine nächsten Bedingungen sich wohl schwieriger gestalten. Strebt er jedoch nach Selbstverbesserung in jeder Beziehung, übt sich in Güte und Selbstlosigkeit, dann klettert er auf der Treppe der Errungenschaften – die zur letztendlichen inneren und äußeren Freiheit führt – eine Stufe höher. Alles Gute, das er sich jemals erarbeitet hat, kann ihm sowieso niemand mehr nehmen. Das ist also der wahre, unvergängliche Reichtum, den zu erwerben sich wirklich lohnt.
Diesen erwirbt man sich jedoch nicht, indem man seine Seele verkauft – einem Beruf, einer Stellung, den Konventionen, Macht, Ruhm, Einfluss, Geld oder einer Person. Im Gegenteil, damit betrügt man das eigene wahre Ich. Man schließt es in eine Kammer des Unterbewusstseins und lässt es dort schmoren, damit man seine warnende Stimme – auch Gewissen genannt – nicht mehr immer so dröhnend hören muss. Und im Augenblick, da man das wahre, göttliche Ich wegzusperren versucht in der Kammer des Unterbewusstseins, öffnet man dessen Türen, und all seine Bestien kommen heraus. Omraam Michael Aivanov, der bulgarische Weise, beschrieb die Schichten des Unterbewusstseins einmal als „Regionen, in denen allerlei prähistorische Monster angesammelt sind: Dinosaurier, Brontosaurier, Ichtyosaurier!… Ja, diese Monster leben alle noch. Zwar sind sie schon lange von der Erdoberfläche verschwunden, aber sie leben weiter im Menschen als Instinkte, Gefühle und Begierden. Selbst wenn ihr physischer Körper aufgelöst ist, bedeutet das aber nicht, dass auch ihr Astralkörper verschwunden ist. Nein, denn durch ihren Astralkörper sind alle Tiere – und nicht nur die prähistorischen – im Unterbewusstsein des Menschen ansässig. Und die in der Einweihungswissenschaft unkundigen Psychoanalytiker gehen unvorsichtig daran, diese verborgenen Schichten aufzurühren, weil sie angeblich im Unterbewusstsein der Menschen nach dem Ursprung gewisser Störungen suchen wollen. Aber durch diesen Eingriff wecken sie diese Tiere auf, die sich dann auf den Betreffenden stürzen, um ihn zu verschlingen.“
Wenn wir um uns blicken, haben wir den Eindruck, dass viele dieser „Bestien“ heute ihrem Kerkerdasein entkommen sind. So viele Menschen haben sich zur Geisel ihrer Begierden machen lassen! So viele haben dadurch, dass sie keinerlei Geistigkeit in ihrem Leben haben, dadurch, dass sie ihre Aufmerksamkeit täglich entsetzlichen Klängen, horriblen Filmen oder auch pornographischen Darstellungen leihen, unbewusst die Kellertür ihres Unterbewusstseins geöffnet und finden sich nun als Gefangene wieder, statt Herren zu sein. „Das Unterbewusstsein ist eine sehr weite und gefährliche Region“, warnt Aivanov, „den Tiefen des Ozeans vergleichbar. Wollt ihr dort ohne die notwendige Ausrüstung hineintauchen, so ist es um euch geschehen, denn in diesen Tiefen hausen Ungeheuer, die nur darauf warten, euch zu verschlingen. Bekanntlich braucht man zur Erforschung der Meerestiefen oder des Erdinneren spezielle Ausrüstungen.
Es ist übrigens bei jedem Unterfangen notwendig, in guter Form zu sein und dazu noch über einen speziellen Schutz zu verfügen. Nur wenn es darum geht, in die Tiefen des eigenen Wesens hinabzusteigen, meinen die Menschen, es sei leicht und völlig gefahrlos.“
Umso wichtiger, dass der Mensch erkennt, dass er keine Geisel sein müsste, gebeutelt von Ängsten, finsteren Emotionen und Hoffnungslosigkeit. Omraam Michael Aivanov wäre kein Weiser, wenn er nicht seinen Schülern eine Anleitung gegeben hätte, wie sie sich aus der „Geiselhaft“ befreien können: „Ich habe euch Methoden gegeben, die euch ermöglichen, das Unterbewusstsein in den Dienst eurer spirituellen Arbeit zu stellen. Ihr solltet z.B. wissen, dass die wahren Umwandlungen niemals durch bewusste Gedanken, sondern durch unbewusste bewirkt werden. Um euer spirituelles Ideal zu verwirklichen, müsst ihr daher lernen, in euer Unterbewusstsein hinabzusteigen, um dort das Bild des angestrebten Ideals zu hinterlegen. Durch bewusste Arbeit wird es gewiss eines Tages zur Verwirklichung kommen. Schneller geht es allerdings, wenn ihr mit dem Unterbewusstsein arbeitet, denn gerade die unterbewussten Kräfte üben die größte Macht über die Materie aus.
Was entspricht nun dem Unbewussten?“ Aivanov klärt auf: „Das Unbewusste entspricht dem Mineralreich, das Unterbewusstsein dem Pflanzenreich [das mag ein Grund für die Wirksamkeit von Bach-Blütenessenzen sein, die Red.]; das Bewusstsein dem Tierreich, das Selbstbewusstsein dem Menschen selbst; und das Überbewusstsein den großen Meistern und Eingeweihten. Das mit dem Pflanzenreich verbundene Unterbewusstsein steht der physischen Welt, also der Verwirklichung, sehr nahe. Das Überbewusstsein hingegen ist sehr weit davon entfernt. Wenn es euch daher gelingt, eure Wünsche dem Unterbewusstsein einzugeben, werden sie viel schneller erfüllt. Die Hypnose gehorcht demselben Prinzip: durch Hypnose wird auf das Unterbewusstsein einer Person eingewirkt, und dann führt sie die Befehle aus, die man ihr erteilte, was sie im Wachzustand und bei vollem Bewusstsein vielleicht nicht getan hätte.
Wenn ihr im spirituellen Leben schneller Ergebnisse erziehen wollt, müsst ihr euch konzentrieren, über das erstrebte Ziel meditieren und gleich darauf einschlafen, denn so werden die unterbewussten Kräfte zur Erfüllung eurer Wünsche beitragen. Über Jahre hinweg habe ich diese Übungen gemacht. Und wenn ich etwas mehr als viele andere erreichte, dann deshalb, weil ich eben auf diese Weise arbeitete.
Man kann aber auch versuchen, seine Ideen zu konkretisieren, dass man seine Lebensweise verbessert und lernt, jede Handlung des täglichen Lebens besser auszuführen: essen, atmen, gehen, schlafen usw. Denn jede dieser Handlungen ist mit unsrem unterbewussten Leben verbunden; und weiß man sie richtig auszuführen, so kann man zur Verwirklichung einer göttlichen Idee beitragen. Übrigens: oft habe ich deshalb die Wichtigkeit des seelischen Zustandes beim Einschlafen hervorgehoben, weil der Schlaf die Kristallisation dieses Zustandes im Unterbewusstsein begünstigt. Ihr müsst mit den besten Gedanken und Wünschen einschlafen, denn so tragt ihr zu deren Verwirklichung bei.“
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