In der Gesundheitspolitik sind Bestrebungen im Gang, das Recht auf freie Therapiewahl zugunsten der pharmazeutischen Industrie einzuschränken.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Arzt, und dieser verschreibt Ihnen ein ganz bestimmtes pharmazeutisches Medikament - weil er gar nichts anderes mehr verschreiben darf. Noch ist dieses Bild düstere Zukunftsvision. Nach dem Wunsch der Pharmaindustrie aber nicht mehr lange.
‚Evidenzbasierte Medizin' heißt das Zauberwort des modernen Gesundheitswesens, kurz EbM. Pate stand der englische Begriff ‚Evidence based Medicine'. Damit meint man eine Medizin, deren Wirksamkeit durch wissenschaftliche Studien belegt ist. Dieser Anspruch ist legitim, denn bei dem immer unübersichtlicher werdenden Angebot von Medikamenten und neuen Therapieformen darf der Überblick nicht verloren gehen. Ganz klar: Krankenkassen und Gesundheitsbehörden wollen wissen, welches die wirksamsten Behandlungsmethoden für eine bestimmte Krankheit sind. Das soll nicht zuletzt zu einer Senkung der Krankenkosten führen.
Doch es besteht auch die Gefahr, daß Ärzte und Patienten unter dem Diktat der Wissenschaftlichkeit entmündigt werden. ‚Konkurs der ärztlichen Urteilskraft?' titelte das ‚Deutsche Ärzteblatt' am 15. August 2003 provokativ. Erstaunlich, was hochangesehene Mediziner im Nachfolgenden zu sagen hatten: Streng wissenschaftlich betrachtet, dürfte ein Arzt gar nicht in der Lage sein, aufgrund seiner individuellen Erfahrung die richtige Therapie für einen Patienten zu erkennen - doch das sei natürlich Quatsch (die Akademiker drückten sich selbstverständlich gewählter aus!). Die Kritik der Mediziner richtet sich gegen die kompromißlose Anwendung jener vier Prämissen, welche heute die Grundlage eines jeden wissenschaftlichen Beweises bilden und einst von vier berühmten Philosophen und Methodikern aufgestellt wurden:
Übertragen auf die Medizin bedeutet dies, daß die Wirksamkeit eines Medikamentes erst dann wissenschaftlich anerkannt wird, wenn eine Studie (= experimentelle Bedingungen) mit einer großen Zahl von Patienten (= Wiederholbarkeit der Ergebnisse) und einer ebenso großen, nicht behandelten Kontrollgruppe (= Vergleichen) deutliche positive Resultate bringt, wobei die Auswahl der Patienten zur Prüf- bzw. Kontrollgruppe rein ‚zufällig' geschieht (= Randomisierung). Dieses Vorgehen leuchtet im ersten Moment ein. Streng genommen bedeutet es aber, daß die Berufserfahrung eines Arztes nichts mehr zählt, denn die Krankheitsgeschichten seiner Patienten waren ja immer bloss aus dem Leben gegriffene Einzelfälle - und erfüllten deswegen keine der vier oben aufgeführten Bedingungen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse des Arztes sind also - wissenschaftstheoretisch gesehen - nicht relevant.
Nun ja. Wir alle wissen, daß zwischen Theorie und Praxis Welten liegen können. Und ein altgedienter Landarzt findet unter Umständen in den zehn Minuten Plauderei mehr über die Krankheitsursachen seines Patienten heraus, als ihm ein stundenlanges Wälzen wissenschaftlicher Studienresultate geben könnte. Besonders die Prämisse von David Hume ist ein zweischneidiges Schwert. Denn sie behauptet, daß es unmöglich sei, am Einzelfall einen gesetzmäßigen Kausalzusammenhang zu erkennen. Der Theoretiker Karl Duncker bewies aber schon 1935 mit einfachen Beispielen, daß Humes Dogma im Grundsatz falsch ist.
"Dunckers Ausführungen waren eine erkenntnistheoretische Revolution ersten Ranges, die allerdings in der Medizin nicht zur Kenntnis genommen wurde", gibt das ‚Deutsche Ärzteblatt' zu. Diese Aussage ist wahrlich Sprengstoff, bedeutet sie doch, daß auch Einzelfälle eine wissenschaftliche Aussagekraft haben können. Logisch. Für uns wissenschaftliche Laien war das immer schon klar! Viele Experten aus Gesundheitswesen, Politik, Medizin und Wirtschaft aber scheinen das einfach nicht begreifen zu können. Deshalb berufen sich beispielsweise offizielle Stellen immer noch darauf, es sei nicht ‚wissenschaftlich' bewiesen, daß Mikrowellenstrahlung oder Elektrosmog tatsächlich krank mache. Einzelbeschwerden - so die industriefreundliche Argumentation - ließen nicht automatisch auf eine grundsätzliche Gesundheitsgefahr für alle Menschen schließen.
Zurück zur evidenzbasierten Medizin (EbM). Seit einem guten Jahrzehnt werden ihretwegen alle möglichen Therapieformen geprüft. Das Fundament dieser EbM-Analysen ist die randomisierte Studie (mit einer zufälligen Auswahl von Prüf- und Kontrollgruppe). Ein an der EbM ausgerichtetes Gesundheitswesen, wie man es auch bei uns vorantreibt, wird letztlich darin enden, daß den Ärzten nur noch jene Therapien zur Verfügung stehen werden, die nach dem Maßstab der EbM positiv beurteilt wurden. Und selbstverständlich werden die Krankenkassen nur noch diese Therapien bezahlen.
Dies läuft auf eine Bevormundung sowohl des Arztes wie auch des Patienten heraus, weil man klar festschreiben will, welche Krankheit mit welcher Therapie zu behandeln sei. "Es stellt sich die Frage, welchen Stellenwert das auf ärztlicher Erfahrung beruhende, individuelle Urteil zukünftig in der Medizin haben wird", sorgen sich die ‚Ärzteblatt'-Autoren. "Soll es, zugunsten formalisierter Verfahren, als grundsätzlich unzuverlässig eliminiert werden?"
Die Beantwortung dieser Frage ist für die Gesundheitspolitik von eminenter Bedeutung. Das ‚Deutsche Ärzteblatt' fährt fort: "Solange man davon ausgeht, daß der Arzt von sich aus prinzipiell nicht beurteilen kann, ob er mit einer Behandlung dem konkreten Patienten hilft, nicht hilft oder schadet, muß er folgerichtig ferngesteuert werden durch beispielsweise Epidemiologen, Statistiker, Staat und Krankenkassen. Der Arzt als autonome Instanz wird unter dieser Prämisse entmündigt. Er hat wissenschaftliche ‚Erkenntnisse' umzusetzen und wird zum Erfüllungsgehilfen klinischer (industrieller) Forschung."
Randomisierte Studien, die künftig darüber entscheiden könnten, ob eine Therapie staatlich anerkannt wird oder nicht, sind extrem teuer. Die Kosten liegen schätzungsweise zwischen 5'000 bis 10'000 Euro pro Patient! Eine in den USA angelaufene randomisierte Studie, die eine bestimmte Therapie für Herzkrankheiten prüfen soll, kostet beispielsweise dreißig Millionen Dollar.
Wer kann sich das heute noch leisten? - Richtig: Nur die großen Pharmakonzerne. "Wegen hoher Kosten bei zugleich geringer staatlicher oder gemeinnütziger Förderung wandert die klinische Forschung zunehmend in die Domäne der pharmazeutischen Industrie ab, wo sie Zulassungs- und Marketinginteressen gehorcht", kommt das ‚Deutsche Ärzteblatt' zum Schluß. Als Konsequenz würden praktisch nur Therapien erforscht, die patentierbar und gewinnversprechend sind. Gemeinhin investiere die pharmazeutische Industrie nur in Medikamente, deren geschätzter Umsatz über 300 Millionen Pfund pro Jahr liege: "Viele Erfolg versprechende Therapien werden deshalb nur schlecht oder nie überprüft, zumal wenn sie sich nicht durch Patente schützen lassen."
Was das konkret bedeutet, machen die Geschäftszahlen des US-Konzerns ‚Pfizer' deutlich. Mit einem Umsatz von 32,4 Milliarden Dollar (2002) ist das Unternehmen der weltweit erfolgreichste Pharmakonzern. ‚Pfizers' Zugpferd, das cholesterinsenkende und patentierte ‚Lipitor', ist mit acht Milliarden Dollar das umsatzstärkste Medikament aller Zeiten. Es wird im Jahre 2005 vermutlich als erstes Medikament überhaupt einen Jahresumsatz von über zehn Milliarden Dollar erreichen.
Konzernchef Henry McKinnell jubelte Ende 2003 in einem ‚Spiegel'-Interview: "Heute können wir im Dienst von Patienten Jahr für Jahr sieben Milliarden Dollar für Forschung und Entwicklung ausgeben." - Sehr gut, möchte man loben; bei einem so großen finanziellen Aufwand darf sicher mit vielen erfolgreichen Neuentwicklungen von Medikamenten gerechnet werden. Diesem Trugschluß aber widerspricht das ‚Deutsche Ärzteblatt'. Seine Autoren beklagen nämlich gerade, daß die Entwicklung neuer Therapien heute dank einer auf EbM ausgerichteten Gesundheitspolitik fast ausschließlich der Industrie obliegt, "weit entfernt von individuellen, Patienten behandelnden Ärzten". Früher waren es geniale Einzelforscher, die erfolgreich Medikamente entwickelten; häufig Ärzte, die aus der täglichen Fürsorge und Behandlung kranker Menschen heraus ein praktisch geschultes Urteilsvermögen besaßen, das heute vermehrt als unwissenschaftlich und ungültig gilt.
Heute setzt man hingegen auf computergestütztes Medikamentendesign, Maßenscreening und Genforschung. Das ist sehr teuer - und ziemlich unproduktiv. "Die jährliche Rate neu entwickelter und eingeführter Präparate sank in den letzten 50 Jahren um fast zwei Drittel", erklärt das ‚Deutsche Ärzteblatt', "wobei die neuen Medikamente häufig keinen therapeutischen Vorteil zeigen, jedoch um ein Vielfaches teurer sind als vorhandene Präparate." Da drängt sich die Frage auf, Herr McKinnell, zu wessen Wohl die pharmazeutische Industrie in erster Linie forscht… Doch damit nicht genug: Im Jahre 2001 hatten dreizehn der weltweit bedeutendsten Medizin-Journale - darunter ‚The Lancet', ‚The New England Journal of Medicine' und ‚The Journal of the American Medical Association' - die führenden internationalen Pharmakonzerne beschuldigt, die Resultate wissenschaftlicher Studien aus Profitgier zu verzerren. Wissenschaftler seien nicht mehr in der Lage, frei und objektiv über die Ergebnisse ihrer Medikamentenstudien zu berichten, weil die Herstellerfirmen ansonsten die finanzielle Unterstützung der betreffenden Forschungslabors einstellen würden. I
mmer häufiger führen die Konzerne die teuren Studien sowieso selber durch - unbequeme Forscher riskieren dann gleich ihre Anstellung (Mehr dazu in der ZeitenSchrift-Druckausgabe Nr. 27).
Die randomisierte Studie als ‚Goldstandard' der evidenzbasierten Medizin bringt, wie wir gesehen haben, nur den Pharma-Multis goldene Gewinne ein. Alle anderen sind die großen Verlierer im EbM-Biotop.
Dabei ist dieser ‚Goldstandard' der klinischen Therapieprüfung eher Blech denn Gold: Experten weisen immer wieder darauf hin, auch randomisierte Studien seien auf Fehler anfällig. Selbst wenn die Studie zu einem negativen Ergebnis kommt, bedeutet das nicht unbedingt, daß die Therapie tatsächlich unwirksam ist. Und ein fehlendes Studienergebnis - weil beispielsweise das hierfür nötige Geld nicht vorhanden ist - beweist erst recht keine Unwirksamkeit der entsprechenden Therapie.
So trivial diese Argumente sind, werden sie in der Gesundheitspolitik doch kaum beachtet, moniert das ‚Deutsche Ärzteblatt'. "Es besteht die Gefahr, daß Therapien ohne Wirksamkeitsnachweis, auch wenn sie wirksam sind, eliminiert werden nach dem Motto mancher EbM-Lehrbücher: ‚Beginnt, sie zu stoppen'." Das trifft vor allem die Naturheilverfahren, welche sich nicht patentieren lassen und vielen Pharmakologen grundsätzlich ein Ärgernis sind. Phytotherapie (Pflanzenheilkunde), Homöopathie, anthroposophische Medizin und ähnliche Therapieformen sind erfahrungsorientiert und können nur teilweise mit statistisch-epidemiologischen und formalisierten Prüfverfahren erfaßt werden. Folglich laufen sie Gefahr, von den Kassen nicht mehr vergütet oder im Extremfall per Gesetz ganz verboten zu werden (Mit der neuen Gesundheitsreform in Deutschland müssen bereits jetzt alle Medikamente, die nicht verschreibungspflichtig sind, selbst bezahlt werden). Selbst viele Vitaminpräparate könnten künftig vom Markt verschwinden, weil ihre Dosierung als Nahrungsergänzung zu hoch ist, sie aber mangels positiver formalisierter Nachweisverfahren nicht als Heilmittel zugelassen werden.
Das ist ganz bestimmt nicht im Sinne der Bevölkerung. Laut einer Allensbach-Umfrage verwenden nämlich 73 Prozent der Deutschen Naturheilmittel und möchten auch, daß die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Eine vom ‚Bundesfachverband der Arzneimittelhersteller' durchgeführte Umfrage kam schon 1999 zum Schluß, daß drei Viertel aller Befragten ein Naturheilmittel einem chemischen Arzneimittel vorziehen würden, wenn sie die freie Wahl hätten. Wir alle - nicht nur die Gesundheitspolitiker - müssen uns deshalb die Ermahnung im ‚Deutschen Ärzteblatt' zu Herzen nehmen: "Wer sich Naivität im Befürworten und Verfolgen einer EbM-Gesundheitspolitik erlaubt, fördert eine kommerzbasierte Medizin - das Gegenteil des Beabsichtigten." Handeln wir entsprechend!
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