Die Lernschwäche Legasthenie – ein verborgenes Talent?

Die Fächer, die am meisten Gewicht haben, ohne die ein Leben nach unseren gesellschaftlichen Erwartungen nicht möglich ist, sind Lesen, Schreiben und Rechnen. Genau in diesen Bereichen haben Legastheniker jedoch Mühe. Daraus resultierend tut sich die Gesellschaft schwer mit ihnen. Doch ein neuer Umgang mit Legasthenikern offenbart wertvolle Fähigkeiten, die auf eine Weiterentwicklung der Wahrnehmung hindeuten.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in der ersten Klasse in der Schule und werden dazu aufgefordert, einen Text zu lesen. Sie legen konzentriert los, doch die Wörter beginnen mehr und mehr zu verschwimmen, im Raum zu tanzen, sich in alle möglichen Richtungen zu drehen und sich neu zusammenzusetzen. Es wird Ihnen schwindlig, vielleicht auch übel und alles, was Sie aus Ihrem Munde bringen, sind Fehler und wieder Fehler. Sie haben ein Wort vergessen, eine Zeile übersprungen, falsche Wörter eingesetzt, die Bedeutung des Gelesenen haben Sie nicht erfassen können. Nun werden Sie von der Klasse ausgelacht, der Lehrer tadelt Sie, nennt Sie unfähig und überhaupt, Sie sollen mehr und konzentrierter lernen. Wie fühlen Sie sich? Und wie werden Sie sich fühlen, wenn Sie das nächste Mal einen Text werden lesen müssen?

So oder ähnlich geht es sehr vielen Schülern. In Fachkreisen wird geschätzt, daß zwischen 5 und 15 Prozent aller Schülerinnen und Schüler Lese- und Rechtschreibefähigkeiten zeigen, die weit unterdurchschnittlich sind und die auf eine Legasthenie hinweisen können.

Das Wort Legasthenie ist zusammengesetzt aus' legere', lateinisch für Lesen, und 'asthenie', griechisch für Schwäche, und wird im Lexikon als Lese- und Rechtschreibeschwäche definiert, bei vergleichsweise durchschnittlicher oder sogar guter Allgemeinbegabung des Kindes.

Das Problem des Schulsystems

Was ist in unseren Schulen wichtig? Wonach werden die Schüler beurteilt und ihre schulischen Bildungsmöglichkeiten bestimmt?

Programme werden festgelegt, ein Curriculum aufgestellt, Normen besprochen, denen jedes Kind genügen muß. Erreicht es nicht die Minimalanforderungen, wird es schnell als unfähig bezeichnet.

Die Fächer, die am meisten Gewicht haben, ohne die ein Leben nach unseren gesellschaftlichen Erwartungen nichtmöglich ist, sind Lesen, Schreiben und Rechnen. Genau in diesen Bereichen haben Legastheniker Mühe. Ein Kind hat es sehr treffend ausgedrückt: "Ich kann doch so viel und weiß vielmehr als andere Kinder in meinem Alter. Warum können die in der Schule das nicht sehen und einfach akzeptieren, daß ich ein paar Rechtschreibefehler mehr mache als andere. Warum sind diese Rechtschreibefehler wichtiger als alles andere, was meine Person ausmacht?" Ja, Persönlichkeit, Kreativität, Abweichungen von der Norm sind nicht gefragt, sie gelten sogar als Hindernisse. Die Schulklassen sind groß, die Lehrer mehr und mehr überfordert, sie haben viele Schwierigkeiten, mit denen sie fertig werden müssen, daher ist jedes Extraproblem, zum Beispiel ein legasthenisches Kind, eine zusätzliche Last. Auch ist es so, daß viele Lehrer nicht für solche Lernschwächen ausgebildet und somit auch nicht in der Lage sind, eine Legasthenie zu erkennen, geschweige denn auf ein Kind einzugehen und es individuell zu fördern.

Es ist viel einfacher, und es geschieht allzu oft, ein Kind als faul zu bezeichnen, seine Arbeitshaltung als problematisch und seine Konzentrationsfähigkeit als mangelhaft. Es kommt auch vor, daß ein Kind als geistig zurückgeblieben abgestempelt wird und in eine Sonderschule abgeschoben wird.

Nun kommt eine Mutter, die den Lehrern erzählt, ihr Kind sei überdurchschnittlich begabt, da sie beobachtet habe, daß ihr Sohn oder ihre Tochter von der intellektuellen Entwicklung her auffallend weit zu sein scheine, daß er oder sie Zusammenhänge sehr gut erfassen und hinterfragen könne und vielleicht ein ausgeprägtes Interesse an anderen Themen habe, wie zum Beispiel Geschichte oder Naturwissenschaft.

Jeder kann sich vorstellen, was daraus entsteht: ein Kampf einer Familie gegen ein Schulsystem, das Ungewohntes nicht duldet. Ein Kreislauf von Enttäuschung, Mutlosigkeit, Rastlosigkeit, Hoffnung und Durchhaltevermögen beginnt. Die Kinder müssen sich Untersuchungen unterziehen, Intelligenztests, wobei oft herauskommt, daß der IQ nicht wie erwartet zu tief ist, sondern überdurchschnittlich. Irgendwann wird die Diagnose Legasthenie gestellt, der Schüler kann nun in eine Schublade gesteckt werden. Und dann? Dann gibt es Selbsthilfegruppen, Vorträge, Verbände, Institute... viele Versuche, viele Enttäuschungen. Die echte Hilfe bleibt zu lange aus. Dieses komplizierte und unübersichtliche Gefüge, in dem die Betroffenen trotzdem sich selbst überlassen bleiben, beraubt den Großteil der Kinder der Chance, ihre Leistungsrückstände im Bereich der Schrift durch gezielte und früh einsetzende Förderungsmaßnahmen aufzuholen.