Weshalb Island vor dem Staatsbankrott stand und wie sich die Isländer nun aus dem eisernen Griff der Hochfinanz zu befreien suchen.
Das Wappen von Island, das wegen der Finanzkrise fast zu einem „Islantis“ geworden wäre. |
Die Wirtschaftskrise von 2008, die tatsächlich eine Finanzkrise war, vernichtete weltweit Vermögenswerte von geschätzten 20 Billionen US-Dollar. Zum besseren Verständnis: Das sind zwanzigtausend Milliarden Dollar. Oder zwanzig Millionen Millionen Dollar. Das eine dürfte ähnlich unvorstellbar sein wie das andere. Etwas realer werden die Auswirkungen dieses globalen Monopoly-Spiels, wenn man an die vielen Millionen Menschen denkt, die im Strudel der Krise ihre Ersparnisse, Arbeitsplätze und Häuser verloren haben. Wenn man sich denn überhaupt eine konkrete Vorstellung von nur schon einer Million machen kann. Konzentrieren wir uns also aus diesem Grund auf das kleine Island, das die überschaubare Menge von 320‘000 Menschen beherbergt.
Island wurde von der Finanzkrise besonders hart getroffen, weil es ein Paradebeispiel für die unersättliche Gier nach immer mehr Geld und die daraus folgende Katastrophe ist – aber auch ein inspirierendes Vorbild dafür, wie sich ein Staat aus den scharfen Klauen internationaler Investoren winden will. Die einzigartige Natur Islands ist der eigentliche Reichtum dieser Insel im hohen Norden. Entsprechend eng ist die Seele seiner Bewohner mit den Naturgewalten und Elementarwesen verbunden. (Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2007 glauben 60 Prozent der Isländer an die Existenz von Elfen und weitere 30 Prozent halten sie immerhin für möglich!) Obwohl die isländische Wirtschaft mit einem Bruttoinlandsprodukt von 13 Milliarden Dollar im internationalen Vergleich kaum mehr als ein Fliegengewicht darstellt, ging es den Isländern gut, denn Arbeitslosigkeit und Staatsschulden gab es praktisch keine.
Doch dann hielt in den Neunzigerjahren der Neoliberalismus Einzug ins Land der Trolle und Elfen. Im Jahr 2000 deregulierte man die Wirtschaft vollends und erlaubte es internationalen Großkonzernen, die Naturschätze Islands zu plündern – mit schlimmen Konsequenzen für die Umwelt. Drei Jahre später wurden alle isländischen Banken privatisiert. Damals war die Schuldenlast der Insel bereits auf das Doppelte des Bruttosozialprodukts angeschwollen. Sagenhaft lukrative Icesave-Finanzprodukte zogen Anleger aus der ganzen Welt an, die wie verzückte Schmeißfliegen um einen dampfenden Misthaufen kreisten. Die Isländer wähnten sich im Schlaraffenland. Und sie vergaßen, dass es ein Leben auf Pump war. Innerhalb von nur fünf Jahren hatten sich die drei größten Banken Landsbanki, Kaupthing und Glitnir (die zuvor keinerlei Geschäfte im Ausland machten) über 120 Milliarden Dollar geborgt – das Zehnfache der gesamten Wirtschaftskraft des Landes. Der Geldregen ließ die Aktienkurse um den Faktor Neun in die Höhe schnellen und die Häuserpreise verdoppelten sich. Jeder wollte seinen Teil vom Kuchen abhaben und scherte sich nicht um die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Kredite waren schließlich massig zu haben, denn die Banken schwammen im (fremden) Geld. 2007 hatte sich die Staatsverschuldung Islands bereits auf das Neunfache des Bruttosozialprodukts aufgebläht. Amerikanische Rating-Agenturen belohnten den neoliberalen Kurs der Regierung trotzdem, indem sie den isländischen Banken im Februar desselben Jahres die höchste Bonitätsstufe AAA verliehen.
Die isländische Finanzaufsichtsbehörde hatte der Schuldenwirtschaft nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil: Die besten Köpfe wurden von den Finanzjongleuren abgeworben. „Ein Drittel von Islands Finanzbeamten begannen, für die Banken zu arbeiten“, erzählt Gylfi Zoega, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Island, im Oscar-prämierten Dokumentarfilm Inside Job. Die isländische Regierung machte sich ebenfalls zum Handlanger der Finanzhaie und „ging mit den Bankern zusammen auf Werbetour“ (Zoega).
Gabor Steingart, der renommierte deutsche Wirtschaftsjournalist und Chefredaktor des Handelsblatts, kritisierte genau diese meist heimliche Allianz von Politik und Finanzmacht.1 Trotz gegenseitiger Schuldzuweisungen „halten in Wahrheit die Geldhäuser und die politische Elite einander Händchen. Die Banken halfen den Politikern, die Wachstumsraten der vergangenen Jahre zu kaufen. Derart mit Erfolgen ausgestattet, ging man auf Wahlkampftour. Der heutige Staat ist ein Big Spender mit tiefen Taschen. Dass sich am Ende der tiefen Tasche ein Loch befindet, versucht er zu verheimlichen.“ Aufkäufer von Staatsanleihen und deren Emittenten würden beide der Marktwirtschaft „den Garaus machen“, so Steingart weiter. „Die Schuldenexzesse der Sozialpolitiker wären nicht denkbar ohne die dienstbaren Geister der Finanzindustrie, so wie die Geschäfte der Geldelite ohne die Maßlosigkeit der Sozialpolitik nicht halb so gut florieren würden.“
Steingarts Thesen bergen Zündstoff. Er behauptet nämlich, dass sowohl eine enthemmte Hochfinanz wie auch eine maßlose Sozialpolitik den Wohlstand der Völker zerstören. Der Sozialpolitiker, weil er staatlich alles vorschreiben will und es dem Bürger leicht macht, von einem Steuerzahler zu einem Almosenempfänger zu werden und der Finanzhai, weil er „ein größenwahnsinniges Projekt gestartet hat, das sich mit der Überschrift ‚Geld schafft Geld’ betiteln lässt“.
Solch grenzenlose Gier brach auch Island das Genick, jedenfalls beinahe. Nach der Pleite von Lehman Brothers fielen die Isländer durch das Loch in der vermeintlich ach so voluminösen Staatstasche und knallten ungebremst auf den Betonboden der Realität. Ende 2008 brachen Islands Banken zusammen und hinterließen einen Schuldenberg von über 100 Milliarden Dollar. Die Wirtschaft stand still und innerhalb von sechs Monaten verdreifachte sich die Arbeitslosigkeit. Weil Island gar nicht die Mittel hatte, stand eine Bankenrettung durch die Politik, wie sie die Amerikaner und Europäer durchexerzierten, nie zur Debatte. Zum Glück, findet Gabor Steingart: „Jetzt, da die Dinge auf einen unschönen Höhepunkt zutreiben, stellt sich der eine schützend vor den anderen. Die Politiker retten die Banken. Und zwar mit jenem Geld, das sie sich vorher bei den Banken geliehen haben. Der eine hebelt den anderen aus der Patsche. Dafür wird der dann rekapitalisiert. Das alles ist nicht Marktwirtschaft, sondern Verrat an ihren Prinzipien. Die Märkte sind nicht enthemmt, sondern außer Kraft gesetzt. Der letzte Tag, an dem die Marktwirtschaft funktionierte, war der Tag, an dem Lehman Brothers pleiteging.“
Nach dem Kollaps der isländischen Banken wurden diese verstaatlicht und in die Insolvenz geführt. Der Staatsbankrott konnte Ende 2008 ganz knapp abgewendet werden. Weitere Kredite zur Schuldentilgung wollten die internationalen Geldgeber jedoch nur gewähren, wenn die Bevölkerung drastische Maßnahmen hinnehmen und Island faktisch seine Unabhängigkeit verlieren würde. Doch davon wollten die Isländer nichts wissen und zwangen ihre Regierung durch Proteste und Straßenkämpfe zum Rücktritt. Der damalige Premier Geir Haarde musste sich schließlich im vergangenen Jahr als erster Politiker in ganz Europa vor Gericht für das Finanzdesaster verantworten.
Die nachfolgende Regierung wollte ein Gesetz verabschieden, das jeden Isländer durch Steuererhöhungen dazu verpflichtet hätte, monatlich 100 Euro zuzüglich 5,5 Prozent Zinsen an die ausländischen Geldgeber zu zahlen – und das fünfzehn Jahre lang. So hätte auch auf der Vulkaninsel das Volk für die Geldgier der Privatbanker und ihre Schulden bluten sollen. Doch das isländische Staatsoberhaupt verweigerte die Ratifizierung und forderte die Bürger zum Referendum auf, welches die Isländer im April 2010 mit 93 Prozent annahmen. Die ausländischen Gläubiger schäumten und das britische Außenamt drohte sogar, sämtliche isländische Privatkonten auf englischen Banken einzufrieren. Davon unbeeindruckt leitete die isländische Regierung auf Druck der Straße eine Untersuchung gegen die verantwortlichen Bankmanager ein, worauf diese fluchtartig das Land verließen. Ex-Kaupthing-Präsident Sigurdur Einarsson wurde sogar über Interpol gesucht.
Der isländische Staat hat sich erstaunlich gut von seinem faktischen Bankrott erholt. Das Haushaltsdefizit liegt bei 2,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts, die Arbeitslosenquote fiel auf etwa sechs Prozent, die isländische Währung ist relativ stabil und es dürfte sogar zu einem moderaten Wirtschaftswachstum reichen. „Was Island tat, war richtig“, befindet der US-amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz.
Trotzdem werden Zehntausende Isländer noch jahrelang an den „giftigen Altlasten“2 aus dem Größenwahn der Boomjahre leiden. Denn auch die Privathaushalte lebten auf viel zu großem Fuß, verführt vom betörenden Sirenengesang des Geldes. Der überreiche monetäre (Kredit-)Segen vergiftete die Seelen vieler Isländer. Sie verloren das, was dieses Inselvolk ausmacht – die Herzensbindung zur Natur und deren Einfachheit – und verfielen stattdessen dem Konsumwahn. Glück brachte es ihnen keines. Als die isländische Krone während der Finanzkrise einbrach, stiegen die bereits angehäuften Schulden der Isländer parallel zur Geldentwertung an. Die Banken hatten ihre Kredite nämlich gegen die Inflation abgesichert. Rein rechnerisch muss heute jeder isländische Haushalt eine Forderung abtragen, die 2,25 Mal höher ist als sein Jahreseinkommen. Jeder neunte Schuldner wird seine Privatschulden das ganze Leben nie abtragen können, egal wie hart er auch schuften mag. Aus diesem Grund verlassen viele junge und gut ausgebildete Isländer ihre Heimat – ein „Brain-Drain“, der das Land künftig teuer zu stehen kommen könnte.
Jene Isländer, die blieben, erkämpfen sich ihre staatliche Unabhängigkeit zurück, indem das Volk sich selbst eine neue Verfassung geben will. Ende 2010 wurden in direkter Volkswahl 25 Personen in einen „Verfassungsrat“ gewählt, der die neue Verfassung erarbeiten sollte. Keines der Mitglieder war Politiker oder mit einer Interessengruppe verbandelt. Die öffentlichen Sitzungen des Rates wurden im Internet übertragen und mittels der eigens dafür eingerichteten Webseite sowie sozialer Netzwerke ermunterte man jeden Isländer, aktiv an der Ausgestaltung der Verfassung teilzunehmen. Crowdsourcing nennt sich dieser in einem solch politischen Vorhaben einmalige Vorgang. Wohl deswegen haben die westlichen Systemmedien kaum darüber berichtet, welche Vorreiterrolle für ganz Europa die Insel im Nordatlantik spielt. Schließlich sollen die Griechen, Italiener, Spanier, Portugiesen, Franzosen, Briten und Deutschen nicht auf ähnlich aufrührerische Ideen verfallen, sondern vielmehr die Kontrolle über ihre öffentliche Hand weitgehend dem Privatsektor überantworten, wie das IWF-Präsidentin Christine Lagarde denn auch von Griechenland unmissverständlich verlangt hat.
Die Präambel des isländischen Verfassungsentwurfs beginnt mit den Worten: „Wir, die Bewohner Islands, wollen eine gerechte Gesellschaft schaffen, in der alle gleich sind.“ Die Verfassung soll mehr Transparenz, Informationsfreiheit und Bürgerbeteiligung gewährleisten. Außerdem soll sie eine stärkere Trennung zwischen Staat und Finanzwirtschaft garantieren und den Schutz der Natur rechtlich verankern. So wird das Kapitel Menschenrechte in Menschenrechte und Natur umbenannt. Ein revolutionärer Allmende-Paragraph sieht gar vor, dass alle natürlichen Ressourcen, die sich nicht in Privatbesitz befinden, für alle Zeit im gemeinschaftlichen Besitz der Isländerinnen und Isländer stehen sollen. Am 27. Juli 2011 wurde der Verfassungsentwurf dem Althing vorgelegt – dem ältesten noch aktiven Parlament der Welt (gegründet im Jahr 930!). Momentan durchläuft das Papier verschiedene demokratische Prozesse. Bis Mitte 2012 soll die definitive Entscheidung fallen.
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