Vom Untergang der Moral des Abendlandes

– und weshalb uns das Abwerfen der ‚Fesseln der Moral' nicht frei gemacht hat.

Wie sich die Zeiten doch geändert haben - und mit ihnen die Träume! "Das Grab Christi zu befreien konnte über Jahrhunderte die Herzen der Armen und der Reichen mit wilden Träumen und der Bereitschaft zu äußersten Opfern erfüllen; der Traum vom heizbaren Swimmingpool bewegt die müden Hinterteile schon heute nicht mehr zehn unbezahlte Schritte über die Straße." Der dies schreibt, heißt Asfa-Wossen Asserate, ist Prinz aus dem Äthiopischen Königshaus und Autor des geistreichen Buches Manieren. Heute würde man sich nicht einmal mehr bereit erklären, das Grab Christi per Jet und mit Vollpension zu befreien - außer, die Spesen würden erstattet und das Ganze nicht als Ferien angerechnet.

"Geiz ist Geil" wurde zum erfolgreichsten deutschen Werbeslogan aller Zeiten. Seine Texter wussten dass sie damit "moralisch" an der Grenze wären. Ist doch Geiz eine der sieben Todsünden und "geil" noch immer ein Schmudelwort."

Unsere Träume sind klein und materialistisch geworden. Sie gleichen Ketten statt Flügeln. Haben Sie schon jemals Lust verspürt, sich zu duellieren? Welch groteske Frage, wo es doch keine Ehre mehr zu verteidigen gibt! Und wenn das, was man heute noch unter ‚Ehre' versteht - nämlich der öffentliche Ruf, das ‚Ansehen' (was viel mit Schein, aber gar nichts mit Sein zu tun haben muß) - angekratzt wird, dann gelingt es nur selten, diesen besudelten Ruf gerichtlich wieder reinzuwaschen.

Die Ehre ist alt-ehr-würdig geworden und damit ‚out'. Der Ehrbewußte aus früheren Tagen wollte, so Asserate, "wachsen, und dabei geht es ihm nicht darum, der eigenen Größe ‚noch eine Elle hinzuzufügen', sondern die eigene Größe überhaupt erst einmal zu erreichen." Mit der ‚eigenen Größe' spricht Asserate den ‚Genius' der alten Römer an: "man selbst noch einmal in Überlebensgröße" - eine Art vollkommeneres ‚Über-Ich' also. Dies zu werden erschien einmal als lohnenswertes Ziel. Heute kauft man sich stattdessen einen Adelstitel. Und war es für den Ehrbewußten eine Selbstverständlichkeit, kein Geld für alle Tätigkeiten von staatstragendem Charakter zu nehmen - Offiziere rüsteten auf eigene Kosten ihr Regiment aus, Dichter und Musiker erhielten bestenfalls ‚Honorare', also Ehrengeschenke, aber verkauften ihre Werke nicht, und auch der Hausarzt wurde bis Ende des 19. Jh. Ende des Jahres mit einem ‚Honorar' für seine unentgeltliche Tätigkeit während des Jahres entlohnt - war es also selbstverständlich, für solche Dienste keine Rechnung zu stellen, so finden wir heute unter den Staatsdienern mehr und mehr ‚Schmierenkomödianten', die sich nicht scheuen, ihre Hände bei unerlaubten Geschäften schmutzig zu machen - vorausgesetzt, der Schmutz ist ‚Schmiere'.

Geld stinkt nicht (mehr). Geld ist dazu da, daß man es nimmt, und zwar mit beiden Händen. Ein TV-Sender machte kürzlich einen kleinen Test. Auf einem Weihnachtsmarkt verkaufte er Glühwein. Jedesmal gab die Verkäuferin zuviel Rückgeld. Erst nur eine Handvoll Euro, schließlich volle fünfzig, ja hundert Euro zuviel. Ganze zwei Leute machten auf den Irrtum aufmerksam - und beide bei den kleinen Euro-Beträgen. Alle anderen schämten sich nicht einmal, als der Reporter sie konfrontierte, obwohl jeder zugab, sehr wohl bemerkt zu haben, daß er zuviel Geld zurück bekommen hatte.
Lapidare Ausreden wie "ich habe mich über das Geschenk gefreut" oder "man nimmt, was man bekommt" oder gar "ich dachte, ich werde dafür hier wieder mal Glühwein kaufen" war alles, was das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen noch hergab.

Das Gewissen im Dornröschenschlaf

Es scheint, daß uns irgendwann in den letzten Jahrzehnten das Gewissen abhanden gekommen ist. Der Dichter Matthias Claudius gibt uns eine Erklärung dazu: "Wenn ein Mensch auf die Bewegungen seiner bessern Natur nicht achtet oder wenn er der geringeren die volle Gewalt läßt, so spricht das Gewissen nach und nach leiser und schweigt endlich gar." Es ist dasselbe wie mit dem Durst: Wenn jemand stetig zuwenig trinkt, hört der Körper auf, noch Durstsignale zu senden - es wäre ja sowieso nutzlos. Erst wenn derjenige sich eines Besseren besinnt und mehr trinkt denn je, meldet sich der Durst zurück.

Wir haben das Gewissen also in einen Dornröschenschlaf sinken lassen, mit denselben - natürlich unbewußten! - Gedanken, die der Mörder in Shakespeare's Drama Richard III. hegt: "Es ist ein gefährlich Ding; es macht einen zur Memme. Man kann nicht stehlen, ohne daß es einen anklagt; man kann nicht schwören, ohne daß es einen zum Stocken bringt; man kann nicht bei seines Nachbars Frau liegen, ohne daß es einen verrät. Es ist ein verschämter blöder Geist, der einem im Busen Aufruhr stiftet. Es macht einen voller Schwierigkeiten. Es hat mich einmal dahingebracht, einen Beutel voll Geld wieder herzugeben, den ich von ungefähr gefunden hatte. Es macht jeden zum Bettler, der es hegt. Es wird aus Städten und Flecken vertrieben als ein gefährlich Ding, und jedermann, der gut zu leben denkt, verläßt sich auf sich selbst und lebt ohne Gewissen."

Ohne Gewissen leben Manager, die sich selbst dann noch Hundert-Millionen-Abfindungen gönnen, wenn sie im Job versagt haben und ihre Arbeiter darben. Ohne Gewissen leben Supermanager wie Enron-Finanzchef Andrew Fastow, der seinem Konzern half, Milliarden von Schulden zu verstecken, die Gewinne aufzublähen und sich selbst für solch findige Transaktionen mit 45 Millionen Dollar verwöhnte. Ohne Gewissen agieren Leute wie ein gewisser Richard Cheney, der Bestechungsgelder zahlte, um für seinen Konzern Halliburton einen Milliardenauftrag in Nigeria an Land zu ziehen - und später als US-Vizepräsident dieselbe Findigkeit nutzte, um Halliburton den Auftrag zuzuschanzen, die Ölförderung des Irak wieder in Gang zu bringen (nach dem Motto: Gelernt ist gelernt!). Man könnte noch viele Namen aufzählen - Mannesmann und Parmalat, Elf-Aquitaine und WorldCom, Arthur Anderson LLP und Citigroup. "Manager waren unehrlich und habgierig, und sie haben ihr Unternehmen betrogen", konstatiert Carly Fiorina, Chefin von Hewlett Packard. Und das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel (Nr. 48/2003) kommentiert:
"Da ist es wieder, das Bild der Wall Street als Gesellschaft von Halsabschneidern und Halunken. Und wenn es noch eines Belegs bedurfte, wie schlecht es um den wichtigsten Finanzplatz der Welt bestellt ist, dann lieferten den am Dienstagabend die US-Nachrichtensender nach: Dutzende von Wall-Street-Profis in Handschellen, umringt von FBI-Agenten mit grimmigen Gesichtern. (...) Die Bilder scheinen erneut zu belegen, daß den Finanzjongleuren in Manhattan nur eines heilig ist: der eigene Profit."

Ist irgend jemand darüber wirklich, tiefinnerlich empört? Nein. Was das Volk fühlt, ist allenfalls Schadenfreude, daß die Großen bei etwas ertappt worden sind, was man selbst auch tagtäglich tut. "Überleben in der Betrüger-Wirtschaft" titelte die deutsche Illustrierte Stern (3/2003) und führte aus: "Die Betrüger-Ökonomie hat viele Gesichter. Sie erscheint als überflüssige ‚Anfahrtpauschale' auf der Rechnung des Handwerkers, begegnet uns beim Arzt, wo sich ein harmloser Schnupfen schnell zur kostenträchtigen Behandlung einer lebensbedrohlichen Krankheit auswächst, und endet noch lange nicht am Banktresen, wo uns ein eifriger ‚Berater' hauseigene Schrottfonds andrehen möchte.

Selbst scheinbar über jeden Zweifel erhabene Institutionen und Firmen geraten ins Zwielicht. Die Bundesanstalt für Arbeit fälschte jahrelang systematisch die Vermittlungsstatistiken, in München frisierten Alten- und Pflegeheime ihre Leistungsnachweise, in Stuttgart schummelte der Motorpresse-Verlag bei den Auflagezahlen seiner diversen Zeitschriften. Die Kriminalstatistik bestätigt den Trend: Von allen bekannten Verbrechensarten nehmen die Wirtschaftsdelikte am deutlichsten zu - allein im Jahr 2001 um 21,3 Prozent." Uwe Dolata, Autor des Buches Korruption im Wirtschaftssystem Deutschlands sagt, "die Korruption hat heute wahnsinnige Ausmasse". Bestechlichkeit sei "ein flächendeckendes und sich sogar metastasenartig ausbreitendes Phänomen. Man kann getrost davon ausgehen, daß bei uns überall geschmiert wird - in Behörden, in Parlamenten, in der Wirtschaft." Der Schaden, so Dolata, der im Bund deutscher Kriminalbeamter und in mehreren internationalen Vereinigungen seit elf Jahren gegen Korruption kämpft, belaufe sich jährlich auf etwa 68 Milliarden Euro alleine in Deutschland. Da wundert nicht, daß die OECD Deutschland schon Ende der 90er Jahre "als das korrupteste Land der Welt anklagte".

Daß der steigende Konsum von Schlaftabletten etwas mit diesen Fakten zu tun haben könnte, scheint naheliegend, ist es aber nicht. Der Mensch von heute hält es vielmehr mit Stanislaw Jerzy Lec, der konstatierte: "Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie." Das Gewissen als "Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen", wie der Philosoph Immanuel Kant es nannte, ist sonn- und werktäglich geschlossen, vierundzwanzig Stunden lang.

Früher: Eine Moral der Angst

Wie konnte es dazu kommen? Hat es mit dem Inhalt dieses Szene-Spruchs zu tun: "Alles ist schlechter geworden, nur eines ist besser geworden: Die Moral ist schlechter geworden"? Blicken wir auf vergangene Jahrhunderte zurück, zeigen sich diese nicht unbedingt moralischer - jedenfalls nicht, wenn wir die höheren Stände betrachten. Das gemeine Volk jedoch beugte sich stärker der Moral, wenn auch nicht aus Einsicht oder Vernunft, sondern aus purer Angst vor Strafe. Und im Strafen war man erfinderisch - da wurde an den Pranger gestellt, mit Schandmasken und Brandmalen versehen, Hände und Füße abgehackt, in eiserne Jungfrauen gesteckt und auf der Streckbank gestreckt, da konnte man am Galgen oder auf dem Scheiterhaufen enden, und alles als schauriges Schaustück inszeniert - damit der Abschreckung Genüge getan sei. Reichte all dies noch nicht aus, gab es noch die meist wirkungsvolle Drohung mit dem ewigen Höllenfeuer, von dem sich die Armen nicht freizukaufen vermochten.

Manchmal mochte die Moral übertrieben worden sein - vor allem, wenn sie sich zu ihrer Übersteigerung verstieg, der ‚Doppelmoral'. Und die letzten zweihundert Jahre waren reich an ihr. "Moralische Entrüstung ist Eifersucht mit einem Heiligenschein", kritisierte der englische Schriftsteller Herbert George Wells nicht zu Unrecht, und schon Rousseau, schweizerischer Naturphilosoph, hatte eigentlich die falsche, dünkelhafte (Doppel-)Moral gemeint, wenn er klagte: "Das Moralische in der Liebe ist ein künstliches, von der Gesellschaft erfundenes Gefühl, welches die Frauen mit vielem Geschick und großer Hingabe feiern, um ihr Reich zu begründen und das Geschlecht, das gehorchen sollte, zum herrschenden zu machen."

Moral als Machtinstrument - etwas, was die Kirche jahrhundertelang ausgespielt hatte. Und so, wie die Kirche machtlos, ohn-mächtig wurde, versank auch die Moral in der Senkkuhle der Leidenschaften - und mit ihr das Gewissen. Zitieren wir nochmals Rousseau: "Das Gewissen ist die Stimme der Seele; die Leidenschaften sind Stimmen des Körpers." Diese machen heutzutage geradezu einen ohrenbetäubenden Lärm - laut genug jedenfalls, daß man darunter die feine, leise Stimme des Gewissens nicht mehr zu hören vermag. Jenes Gewissens, das Victor Hugo "das Denken Gottes" nannte. Doch hat sich Gott nicht als unlogisch-unnütze Krücke erwiesen, derer ein ‚aufgeklärter' Mensch längst nicht mehr bedarf?

Und so, da wir das Zepter den Leidenschaften übergeben haben, verkommen wir zu einer vulgären Gesellschaft. Tja, meine Damen und Herren, mit dem Vulgären ist es ja genau dasselbe wie mit dem ‚Touristen' - man selbst ist es niemals, sondern immer nur der andere. Und doch müssen wir der unangenehmen Tatsache ins Auge blicken, daß der sogenannt zivilisierte westliche Mensch unerbittlich vulgärer und vulgärer wird - und damit nicht nur sich selbst, sondern auch die ganze Welt in den Sumpf der Niedrigkeit zieht.