Von der Magie der Willenskraft

„Der Wille ist nicht eine Kraft, sondern alle Kraft, die es nur gibt. Wodurch erschuf Gott die Welt? Durch den Willen. Somit ist die uns innewohnende Fähigkeit, die wir Willenskraft nennen, in Wirklichkeit eine Gotteskraft, eine Kraft, die zunimmt, wenn wir ihr Wirkungsvermögen erkennen, und die sich als das größte Wunder des Lebens erweist.“ - Jnayat Khan, Gründer der Sufi-Bewegung

Von deinem Bett bis zu den Grenzen der Welt sind es nur zwei Schritte: Wille und Glaube. Honoré de Balzac, (1799–1850)

„Mögen hätte ich schon wollen, aber dürfen hab’ ich mich nicht getraut.“ Als der bayerische Komiker Karl Valentin (1882-1948) diesen Satz schrieb, war es um den Willen der Menschen noch etwas anders bestellt als heutzutage. Obwohl die Menschen damals gerne gemocht hätten, wagten sie doch nicht, all das zu tun, was das Mögen wollte. Heute ist das anders. Heute können die Menschen nicht bereitwillig genug wollen, was das Mögen verlangt, und keiner geniert sich auch nur im geringsten dabei. Deshalb ist es um den Willen heute schlecht bestellt. Statt der Kutscher auf dem Bock zu sein, der den Pferden den Weg vorgibt, hockt er knutschend in der Kutsche, und es hat ihn nicht zu kümmern, wohin die Pferde treiben. Ist doch alles, was seinen Herrn umtreibt, die Frage, wie er möglichst viel Spaß haben kann.

Das mag der Wille nicht: Nur Knecht von Begierden und Trieben zu sein. Denn eigentlich ist er von königlichem Geblüt. Ohne ihn gibt es keinen Anfang und kein Ende, keine Schöpfung und keine Tat. Er verleiht die Adelswürde der Meisterschaft über Energie und Materie, er befreit vom Rad der Verkörperungen und beendet die Knechtschaft des niederen Selbst. Doch dazu muß er vom Menschen ergriffen werden und seiner göttlichen Natur gemäß gelenkt.

Und das will dem Menschen bis auf den heutigen Tag nicht so richtig gelingen. Entweder er läßt den Willen völlig schleifen und macht sich zu Treibholz im Fluß des Lebens, das mal da, mal dort strandet und nur ein Ziel kennt: In Ruhe zu vermodern. Oder aber er zwingt den Willen, ihm Sklavendienste zu leisten. Mit krummem Rücken und unter Schmerzen ihm all das herbeizuschaffen, was seine kleinen Lüste gerne haben möchten. Ein solcherart pervertierter Wille lehnt sich auf gegen seinen Herrn, sperrt und bockt. Deshalb erfährt der Mensch eine „Willensanstrengung“ so oft als einen Krampf, ein Durchstieren gegen tausenderlei Widerstand. Der Wille wird krank, wenn er nur aufs HABENWOLLEN gerichtet wird. Denn er ist göttlich in seiner Natur. Und die Natur des Göttlichen ist GEBENWOLLEN!

Das Ziel des Lebens

Wenn wir dem Sinn der Willenskraft und ihrer richtigen Anwendung auf die Spur kommen wollen, müssen wir uns zuerst mit dem Ziel des Lebens befassen. Warum sind wir Mensch? Weil wir uns in grauer Vorzeit entschlossen haben, ein Gott, eine Göttin zu werden. Dazu mußten wir uns in die Universität Erde einschreiben, um die Gesetze des Lebens kennenzulernen, sie durch Erfahrung mit der Zeit perfekt anzuwenden und so die Meisterschaft über Energie und Materie (welche ja nur ein verdichteter Energiezustand ist) zu erringen. All die Sagen von Zauberern, die durch ein Fingerschnippen aus einer Wüste einen Blumenteppich machen, Stürme losbrechen oder Felsen federleicht werden lassen sind daher verzerrte Darstellungen dessen, was ein Mensch dereinst tatsächlich zu tun vermag – es aber nicht tun wird, weil er, um diese Meisterschaft verliehen zu bekommen, zuerst ein Wesen vollkommener Liebe geworden sein muß, das in vollkommener Weisheit handelt. Und die ist natürlich niemals willfährig oder sensationslüstern, will nicht beeindrucken und schon gar nicht die niedere Neugierde Ungläubiger befriedigen.

Nun hat sich der Mensch auf seinem Weg selbst ein paar Fallen gestellt,1 die ihm die Aufgabe nicht eben leichter gemacht haben. Einst ein ätherisches Wesen, lebt er heute in einem fleischlichen Körper, der sich leicht verführen läßt, den Weg des Fleisches einzuschlagen. Läßt der Mensch – der ein Geistwesen ist, das den Körper nur bewohnt – das zu, so wird er allmählich immer mehr zum Sklaven seiner niederen Triebe und Lüste – von der Freß- über die Alkoholsucht bis hin zu sexuellen Ausschweifungen, welche sein Nervensystem schädigen, seine Seele verdunkeln und ihn fast unerreichbar machen für die Impulse des Göttlichen, das in ihm schlummert. Dann wird der Wille, eigentlich ein Königssohn, zum Aschenputtel des Alltags, der Launen und Gelüste eines verirrten, eines genuß- und geltungssüchtigen, zwergenhaften kleinen Ich.

Ein Mensch, der solcherart die Zügel aus der Hand gibt, sich, wie schon erwähnt, in der Kutsche verlustiert und die Pferde unbeaufsichtigt den Abgrund hinunter rennen läßt, hat sein Leben vergeudet. Gott sei dank wird er noch viele Chancen bekommen, doch werden jene Leben für ihn nicht unbedingt einfacher werden, denn er zimmert sich sein nächstes Leben immer mit dem, was er in diesem tut. Weder hat er Liebe für sich und die Schöpfung empfunden, noch sich bemüht, Wissen zu erlangen, das ihm hilft, die Erfahrungen des Lebens weise zu interpretieren und daraus zu lernen; und den Willen, den hat er sträflich vernachlässigt, wenn er ihm nicht gerade Sklavendienste der niederen Art erweisen mußte.

Dabei steht der „Wille hoch über der Kraft, wie diese über dem Stoff. Der Wille ist dem reinen Geiste noch näher als die Kraft. Er ist bewußte Kraft, die Einheit von Kraft und Bewußtsein“, schreibt Werner Zimmermann in seinem Buch Ich Bin. „Er ist Herrscher und Gebieter; und Stoff und Kraft wünschen nichts anderes, als ihm dienen zu dürfen. Wille ist, im Vergleich zu Kraft-Stoff, Geist. Der Wille setzt der Kraft ihr Ziel. Er weist ihr die Pläne zu und befiehlt deren Ausführung, und nichts kann die sofortige Verwirklichung daran hindern, wenn der Wille rein ist. Denn Kraft und Stoff sind immer in unbegrenzter Fülle da und warten begierig darauf, benützt zu werden. Dienstbarkeit ist ihr Lebenselement.

Auch an die Zeit sind Wille, Kraft und Stoff nicht gebunden. Sie sind jenseits der Denkformen des Verstandes, jenseits von Raum, Zeit und Kausalität.

Der Wille ist eine wahrhaftig göttliche Tätigkeit. Und einem jeden Menschen gehört er zu, er ist sein eingeborenes Erbe. Niemand kann ihm dieses nehmen. Niemand kann sich ihm in den Weg stellen.

Allerdings, auch da ist eine Bedingung zu erfüllen: Das Einzelwesen muß seinen Willen als solchen, als geistige Kraft, erkennen und einsetzen. Benützt es ihn nicht, so kann er ihm auch nicht helfen. Dann ist es, als ob er nicht da wäre. Wie auch sollte die wunderbarste Sache mir dienen können, wenn ich sie verschmähe?“

Willensfeindliche Zeit

In den letzten Jahrzehnten hatte es der Wille nicht leicht. Zu einfach schien das Leben für den Menschen des zivilisierten Westens. Das Schlaraffenland ist nicht die beste Umgebung, um dem Willen Flügel zu verleihen. Und wo Trägheit, Bequemlichkeit und eine Konsumhaltung regieren, verkümmert die Willenskraft. Heute macht es auch der Elektrosmog den Menschen schwer, ihren Willen zu ergreifen, da er eine entkräftende, betäubende Wirkung ausübt und den Menschen roboterhaft statt lebenssprühend werden läßt. Viele Menschen gehen durch den Tag, als ob sie an Marionettenfäden hingen: Keine einzige Entscheidung verlangt ihnen der 08/15-Tag noch ab; alles ist Fremdbestimmung und Berieselung. Dahinter steckt Absicht. Unbewußte Herdentiere lassen sich überallhin treiben, ohne auch nur aufzumucken!

Allerdings hat ein neues Zeitalter begonnen, und da der Wille immer am Anfang aller Dinge steht, muß der Mensch nun wieder lernen, mit ihm in der richtigen Art zu arbeiten. „Der Wille hat seine Heimat im Göttlichen“, schreibt Werner Zimmermann. „Er kann nur stark und freudig tätig sein, wenn er das ihm Zugehörige, das Göttliche, wollen darf. Dort ist sein Reich, dort ist er frei, dort gibt es für ihn keinerlei Mißlingen und Versagen.“

Göttlicher Wille ist in seiner Ausübung frei von Anspannung, Krampf und Druck. Die große Anstrengung für den Menschen liegt darin, sich überhaupt zu ihm zu bekennen. Zu sagen „Dein Wille geschehe, Herr, nicht meiner“. Und dann anzuerkennen, daß dieses Wort, in der richtigen Weise gelebt, nicht bedeutet, willenlos das Schicksal mit sich umspringen zu lassen, wie es gerade will, sondern sich nach dem Wollen des Göttlichen in uns auszurichten, ihm zuzuhören und dieses Wollen dann ins Wirkliche zu bringen.

Ein solcherart ausgedrückter Wille ist befreiend, beflügelnd und auf eine Weise tiefinnerlich befriedigend, wie es keine Befriedigung, die ihm entgegensteht, je sein könnte. Es ist der Schritt von einem staubtrockenen Alltag in ein magisches Land scheinbar außerhalb von Raum und Zeit, im ewigen Jetzt ruhend, in dem allein das innere Glück existieren kann. Denn das Glück ist ein so zarter Schmetterling, daß es von der Keule von Streß und Druck, von Hetze und sich Abplagen zermalmt wird.

Eine Schwierigkeit gibt es allerdings dabei: Unseren inneren Fido, auch Schweinehund geheißen, der partout seinen Knochen nicht abgeben will. Sprich: Sich aufzumachen ins magische Land der ausgedrückten Göttlichkeit, ins Königreich des göttlichen Willens, bedarf des Zweikampfs mit den vielen kleinen Ratten in uns, die sich an den Leichen in unserem Keller gütlich tun und das Tageslicht scheuen. Es bedarf der Willensanstrengung, den Besen in die Hand zu nehmen, hinunterzusteigen und das niedere Getier zu vertreiben. Den Keller sauberzumachen, das Fenster zu öffnen und den frischen Wind eines neuen Tages hineinwehen zu lassen.

Und das ist unangenehm. Macht manchmal Angst. Erscheint dem Bequemen und Trägen als vergebliche Müh’, weil sich der Lohn erst danach einstellen wird und nicht gleich sofort – und nach Walnuß-Eiskreme schmeckend. Es geht also darum, die Herrschaft über die Launen unserer sogenannten niederen Körper zu übernehmen, zu denen außer dem uns sichtbaren physischen auch noch die unsichtbaren Vehikel des Gefühls- und Gedankenkörpers gehören. Es geht um den Kampf zwischen dem Höheren, Göttlichen in uns und dem Niederen, allzumenschlichen, das der Apostel Paulus so anschaulich mit den Worten beschrieb: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht will, tue ich.“

Der Mensch, dem die Umpolung gelingt in „das Gute, das ich will, tue ich, und das Böse, das ich nicht will, tue ich auch nicht“ – der befindet sich auf dem „Highway to Freedom“ – der Schnellstraße zur wahren, inneren Freiheit! Gelingt es dem Menschen, durch die Anwendung göttlicher Willenskraft die Herrschaft über seine niederen Triebe zu erringen und auf diese Weise seine Gefühle und Gedanken zu reinigen und lichter zu machen, und gelingt es ihm auch, kein Sklave körperlicher Begierden zu bleiben, sondern alles in Maßen zu tun, die gesund für ihn sind, dann war seine jetzige Verkörperung erfolgreich und wird ihm bessere Lebensbedingungen in der nächsten Inkarnation bescheren. Tat er das Gegenteil, so war dieses Leben nur eines von vielen weiteren, vergeudeten, da er sich noch mehr karmische Lasten auf die Schultern geladen hat, die er wieder abtragen muß.

Quellenangaben