Musik vermag zu heilen. Sie fördert die Intelligenz und hält jung, sofern sie im Einklang mit dem Universum schwingt. Was wir von den Weisen der Antike und modernen Gehirnforschern lernen können.
Fast zur gleichen Zeit wie Platon lebte in China einer der größten Weisheitslehrer der Menschheit: Meister Kong (551 bis 479 v. Chr.), den wir im Westen als Konfuzius kennen. Er sprach1 viel über das Wesen der Musik. In der konfuzianischen Philosophie nehmen zwei Begriffe eine Schlüsselstellung ein: ren, die Mitmenschlichkeit (also Liebe), und li, das Streben des Menschen nach Harmonie mit dem Universum. Li steht im Zeichen des Bewahrens; es bedeutet Kontinuität im gesellschaftlichen Leben, aber auch Selbstbeherrschung und notfalls eine von außen aufgelegte Disziplinierung/Strafe des Einzelnen. Damit verkörpert li jene Qualitäten, die dem wilden Revoluzzergeist der 68er Generation und ihrer geistigen Ziehväter, den Kulturmarxisten, diametral entgegenstehen. Li, so Konfuzius, verleiht dem Menschen das Recht und schenkt ihm Stärke. Doch erst die Musik macht uns komplett.
„Musik entspringt dem Herzen, wenn dieses von der äußeren Welt berührt wird.“ Sind wir traurig, machen wir traurige Musik, sind wir wütend, schaffen wir aggressive Töne. Frömmigkeit läßt einfache, reine Klänge entstehen, und die Melodien der Liebe sind sanft und süß. „Aus diesem Grund waren die Könige früherer Zeit sehr vorsichtig in jenen Dingen, die das menschliche Herz beeinflussen. Sie versuchten, die Vorstellungen und das Streben der Menschen durch li zu lenken und mittels Musik Harmonie zu erschaffen.“ Denn das oberste Ziel ist gemäß Konfuzius die Einheit im Herzen des Volkes.
„Wenn die Emotionen berührt werden, drücken sie sich in Klang aus. Und wenn Klänge Formen annehmen, erhalten wir Musik“; lehrte der chinesische Weise. „Folglich ist die Musik eines friedlichen und blühenden Landes ruhig und fröhlich, und seine Regierung geordnet. Die Musik eines Landes im Aufruhr zeigt Unzufriedenheit und Wut, seine Regierung liegt im Chaos.“
In einer weiteren Abhandlung über Musik lehrte Konfuzius, wenn der Mensch nicht lerne, seine Neigungen und Abneigungen zu kontrollieren und deshalb von der materiellen Welt vereinnahmt werde, würden wir unser wahres Selbst im Prinzip der Vernunft verlieren und unsere innere Natur dabei zerstören. Genau das war jedoch das erklärte Ziel der marxistisch geprägten Frankfurter Schule: die Vorstellung eines übergeordneten natürlichen oder göttlichen Gesetzes aus den Köpfen der Menschen zu verbannen, damit man die eigene Autorität auf der Basis reiner Vernunft festigen kann.
Was Konfuzius nun anfügt, tritt in unserer Zeit immer deutlicher zutage: „Wird der Mensch entmenschlicht oder materialistisch, so ist das natürliche Ordnungsprinzip vernichtet und der Mensch ertrinkt in seinen eigenen Begierden. Daraus erheben sich Rebellion, Ungehorsam, Durchtriebenheit, Täuschung und ganz allgemein Sittenlosigkeit.
Dann haben wir eine Situation, wo die Starken die Schwachen tyrannisieren, die Mehrheit Minderheiten verfolgt, die einfach Gestrickten von den Schlauen übervorteilt werden, die Kräftigen Gewalt anwenden, die Kranken und Behinderten nicht gepflegt und die Alten und Kinder nicht versorgt werden. Das ist der Weg des Chaos’.
Auf diese Weise ist Musik mit den Prinzipien des menschlichen Benehmens verbunden“, lehrte Konfuzius weiter. „Deshalb kennen die Tiere zwar Geräusche, aber keine Töne. Wer die Musik versteht, kommt dem Verständnis von li sehr nahe. Und wenn ein Mensch sowohl li als auch Musik gemeistert hat, nennen wir ihn tugendhaft und edel, denn Tugend ist die Meisterschaft der Erfüllung.“
Die abschließenden Worte dieses Philosophen aus alter Zeit können auch heute kaum treffender gewählt werden: „Wahrhaft großartige Musik enthält die Harmonie mit dem Universum. Wenn die Seele verkümmert ist, kann nichts wachsen (…) und wenn die Welt im Chaos versinkt, werden ihre Rituale und Musik zügellos. Also versucht der höherentwickelte Mensch, durch das Wiederfinden der menschlichen Natur im Herzen Harmonie zu schaffen, und durch Musik die Vervollkommnung der menschlichen Kultur zu fördern. Wenn solche Musik vorherrscht und das Streben der Menschen auf die richtigen Ziele gerichtet ist, können wir das Heraufdämmern einer großen Nation sehen. Charakter ist das Rückgrat unserer menschlichen Natur, Musik ist das Aufblühen dieses Charakters.“
Nicht von ungefähr gehört der Komponist der Europa-Hymne „Ode an die Freude“ zu den Titanen einer Zeit, in der Deutschlands Geistesgrößen die ganze Welt überstrahlten. Zu diesen zählte auch Wilhelm von Humboldt (1767 bis 1835), dessen Name noch heute zahllose Gymnasien und Universitäten schmückt. Sein ganzheitliches Bildungsmodell jedoch haben wir längst zugunsten einer „industrialisierten“ Schule über Bord geworfen. Humboldt war ein preußischer Reformer und Anhänger von Friedrich Schiller gewesen, der die Vorstellungen des Dichters als zentraler Pfeiler in sein neues Bildungssystem übernommen hatte. Beide glaubten sie, jede Bildung müsse als höchstem Ziel der Entfaltung einer „schönen Seele“ (Schiller) dienen. Deshalb sei es falsch, wenn die Menschen nur jene praktischen Fähigkeiten lernen würden, die sie zur Ausübung eines Berufs benötigen. Vielmehr, so forderte von Humboldt, sollte man sie zu charakterstarken Staatsbürgern erziehen, die sich ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen bewußt sind und danach streben, den höchsten moralischen Anforderungen gerecht zu werden. Wer seine Seele solchermaßen verfeinert habe, der könne danach mit Leichtigkeit jeden Beruf erlernen, der seinen Fähigkeiten entspreche.
Anstatt aus Kindern gut geölte Rädchen für die Bedürfnisse einer (ohnehin immer weniger) hungrigen Wirtschaftsmaschinerie zu stanzen, wäre es weiser, ihre innewohnende Genialität zu fördern. Dazu gehört laut Humboldt ein breites Allgemeinwissen, das die Kulturgeschichte der Menschheit ebenso umfaßt, wie die großen Entdeckungen auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft, sowie die musischen Künste, allen voran die Musik. Und statt in Prüfungen Multiple-choice-Antworten anzukreuzen, sollten die Schüler in ihrem eigenen Geist die kreativen Erkenntnisprozesse herausragender Geistesgrößen nachvollziehen. Beispielsweise Goethe-Gedichte rezitieren, um ein Gefühl für die Sprache zu entwickeln. Oder die Musik großer Komponisten spielen.
Wer seinen Geist am Genie großer Menschen wetzt, lernt neben dem selbständigen Denken auch selber auf irgendeine Weise schöpferisch tätig zu werden.
Verfechter dieses klassischen Humboldtschen Bildungsmodells führen als Beispiel gerne den 1212 gegründeten Thomanerchor von Leipzig an. Dieser weltberühmte Knabenchor, der auf eine bald 800jährige ungebrochene Tradition zurückblicken kann und Johann Sebastian Bach zu seinen einstigen Kantoren zählen darf, besteht heute aus ungefähr hundert Jungen im Alter von neun bis achtzehn Jahren. Sie leben im Internat und besuchen die Thomasschule, ein Gymnasium mit sprachlichem Profil und verstärkt musischer Ausbildung. Auch die kleinen Jungen sind in der Lage, schwierigste Chorwerke innerhalb einer Woche fehlerfrei vorzutragen und neue Melodien schon beim ersten Mal richtig abzulesen und zu singen. Das können sie, weil sie jeden Tag die Musik der größten Komponisten neu erstehen lassen. Bach selbst hatte für die Thomaner pro Woche einen neuen Choral oder ein anderes Vokalwerk geschrieben, das sie dann einüben mußten.
Was auf musikalischem Gebiet möglich ist, gilt natürlich auch für die Naturwissenschaften. Und dennoch: die Musik formt unsere Seelen wie keine andere Kunst. Der römische Staatsmann und Philosoph Cicero schrieb vor etwas mehr als zweitausend Jahren: „Von der Musik wird alles erfaßt, was lebt, da sie die Seele des Himmels ist.“ Ein Gedanke, den der Dichterfürst Goethe folgendermaßen ausdrückte: „Durch den Tempel der Musik gehen wir zur Gottheit ein.“
Mit Musikunterricht, diesem an staatlichen Schulen dahinsiechenden Pflänzlein, könnte man die schulischen Leistungen unserer Kinder deutlich verbessern. Die Gehirnforscher erklären auch, weshalb das so ist. Der geniale Physiker Albert Einstein verkörperte diese Tatsache augenscheinlich, denn er spielte begnadet Violine. Und was im Großen gilt, gilt bekanntlich auch im Kleinen: Seit mein eigener Sohn begeistert täglich klassische Gitarre spielt, verbessern sich seine mathematischen Fähigkeiten, ohne daß er vermehrt Mathe büffeln muß.
Kurz vor der Jahrtausendwende führte die Stadt Berlin eine sechsjährige Studie an zwölf Schulen durch, welche den Einfluß von klassischer Musik auf die Intelligenz und den Charakter der Schüler zum Thema hatte. Die Schulen waren allesamt in sozial schwachen Stadtteilen zu finden, wo Arbeitslosigkeit und hohe Ausländerzahlen zu einem für viele Kinder schwierigen Umfeld führen. Wer an dem Versuch teilnahm, durfte kostenlos ein klassisches Instrument erlernen oder Gesangsunterricht nehmen.Schon bald viel dem leitenden Professor auf, daß die musizierenden Kinder „fröhlicher, intelligenter und kreativer“ waren als die anderen. Dieser Eindruck festigte sich im Lauf der Jahre. So hatten die Schüler nicht nur Musizieren gelernt, sondern verfügten auch über deutlich verbesserte kognitive Fähigkeiten. Sie konnten sich in Gesprächsrunden viel eloquenter und intelligenter ausdrücken als ihre Mitschüler und verfügten über eine ausgeprägte Gedächtnisleistung, die sich in allen Fächern bemerkbar machte. Zudem waren sie viel selbstsicherer und willensstärker, gingen aber dennoch flexibler mit ihrer Umwelt um. Sie lernten selbständig, also originell, zu denken – und ihre sogenannte Sozialkompetenz nahm stark zu. Musizierende Schüler verloren ihre Aggressivität und respektierten die anderen Kinder. Mobbing auf dem Pausenhof oder heftige gegenseitige Abneigungen waren ihnen fremd.
Es zeigt sich, daß wir modernen Menschen gut daran tun würden, die Lehren der konfuzianischen Tradition zu befolgen. Oder dem Vorbild der griechischen Antike nachzueifern, wenn uns das näher liegt. Das Motto des Berliner Musikversuchs war denn auch einem Spruch von Sokrates entnommen: „Musik ist die beste Form der Erziehung, weil Rhythmus und Harmonie bis in die innersten Bereiche der Seele vordringen und ihr Anmut und Anstand verleihen.“ „Rhythm is it!“ sagte sich auch der Brite Sir Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, und begann ein ambitioniertes Musikprojekt, welches den Berliner Schulversuch weiterführte. Unter der Anleitung des Choreographen und Tanzpädagogen Royston Maldoon kamen im Februar 2003 Kinder und Jugendliche aus Berliner Problemschulen zusammen, um innerhalb von sechs Wochen das Ballet Le Sacré du Printemps von Igor Stravinsky einzuüben, dessen Aufführung mit den Berliner Philharmonikern für Furore sorgte.
Von den 250 Schülern aus 25 Nationen war niemand mit klassischer Musik und Tanz vertraut. Der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm Rhythm is it! zeichnet mit einfühlsamen Bildern nach, wie Musik soziale und kulturelle Schranken überwindet und Menschen verbindet, die allein kaum aus ihrer Isolation herausgefunden hätten. Und eine Dokumentation zum Dokumentarfilm belegt anhand von porträtierten Einzelschicksalen einmal mehr, daß klassische Musik dabei helfen kann, aus No Future-Kids selbstsichere, erfolgreiche und glückliche Menschen zu machen, die ihr Leben im Griff haben.
Der große Zuspruch und die auch für die Vollblutmusiker einzigartig schöne Erfahrung bewegten die Berliner Philharmoniker dazu, das Projekt mit anderen Ballettstücken und Choreographen in den folgenden Jahren fortzuführen. Royston Maldoon führte vergleichbare Projekte auch in England durch.
Vorbildlich auch, was der israelische Dirigent Daniel Barenboim und der verstorbene, in Palästina geborene Literaturwissenschaftler Edward Said (†) 1999 ins Leben riefen: In ihrem West-östlichen Diwan-Orchester musizieren Israelis und Araber friedlich vereint für eine bessere Welt. Barenboim wurde 2010 für sein Engagement als Brückenbauer der Versöhnung zwischen den Völkern mit dem deutschen Kulturpreis geehrt.
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