Zwergenland: Eine Reise in die Anderswelt

Eingebettet in die Welt, die wir kennen, existieren zahllose andere, von denen uns nur Märchen und Mythen berichten. Eine davon ist jene der Zwerge und Elfen. Vor vielen hundert Jahren zog der 'nüchtern' gewordene Mensch es vor, sich der Wissenschaft und der Mechanik statt dem 'kleinen Volk' zu widmen. Jetzt meldet es sich zurück.

LeprachanEigentlich hatte sich Tanis Helliwell nicht viel vorgenommen für ihren ,Irischen Sommer': Ausspannen, wandern, zu sich selber finden und erleuchtet werden. Sie ahnte nicht, daß ihr Guru schon auf sie wartete. Und noch weniger hätte sie gedacht, daß er so aussehen würde:
Etwa einen Meter zwanzig groß, mit einer altmodischen, zugeknöpften grünen Jacke, die ihm bis zur Taille reichte und sich über einen ansehnlichen Bauch wölbte, mit braunen, an den Knien abgeschnittenen Hosen, die in dicke Gamaschen ausliefen, welche wiederum in großen Holzschuhen steckten. Auf dem Kopf trug er - als das Tüpfelchen auf dem ,i' - einen riesigen schwarzen Hut.

Seit Tanis in ihr Cottage eingetreten war, das abgelegen an der Küste des westirischen County Mayo liegt, hatte sie das Gefühl beschlichen, ins Heim anderer Leute eingedrungen zu sein. Besonders aus einer Ecke schienen spürbare ,Schwingungen' auf sie zuzukommen. "Erschrocken stellte ich fest, daß vier Leute mich ansahen: ein kleiner Mann, eine kleine Frau und zwei Kinder." Nach einigen Schrecksekunden, in denen sie festgestellt hatte, daß die kleine Familie eindeutig keine Menschen waren, sprach der kleine Mann sie an: "Wir leben seit hundert Jahren eurer Zeit in diesem Haus und sind bereit, es mit dir zu teilen. Aber wir stellen einige Bedingungen."
"Wie lauten deine Bedingungen?" Tanis ahmte den überaus ernsten Tonfall des kleinen Mannes nach.
"Nun ja... du wohnst an einer verwunschenen Straße - und nicht alle Elementargeister hier sind den Menschen wohlgesinnt."

"Entschuldigen Sie", sagte Tanis. "Was meinen Sie mit ,Elementargeistern'?" "Ihr Menschen", antwortete er mit leichter Ungeduld, "nennt uns Gnome, Kobolde, Zwerge, Feen, Elfen und Lepracháns, aber wir sind alle Elementargeister. Das ist unsere Rasse, so wie ihr der menschlichen Rasse angehört. Es gibt viele Arten von Menschen, so wie es viele Arten von Elementargeistern gibt. Nun, wie gesagt, wir werden dich den Sommer über schützen. Ich weiß, daß du diesen Schutz brauchst, weil ich weiß, warum du hier bist."

Tanis ließ sich auf den Handel ein. Ihr stand der vielleicht ver-rückteste Sommer ihres Lebens bevor, in welchem der kleine Mann aus der Gattung der Lepracháne - das sind kleine Männer, die so nur in Irland vorkommen, die vorwiegend mit Metall arbeiten, aber auch andere Handwerkskünste betreiben - sie des öfteren besuchen und sie einige Schritte näher zu dem Ziel bringen würde, dessentwegen sie hergekommen war: Die ,Erleuchtung'. Der kleine Mann selbst gehört zu jenen Elementarwesen, die sich bereiterklärt haben, die Gattung der Menschen näher kennenzulernen - um später selbst einmal in ihr Reich zu inkarnieren. Es war also ein Sommer des gegenseitigen Lehrens und Lernens - der beide am Ende einige Schritte weiter in ihrer Entwicklung brachte.
Daß die Erleuchtung dabei auf der Strecke blieb, Verständnis und Liebe aber wuchsen, gehört zu den Begleiterscheinungen auf dem ,Weg', der einen manchmal woanders hin führt, als man wollte - und nicht selten stellt man am Ende fest, daß das Ziel, das einem auf diese Weise ,geschieht', viel besser ist, als dasjenige, das man ursprünglich verfolgte.

Bruder Sonne, Schwester Mond

Wie anders war dies in der Frühzeit der Menschen! Da waren sie noch ganz in Natur und Himmel eingebettet. Und da es keine technischen, also keine ,toten' Dinge gab, die sie abgelenkt und gestört hätten, waren sie von einer derart tiefen Naturverbundenheit und - als Folge davon - einer Feinhörigkeit und Feinfühligkeit, wie sie heute nur mehr die Kreatur besitzt. "Sie fühlten das Lebendige der Erde und des Himmels, und aus diesem Lebenszustand heraus die Weisheit und das Gesetz - die große Harmonie des Alls", erinnert sich Sterneder wehmütig. Genauso fühlten und schauten sie das Leben in den Geschöpfen von Stein, Pflanze, Tier, Mensch und Stern und sahen sowohl deren wie ihre eigene Abhängigkeit von den geistigen Kräften des Makrokosmos und des Mikrokosmos und das Wunder der All-Einheit.

Tatsächlich offenbaren noch die Schriften der alten Alchemisten, Rosenkreuzer und Neuplatoniker, daß sie die Natur mit ihren Wäldern, Tieren, Meeren, Winden, Wolken und dem Sternenhimmel als einen riesengroßen Menschen betrachteten. Dieser ,Riesenmensch' hatte einen Leib, der von magischen Kräften durchdrungen war - die Natur, die wir wahrnehmen. Er hatte aber auch eine Seele, die anima mundi, die fühlend, leidend, frohlockend und empfindend die Weisungen des Weltengeistes, der hinter dem Sternenzelt wohnt, wahrnahm und ihnen in unzähligen Formen und Gestaltungen Ausdruck verlieh. Diesem ,Riesenmensch' wurden viele Namen gegeben - Makrokosmos dürfte wohl der geläufigste sein.