Echnaton: Ketzer oder Visionär?

Nachfolgende Generationen unternahmen alles, um die Existenz des Pharaos Echnaton auszulöschen. Denn er legte den Grundstein zu den drei monotheistischen Religionen.

Tutanchamun, Sohn von Echnaton

Tutanchamun, Sohn von Echnaton

 Im Innern eines bestimmten ägyptischen Tempels sind alle Herrschernamen des alten Ägyptens in Stein verewigt. Ein Name allerdings fehlt: Echnaton. Auf das Siegel seines Vaters und Vorgängers folgt das Siegel seines Nachfolgers. Man hatte zwar Reliefs und Statuen von einem unbekannten Pharao gefunden, dessen Gesichtszüge und Namenskartusche mit dem Meißel zerstört worden waren - aber wie hätte man wissen sollen, daß es sich dabei um Echnaton, den vergessenen Pharao, handelt?

Erst als Archäologen im 19. Jahrhundert eine im Wüstensand versunkene Stadt entdeckten, erfuhr die Nachwelt von der Existenz jenes mysteriösen Pharaos, der im 14. Jahrhundert vor Christus gelebt hatte. In El Amarna fand man die Überreste einer einst blühenden Stadt, die während weniger Jahrzehnte Echnatons Residenz und Epizentrum der ägyptischen Macht war: Achet-Aton. Für Altertumsforscher erwies sich dieser Fundort als wahre Goldgrube, in welcher sich einem offenen Buch gleich eine bis anhin völlig unbekannte und einzigartige Periode der ägyptischen Geschichte offenbarte. Dank unvollendeten Grabkammern und teilweise erhaltenen Mosaiken und Reliefs wissen wir heute um Echnaton und seine Familie. Seine Gattin ist sogar noch berühmter als der König selbst: Nofretete, die angeblich schönste Frau des Altertums. Die wohl bekannteste Büste Nofretetes wurde ebenfalls in El Amarna gefunden.

Es scheint, als wäre Echnaton der erste 'Feminist' gewesen. Darstellungen seiner Gattin Nofretete sind nämlich unvergleichlich in der ägyptischen Kunst, weil sie als einzige Frau mit der Krone eines Pharao auf dem Haupt dargestellt wird. Auch nimmt sie häufig Posen ein, die ansonsten nur dem Herrscher vorbehalten sind. Ganz offensichtlich hatte Echnaton den Thron mit seiner Frau als Mitregentin geteilt. Ob diese Gleichstellung von Mann und Frau auch in tiefere Gesellschaftsschichten durchgedrungen ist, wissen wir nicht.

Echnatons Sonnenreligion war bei weitem nicht so frauenfeindlich wie später das Judentum, das Christentum oder der Islam. Der Pharao preist die Sonne mit den Worten: "Du bist's, der Leben spendet und segnet. Vater und Mutter in allem, was Du erschaffen hast." Schon damals also war den Ägyptern - wie im Fernen Osten - das fundamentale Lebensprinzip der Polarität von Yin und Yang bekannt gewesen.

In Echnatons Worten klingt die Ehrfurcht vor Gottvater, Gottmutter und Ihrer Schöpfung. Diese Heilige Trinität kennen wir in 'frauenfeindlicher Form' auch im Christentum: Vater, Sohn (Schöpfung) und Heiliger Geist (Mutter). Die Heilige Familie, wie sie beispielsweise durch Josef, Maria und Jesus symbolisiert wird, schien auch ein Anliegen des visionären Pharaos zu sein: Echnaton, Nofretete und ihre Kinder wurden sehr häufig als Familie dargestellt, überstrahlt von der Sonnenscheibe Atons, welche die Königsfamilie mit Seiner Liebe segnet und durch sie hindurch alle Menschen auf der Welt in diese Liebe hüllt. So wurde unter Echnaton das Prinzip der Heiligen Familie bereits vom ägyptischen Volk verehrt, lange bevor Fresken der Heiligen Familie christliche Kirchen schmückten.

Der verkörperte Gott

Manche Geschichtsforscher halten Echnaton allerdings für größenwahnsinnig, der sich selbst gottgleich machen wollte. Archäologische Funde scheinen diesen Kritikern auf den ersten Blick recht zu geben.

In El Amarna wurden erst vor wenigen Jahren die Überreste eines riesigen Tempelpalastes gefunden, der offenbar als königliche Residenz diente, gleichzeitig aber wie ein Tempel angelegt worden war. Betrat man das Gebäude, so blickte man direkt auf ein Portal, durch welches zu gewissen Stunden die Sonne schien. Wenn nun der Pharao vor diesem 'Altar' stand, so mußte er in gleißendes Licht getaucht sein und dem Betrachter als strahlender Sonnengott erscheinen. Für viele Ketzerei - damals wie heute!

Echnaton, Verkörperung des Aton, Sohn der Sonne. Heute lernt die Menschheit wieder, daß dieser Pharao im Grunde richtig lag: So, wie das irdische Leben von der Sonne genährt wird, wurden wir Menschen als geistige Wesen aus dem Herzen unseres Schöpfers erschaffen, dessen physische Manifestation tatsächlich die goldglühende Sonnenscheibe ist. So gesehen stammen alle Menschen aus dem Herzen der Sonne oder unseres Vater-Mutter-Gottes. Nicht umsonst steht in der biblischen Schöpfungsgeschichte, daß der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen worden sei. Und Jesus stellte die rhetorische Frage: "Steht nicht geschrieben, daß ihr Götter seid?" (Johannes 10:34).

Vielleicht war Echnaton tatsächlich größenwahnsinnig und wollte gerne als Gott verehrt werden wie nach ihm die römischen Imperatoren. Vielleicht aber wollte er seinem Volk auch nur die fundamentale Wahrheit vermitteln, daß jeder Mensch von göttlichem Ursprung ist, und gab ihnen seine Person und Familie als Vorbild.

So ist auch zu erklären, weshalb die Grabkammern in Echnatons Wüstenstadt keine der traditionellen Szenenmit den Göttern der Unterwelt aufweisen, sondern die königliche Familie bei alltäglichen Beschäftigungen zeigen. Man sieht Echnaton, wie er beispielsweise mit seiner Mutter malt, mit seiner Gattin zärtliche Blicke austauscht oder über den Tod seiner Tochter weint. Ist dies die Anmaßung und Egozentrik eines ketzerischen Tyrannen oder die Botschaft eines Herrschers, der Gott nicht in einem abstrakten Götterpantheon, sondern im gewöhnlichen Leben mit seinen Hochs und Tiefs erkannt hat?

Viele der einzigartigen Reliefs von Achet- Aton zeigen Echnaton und die Seinen unvorteilhaft mit feisten Schenkeln und Hängebäuchen; sie sind nicht idealisiert und verklärt, sondern so, wie Gott sie erschaffen hat. Außerdem sind sie nackt dargestellt - für die ägyptische Kunst geradezu revolutionär. Jesus sprach oft vom 'Tempel Gottes', den man reinhalten müsse, und meinte damit den menschlichen Körper. Wollte Echnaton mit diesen Reliefs dasselbe ausdrücken? Immerhin wissen wir heute, daß der 'unsterbliche, göttliche Funke' in einem jeden Menschenherzen wohnt. Diese Dreifältige Flamme  ist tatsächlich eine 'Sonne' im Körper des Menschen.

Eine Religion der Liebe

Echnatons Sonnenkult war eine offene Religion. Nicht länger sollten nur der Pharao und die Priester Zutritt zum Tempel haben und die Götterbilder anbeten können - nein, das ganze Volk sollte der Sonnenscheibe ansichtig werden dürfen. Zu diesem Zweck entwarf Echnaton in der Wüste seine Residenzstadt Achet-Aton, deren Geometrie, so entdeckte man erst kürzlich, einer gigantischen Tempelanlage entspricht. Die Stadtgrenzen bilden einen einzigen Tempel, in welchem die physisch sichtbare Sonne von allen verehrt und gesehen werden konnte, während der Pharao unter freiem Himmel die Rituale abgehalten hatte. Ausgerichtet war die Tempelstadt auf den 'Geburtsort' der Sonne, also jenen Punkt, wo das Gestirn jeden Morgen am Horizont erschien.

Unter Echnaton wurden nicht nur beachtliche raumplanerische Leistungen vollbracht, sondern es entstand auch ein völlig neuer Kunststil ('Amarna-Periode'), der erstmals die Empfindung ausdrückte. So stellen beispielsweise die Wandreliefs in den Grabkammern der Stadt Achet-Aton kein nächtliches Totenreich dar; ihre Botschaft lautet: "Aton verkündet die Liebe zu allem Geschaffenen" (Dumont-Kunstführer). Noch nie war in Ägypten die Tier- und Pflanzenwelt so geliebt und verehrt worden wie unter den Strahlen der Sonne Atons. Diese Lehre der All- Liebe scheint zentral gewesen zu sein in der von Echnaton neu gegründeten Religion; sie wird uns knapp eineinhalb Jahrtausende später wieder begegnen in den Lehren eines jungen Zimmermanns aus Galiläa.

In der Grabkammer des Fürsten Eje findet sich in Stein gehauen Echnatons Sonnengesang. Dort steht geschrieben: "Oh einziger Gott, dessen gleichen nicht ist. Du hast die Erde erschaffen nach Deinem Wunsch, ganz allein." Das ist der erste historische Beweis für Monotheismus. Heute gilt als erwiesen, daß der jüdische Glaube - zumindest was diesen Aspekt betrifft - auf Echnaton zurückgeht. Im Alten Testament finden sich Verse, die fast identisch sind mit dem Sonnengesang Echnatons. Der Pharao betete: "Oh Du lebendige Sonne, schön bist Du, groß und strahlend. Du hüllst die Welt in Finsternis und jeder Löwe ist aus seiner Höhle." Im Psalm 104 steht: "Oh Herr, wie sind Deine Werke groß und viele. Mit Majestät und Pracht bist Du bekleidet. Du bestellst Finsternis und es wird Nacht. Und die jungen Löwenbrüllen nach Raum."

Viele Psalme sind ägyptischen Ursprungs, obwohl sie König David zugeschrieben werden. Das biblische Buch der Sprüche kann sogar Vers für Vers auf ein viel älteres Werk des ägyptischen Weisen Amenemope zurückgeführt werden. Diese Schrift befindet sich heute nämlich im British Museum in London. Und die berühmten Zehn Gebote, die stammen aus der Strophe 125 des ägyptischen Totenbuchs. Dort nämlich spricht der Pharao die rituelle Beichte: "Ich habe nicht getötet. Ich habe nicht gestohlen. Ich habe nicht gelogen...."

Gescheitert, aber nicht umsonst

Echnaton war seiner Zeit voraus. Was als soziales und religiöses Experiment, das den Himmel auf Erden versprach, begonnen hatte, endete für seine Anhänger in Blut und Tränen. Die Tempelstadt Achet-Aton wurde Stein um Stein abgetragen, nachdem man ihre Bewohner entweder getötet oder in die Sklaverei geschickt hatte. Echnatons Existenz wurde ausgelöscht, doch seine Ideen feierten ihre Auferstehung in den Offenbarungen eines Propheten namens Moses, der die Israeliten und ägyptischen Aton-Anhänger aus der Gefangenschaft herausführte und damit das Fundament für den jüdischen Glauben, das Christentum und den Islam legte.