Felsenkloster - Eine Reise ins Jenseits des Todes

Jene, die in früheren Zeiten den Pfad der Geistigkeit gingen, mußten sich an verborgenen Orten Einweihungsriten unterziehen, die oft auf Leben und Tod gingen. Lesen Sie hier die Geschichte eines jungen tibetischen Mönchs, der 800 Jahre vor Christus im damals Bod-Yul genannten Hochland hinter dem Himalaya lebte. Unsere wahre Geschichte beginnt bei der größten Prüfung, in welcher der junge Mönch in einen Sarg gelegt wird…

Der damalige Name unseres Helden war Ti-Tonisa; sein Lehrer hieß Lhalu. Mehrere Einweihungsprüfungen hatte Ti-Tonisa schon siegreich bestanden – darunter jene des Willens und des Mutes, die ihn in stockdunkle unterirdische Gänge und Höhlen geführt hatte, und wo er dunklen Felslöchern und siedend heißen Wasserkuhlen hatte trotzen müssen.

Doch nun war der Tag seiner größten Einweihungsprüfung gekommen. Der vorsitzende Lama bereitete ihn mit diesen Worten darauf vor: „Diese Prüfung wird eines der bedeutendsten Erlebnisse deines Lebens sein, denn wir nennen sie ‚Tor zur Einweihung‘. Die Prüfung des Sarges erprobt gleichzeitig deinen Glauben und deine Demut. Wir werden dich sieben Tage lang begraben. Deine Seele wird in dieser Zeit von deinem geistigen Führer in der anderen Welt begleitet. Wenn du wieder aufwachst, mußt du uns berichten, wo du warst und was du gesehen hast, außerdem deine gesamte Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Tode.“

Nachdem Ti-Tonisa sich in den Sarg gelegt hatte, kam der Hohepriester und strich ihm mit zwei Fingern über die Stirn: „Schlafe“, flüsterte er mit seiner tiefen Stimme. „Schlafe!“

Lauschen wir nun der Erzählung Ti-Tonisas:„Mir war, als bewege sich der Sarg unter mir und woge wie ein sturmgepeitschtes Meer auf und ab. Im nächsten Augenblick sank ich in einen bodenlosen Abgrund und verlor das Bewußtsein.

Als ich zu mir kam, wogte ich noch immer auf und ab. Ich war mir sicher, nicht zu träumen, allerdings war ich auch nicht wach. Dieser Zustand lag seltsam dazwischen. Neben mir drehten sich in hoher Geschwindigkeit farbige Kreise, und schleierartige Wolkenfetzen schwebten an mir vorbei. Der Hohepriester stand noch vor mir, doch ich sah weder Lhalu noch die Lamas. Das entferntere Ende der Halle der Zeremonien schien im Nebel zu verschwinden. An der Seite des Großen Lamas erblickte ich die Gestalt eines Mannes, der ein strahlend weißes Gewand trug und mir zulächelte. Allmählich beruhigte sich das Gewoge und glich nun mehr dem sich kräuselnden Wasser eines Sees, wobei konzentrische Ringe von einem Zentrum, dem Kopf der erhabenen Gestalt, auszugehen schienen.

„Komm her!“ Merkwürdigerweise nahm ich diese Aufforderung eher als Sehen denn als Hören wahr. „Steig heraus!“ Mir war, als spalte sich mein Selbst: Ein Teil blieb steif und bewegungslos zurück, der andere stieg körperlos nach oben und schwebte über dem Sarg. Meine fünf Sinne arbeiteten tadellos, viel besser als ich es in meinem verlassenen Körper gewohnt war. Erstaunt bemerkte ich, daß ich von dort oben durch meinen Körper bis auf den Grund des Sarges sehen konnte, als bestände dieser aus Luft, ja, ich schaute durch das Kloster hindurch bis auf die Felsen, auf denen es gebaut war. Selbst der Große Lama war so durchsichtig wie Wasser. Jetzt erblickte ich auch Lhalu. Beide gingen zum Sarg, bedeckten mich mit meinem Umhang, hoben den schweren Deckel an, schoben ihn über die Öffnung und nagelten ihn fest. Dann brachte der Hohepriester Wachs am Öffnungsschlitz an und drückte seinen großen Siegelring hinein. Ich war außer mir vor Staunen. Noch nie hatte ich mich so merkwürdig gefühlt! Dies war kein Traum, denn ich wußte, daß ich nicht schlief. Es war ein Gefühl hundertfach erhöhter Wachheit! Ich sah, hörte und fühlte alles viel klarer, viel genauer als in meinem Körper. Ich beobachtete, wie die Lamas den Sarg auf ihre Schultern hoben und ihn langsam zur Treppe trugen, gefolgt vom Ichkitsu und Lhalu.

Dann hörte oder sah ich diese Stimme wieder, eine kaum zu beschreibende Empfindung.

„Ti-Tonisa, erkennst du mich?“

„Uparnissur!“ rief ich voller Freude, denn im selben Augenblick erkannte ich das Gesicht meines Schutzgeistes. War das nicht merkwürdig? In meinem irdischen Leben war er mir nie begegnet; ich wußte nur, daß er existierte und über mich wachte. Und jetzt war mir, als träfe ich einen alten vertrauten Freund, den ich verloren und wiedergefunden hatte. Ich rannte zu ihm und schlang die Arme um seine Schultern. Wenn ich „rennen“ sage, so entspricht dies den Tatsachen, denn es handelte sich nicht um geistiges Gleiten, obwohl mir die Bewegungen so leicht fielen, als triebe mich die Kraft meiner Gedanken an.

„Du erkennst mich also. Ich bin dein Geistführer, vom Himmel dazu bestimmt, von deiner Geburt bis zu deinem Tode über dich zu wachen. Erinnerst du dich noch an den chaldäischen Königshof in Assur, an dem wir beide Magier waren, unzertrennliche Busenfreunde? Auch damals wurde ich geboren, um dir durch dein Leben zu helfen. Doch die Nichtigkeiten der Welt ließen dich vom ewigen Ziele abschweifen. Sei nicht traurig, Ti-Tonisa! In diesem Leben hast du allen Versuchungen widerstanden, und deshalb darfst du zu der herrlichen himmlischen Sphäre, deiner Heimat, aufsteigen. Die Einweihungsstufe, die dir jetzt bevorsteht, ist vielleicht das wichtigste Ereignis in deinem Erdenleben. Nach so vielen Jahrhunderten begibt sich dein Bewußtsein zum ersten Male auf die geistige Ebene, und endlich begegnen wir uns wieder. Von nun an werden wir öfter in dieser Art miteinander sprechen, wenn auch nicht so unmittelbar wie jetzt, und ich werde dich in die Geheimnisse der geistigen Welt einführen, damit du noch auf der Erde in jener Sphäre leben kannst, in welche du eigentlich gehörst. Denn wisse, Freund, daß jener, der dem Weg zur Einweihung folgt und den pfeilschnellen Pfad gewählt hat, während eines Erdenlebens mehrere Inkarnationen durchleben muß, um seinen Weg abzukürzen. Deshalb fürchte dich auch dann nicht, wenn dir merkwürdige Dinge zustoßen sollten. Folge stets den Anweisungen deines Hohepriesters und meinen Eingebungen.

Der Hohepriester bedeckte dich mit einem Mantel und ließ deinen Körper in ein Zimmer neben dem seinen bringen, um dich ständig überwachen zu können. Sein Siegel und die Berührung seiner Hand wird die niedrigen, erdgebundenen Geister fernhalten, die in den unteren Sphären auf der Suche nach Beute umherschweifen und sich von den Sünden und Schwächen der Erdbewohner nähren. Komm, laß uns höher steigen. Sieh dir dein ewiges Zuhause an.“

Das Kloster und die riesigen Berge waren bereits in der Tiefe verschwunden. Als ich den gähnenden Raum unter mir wahrnahm, erschrak ich und dachte unwillkürlich an meine kleine Zelle. Im nächsten Augenblick sank ich.

„Paß auf!“ rief mein Führer und schoß blitzschnell hinter mir her. „Du mußt lernen, deine Gedanken zu beherrschen, denn sie sind lebendige Bilder deren Schöpfer du bist. In der feinen Welt sind sie die treibende Kraft, mit deren Hilfe du dich in die gewünschte Richtung bewegst. Doch sieh dich um!“

Ich bemerkte erstaunt, daß verschieden große, farbige Formen gleich dem Schweif eines Kometen hinter mir herschwebten. In der Ferne machte ich gespenstische Schatten aus, während noch weiter entfernt ähnliche Geistformen wie mein Führer mit unglaublicher Geschwindigkeit durch den Raum schossen.

„Du kannst deinem Meister dankbar sein, daß er dich gelehrt hat, die Gedanken zu beherrschen. Gedanken sind eine lebendige Realität, mein Freund. Aus diesem Grunde ist es so wichtig, daß ein Mensch sie schon auf Erden sichten lernt, damit seine guten, reinen, edlen Gedanken nach dem Tode seine geistige Entwicklung zu bezeugen vermögen. Sündige Gedankenphantome allerdings verfolgen ihre Erzeuger nach deren körperlichem Tode ohne Erbarmen, klammern sich an sie und lassen nicht zu, daß sie sich über ihre Entwicklungsstufe erheben.“

„Was sind das für leuchtende Gestalten in der Ferne?“

„Geister“, antwortete mein Führer.

„Und woher weiß ich, ob ich einem Geist oder einer Gedankenform begegne?“

„Sprich sie an. Wenn sie dir nicht antworten, sind es bloße Phantome, die sich von der Lebenskraft ihrer Erzeuger ernähren.“

Wir glitten gleichmäßig, doch schwindelerregend rasch aufwärts. Ich fand es merkwürdig, daß es immer noch dunkel war. Außer den Geistern, die, gleich leuchtenden Pfeilen, einzeln oder in Gruppen am Horizont verschwanden, sah ich nur die strahlende Gestalt meines Führers.

„Warum ist es so dunkel hier?“ fragte ich, und seine blitzenden Gedankenschwingungen klangen in meiner Seele.

„Weil der Ring, durch den wir gerade fliegen, die dunkelste Sphäre der Erde ist. Dort leben die Vater- und Muttermörder, die Triebverbrecher, die Hurer und die Mörder. Wisse, Ti-Tonisa, daß sich das Schicksal eines jeden Menschen entscheidet, wenn nach seinem Tode im Chikai Bardo das heilige Licht aufflammt. In diesem Augenblick beginnt das Gesetz der Eignung zu arbeiten. Jener Mensch, der sich während seines Lebens zum pfeilschnellen Pfad entschloß, erkennt die Führung der Gottheit und reißt sich aus freien Stücken von der Materie los. Er läßt alles, was zur Erde gehört, dort zurück. Sein Geist fliegt frei wie ein Vogel durch die niederen sphärischen Ringe, weil ihn die Versuchungen jener, die dort leben, nicht anzufechten vermögen. Aus diesem Grunde vermagst du die Leidenden auch nicht zu sehen. Deine Seele schwingt sich augenblicklich so hoch hinauf, wie du es dir in deinem Erdenleben verdient hast.“

„Ist das die Unterwelt?“, fragte ich, „dieser dunkle Ort, durch den wir gerade fliegen?“

„Ja, und außerdem noch die Schichten unter der Erde. Doch dort sind nur unverbesserliche Sünder in die Kessel unterirdischer Felshöhlen und schäumender Wasser gebannt. Es braucht Ewigkeiten, um von dort erlöst zu werden, obwohl auch diese verdammten Seelen aufsteigen können, denn kein Geist wurde zu ewiger Verdammnis geschaffen. Schau dich um!“

Jetzt machte ich in der Dunkelheit verschwommene Umrisse aus. Wir kamen an großen Gebäuden und verwüsteten Plätzen vorbei. Meine Neugierde erwachte, und augenblicklich verlangsamte sich unser rascher Flug. Jetzt gingen wir buchstäblich nebeneinander durch breite gerade Straßen, und mit wachsendem Interesse betrachtete ich die seltsamen Gebäude, die mich an ein lange vergangenes Zeitalter erinnerten. Doch die schönen Paläste und Kunstwerke waren von Efeu überrankt, und Unkraut überwucherte das Straßenpflaster. Ab und zu sah ich, wie sich Menschen mit häßlich verzerrten Gesichtern über die Strassen stahlen. Sie trugen dunkle Gewänder und waren abscheulich anzusehen. Als wir um eine Ecke bogen, hörten wir Schreie. Bestürzt beobachtete ich eine Gruppe Soldaten, die zwei bis zum Halse Eingegrabene folterten, welche flehend zu ihnen aufblickten.

„Wo sind wir hier?“ fragte ich entsetzt. „Was ist das für eine schreckliche Stadt?“

„Es ist das alte Bild der Hauptstadt Mkah von Atlantis, der verlorenen Welt. Für diese unglücklichen Seelen ist es heute genauso wirklich wie damals. Es sind jene, die ihr Wissen nicht zur Ehre Gottes, sondern für die Ziele des Bösen einsetzten. Ihre Kenntnisse waren so hoch entwickelt, daß sie die Gesetze der magischen Zahlen willentlich anzuwenden vermochten. Außerdem kannten sie die verborgenen Namen aller Dinge und konnten so den kleinsten Partikeln der Materie gebieten. Getrieben vom wilden Durst nach Rache und der Gier, die Welt zu beherrschen, führten sie Krieg gegen das Volk, welches im Südosten des mittleren Kontinents lebte, doch die Materie geriet außer Kontrolle, und die Welt brach über ihren Köpfen zusammen. Das war die Zeit der Großen Flut (der Sintflut), welche das Gesicht der Erde vollständig veränderte. Durch die großen Umwälzungen sind die Berge und Meere heute anders gestaltet als zu jenen Zeiten. Seitdem leben die Seelen der sündigen Atlanter, welche durch die Katastrophe plötzlich hinweggerafft wurden, hier in diesem geistigen Gegenstück ihres Landes und führen noch immer dasselbe schlimme Leben.“

„Gibt es denn keine Rettung für sie?“ fragte ich und drängte mich unwillkürlich näher an Uparnissur heran.

„Jeder Mensch kann erlöst werden, mein Freund. Das hängt nur von seiner Reue ab. Wenn diese unglücklichen Seelen Mitleid für ihre einstigen Gegner empfänden und die hohen Kräfte um Hilfe bäten, würden auf der Stelle hilfreiche Geister zu ihnen gesandt, die sie aus Dunkelheit und Leid erretten würden. Komm, laß uns höher hinaufsteigen, denn hier ist die Heimat der Sünde. Ich hielt mich nur deshalb mit dir dort auf, weil es deinem Wunsch entsprach. Habe ich dir nicht bereits gesagt, daß hier ein Wunsch gleichbedeutend ist mit seiner Erfüllung?“

„Du hast mir auch gesagt, daß im ersten Ring der ersten Sphäre die Triebtäter leben. Und jetzt sind wir unter den Mördern von Atlantis. Stehen sie denn höher als die Sklaven der Sinne?“

„In der Tat, Ti-Tonisa. Die erste Sphäre des ersten Ringes wird von Seelen bewohnt, die ihren schöpferischen Instinkt dazu benutzten, den Tempel ihres Körpers durch Hurerei zu beschmutzen. Dort leben auch solche, die ihre Eltern töteten. Dann folgen die Mörder, die Räuber, die Selbstmörder, die Gottlosen, diejenigen, die das Gold anbeten und die grausamen, wilden Völker der Wälder. Das traurigste Schicksal von allen erleiden vielleicht jene unglücklichen Geister, die ihr Leben, jenes große Geschenk Gottes, mit eigenen Händen fortwarfen. Die Selbstmörder sind solange an ihr Grab gebunden, bis die ihnen vorbestimmte Lebensspanne abgelaufen ist. Sie erleben jeden Augenblick der Auflösung und des Verfaulens ihres Leibes.

Stell dir das so vor: Jeder Ring der feinen Welt über der Erde besteht aus einer kreisförmigen Kette von sieben Sphären oder Ebenen. Die Erde in unserem Sonnensystem verfügt über sieben solcher Ringe. Gerade habe ich dir die sieben Sphären des ersten Ringes genannt. Dort herrschen so dichte Schwingungen, daß sich ein höherer Geist dort so fühlt, wie du dich fühlen würdest, wenn du unter Wasser atmen solltest.“

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