Political Correctness - Die unsichtbare Herrscherin

„Das mächtigste Hirngespinst ist die öffentliche Meinung: Niemand weiß genau, wer sie macht, niemand hat sie je persönlich kennengelernt, aber alle lassen sich von ihr tyrannisieren.“ - Johann Wolfgang von Goethe

Treffender als Goethe könnte man kaum umschreiben, was nicht nur im 18. Jahrhundert offenbar Richtungsgeber für die Gesellschaft war, sondern was heute noch bestimmt, wie wir denken und wie wir uns äußern: Die öffentliche Meinung. Wie eine unsichtbare Hand schwebt sie über uns und scheint uns so zu lenken, dass wir uns als Kollektiv in eine bestimmte Richtung bewegen. Dieser Mainstream scheint nahezu jeden Teil der Gesellschaft auf seinem Weg mitzureißen und keiner weiß so recht, wo er herkommt und wo er hingeht.

Doch was hat es auf sich mit dem Mainstream, dem die Mehrheit folgt? In den 1950er Jahren hat der Sozialpsychologe Solomon Asch mit einem einfachen Versuch das Funktionsprinzip dieses Phänomens eindrucksvoll aufgezeigt: In einem geschlossenen Raum wurden Personen, die zusammen als Gruppe an einem Tisch saßen, eine Referenzlinie und drei weitere aufgemalte Linien gezeigt. Aufgabe der Versuchspersonen war es, unter den drei Linien jene zu identifizieren, welche die gleiche Länge wie die Referenzlinie hatte, und ihre Einschätzung vor der Gruppe laut zu bekunden. Was einer der Probanden nicht wusste: Alle anderen Versuchsteilnehmer waren eingeweiht und sollten absichtlich die falsche Linie wählen und ihre vermeintliche Einschätzung selbstsicher verkünden. Als schließlich der uneingeweihte Proband an die Reihe kam, war ihm seine Zerrissenheit deutlich anzusehen. Er traute seinem Verstand nicht mehr: Irrte er sich oder irrten sich die anderen? Er war sich doch sicher, dass eine andere Linie die gleiche Länge hatte – und nicht jene, welche die anderen Versuchsteilnehmer scheinbar so sicher als gleich lang identifizierten. Nach einigem Ringen mit sich selbst, schloss er sich schließlich dem Urteil der anderen an und wählte wider besseren Wissens die falsche Linie aus.

Warum wir uns von der öffentlichen Meinung tyrannisieren lassen.

"Wenn die Völker keinen Tyrannen haben, tritt die öffentliche Meinung an ihre Stelle!" - Edward George Earle Lord Bulwer-Lytton

Nun fragen wir uns natürlich berechtigterweise: Warum tat er das und blieb nicht seiner eigenen Wahrnehmung treu, derer er doch eigentlich so sicher war? Entscheidend hierbei wird wohl gewesen sein, dass die Versuchspersonen ihre Meinung in der Öffentlichkeit bekunden mussten. Auch in den nachfolgenden Versuchen sind die uneingeweihten Probanden stets der lauten Einschätzung der Mehrheit gefolgt. „Wie könnte es auch sein, dass sich die Mehrheit bei so einer einfachen, logischen Frage irrt?“, rechtfertigten sie ihre Entscheidung – obwohl ihr gesunder Menschenverstand ihnen etwas ganz anderes sagte. Der eigentliche Grund für ihre offenkundige Fehleinschätzung war ihr Wissen um die Tatsache, dass sich jeder, der von dieser mehrheitlichen Meinung abweicht, zwangsläufig von der Gruppe abtrennt und alleine dasteht. Er würde sich selbst zu einem Sonderling und Ausgestoßenen machen.

Die Angst der Herdentiere

Nun beteuert kaum jemand gerne, dass er dem Druck dieser Angst unterliegt. Theoretisch gesehen empfindet sich fast jeder als so stark, die eigene Überzeugung stets nachdrucksvoll vertreten zu können – und kein Mitläufer der Mehrheit zu sein. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dieses Ideal schon immer nur selten erfüllt worden ist. Vielleicht liegt es daran, dass wir, wie schon Aristoteles aufzeigte, „Herdentiere“ sind, die ihr (Über-)Leben nur als gesichert erachten, wenn sie Teil der Gruppe sind. Denn schon seit jeher war die Existenz des Einzelnen nur durch das Zusammenleben in Gemeinschaften gesichert. Ein autarkes Leben in Einsamkeit ist damals – wie auch heute! – kaum möglich gewesen. Die Menschen sind allein aufgrund der Struktur ihres Zusammenlebens „politische Wesen“. Der Begriff „Politisch“ ist hierbei angelehnt an die ursprünglichen griechischen Poleis, den Stadtstaaten im antiken Griechenland, in denen die Menschen ein Leben in Zusammenschlüssen mehrerer Dörfer pflegten, um den Mangel des Einzelnen zu überwinden. Um ein ordentliches Mitglied in diesen Personenverbänden zu sein, war der Status der sozialen Stellung essenziell. Wer sich am Rande der Gruppe bewegte oder gar von ihr verstoßen wurde, konnte sich nicht mehr auf die Rückendeckung der gemeinschaftlichen Stärke berufen. Er war folglich schwach und auf sich alleine gestellt. Diese Furcht vor Schande in der Gemeinschaft beschrieben Aristoteles und Platon daher als eine Art sozialen Katalysator, welcher sicherstellt, dass der Personenverband zusammengehalten wird – indem abweichende Handlungen mit Isolation bestraft werden. Das hat zur Folge, dass der Einzelne aus Existenzangst der Mehrheit folgt, um so die eigene Zugehörigkeit zur überlebenswichtigen Gemeinschaft zu sichern. Feste Verankerung im staatlichen Zusammenleben fand dieser Mechanismus im 5. Jahrhundert v. Chr. mit den „ungeschriebenen Gesetzen“ (agraphoi nomoi), die das Zusammenleben regelten. Sie waren ergänzend zu den geschriebenen Gesetzen (nomoi) eine wesentliche Instanz, um die Strukturen des Staates aufrechtzuerhalten. Als eine Art Normenkatalog legten sie fest, wie man sich innerhalb der Gruppe zu verhalten hatte und welche Handlungen mit Anerkennung oder Strafe abgegolten wurden.

Die Öffentlichkeit als Urteilsinstanz

Dem Streben nach Einbindung in die Gruppe liegt jedoch nicht nur das physische Überleben zugrunde. Der amerikanische Psychologe und Philosoph William James zeigte eine noch tiefer gehende Dimension auf: „Wir sind nicht nur Herdentiere, die sich nicht gerne weit von der übrigen Herde entfernen, sondern wir haben auch eine angeborene Vorliebe dafür, von unseren Nebenmenschen beachtet, und zwar im günstigen Sinne beachtet zu werden.“1 Ein Leben in Einklang mit der Gruppe ruft demnach gute Gefühle und Befriedigung hervor, eine Unterscheidung von der Gruppe wird als unbequem und unbehaglich empfunden. Dieses Unbehagen wird umso schmerzlicher erfahren, je größer die umstehende Gruppe ist und öffentliche Kenntnis von einer möglichen Normübertretung hat.

Was im privaten Bereich noch ohne Konsequenzen bleiben mag, nimmt daher im öffentlichen Raum völlig andere Ausmaße an: Der Gepeinigte fühlt sich von jedem einzelnen umstehenden Augenpaar kritisch beäugt und ausgegrenzt. Das Paradoxe daran ist, dass alle zusammen im Kollektiv mit dem Ausschluss drohen, vor dem sich jeder Einzelne fürchtet. Jeder tut damit im Grunde genau das, was keiner, also auch er selbst, gerne möchte: Von den anderen gebrandmarkt und isoliert zu werden. Jeder tritt als jedermanns Wächter auf und ist allzeit bereit, Normabweichungen bloßzulegen. Die Mehrheit schließt sich so zu einer kollektiven Urteilsinstanz zusammen, die man auch public eye nennt: Das öffentliche Auge, das immer wachsam ist, um jederzeit zuschlagen zu können. Doch wenn keiner diese öffentliche Verurteilung möchte, wenn jeder weiß, wie schmerzhaft es ist, ausgegrenzt zu werden – warum handeln wir Menschen dann so oft danach? Die Antwort ist erschreckend simpel: In dem Moment, in welchem ich einen anderen anklage, wird die unangenehme Aufmerksamkeit der Umstehenden zuerst auf diesen gelenkt. Diese Umstehenden schließen sich in einer solchen Situation bequemerweise erst einmal der richtenden Gruppe an. Denn das menschliche Ego zeigt natürlich lieber mit dem Finger auf andere als auf sich – und entgeht so der unangenehmen Beachtung der anderen.

Quellenangaben

  • 1 William James: Psychologie. Leipzig 1909, S. 177