Reinkarnation ist keine Wiedergeburt!

Der Autor dieses Artikels hat die frühchristlichen Lehren der Kirchenväter ebenso studiert wie die östlichen Weisheitsreligionen. Im Okzident wie auch im Orient wußte man nicht nur um die Tatsache, daß jeder Mensch viele Erdenleben durchläuft, sondern auch, daß er eines Tages an den Punkt seiner Wiedergeburt kommen wird. Doch was genau bedeutet das?

Sollten Sie Ihren Nachbarn, Freund oder Kollegen fragen, was diese unter Wiedergeburt verstehen, werden Sie über die Vielfalt der Antworten überrascht sein. Wenn man Sie nicht verständnislos wie einen halb Irren anschaut, könnten diese Antworten reichen von der völligen Ablehnung über gläubige Überzeugung bis hin – wenn Sie Glück haben – zur wohlbegründeten Erkenntnis.

 Schaut man in die Evangelien, dem biblischen Kernbereich für den christlichen Glauben, dann ist zunächst einmal zu unterscheiden zwischen Reinkarnation und Wiedergeburt. Ja, ist das denn nicht dasselbe, wird man Sie fragen. Keineswegs!

 In der Schule Platons1 begann der philosophische Unterricht – damals umfaßte die Philosophie noch alle Wissenschaften – meist mit einer Diskussion über den Inhalt der Begriffe. Kommt man nicht überein, was mit welchem Wort tatsächlich gemeint ist, sind Mißverständnisse an der Tagesordnung. Diese Schule bestand von 327 v. Chr. bis 529 n. Chr. Sie hat viel beigetragen zum Verständnis der Botschaften aus den Engelreichen (= Evangelien). Wie, geht es beim Christentum nicht um den Glauben? Was hat Philosophie mit dem Glauben zu tun? Nun ja, die Kirchen haben ihren Schäfchen das Denken in Glaubensdingen abgewöhnt, halten es oft sogar für schädlich. Viel lieber reden die Priester vom „Mysterium des Glaubens“. Die kirchliche Gemeinde soll glauben, nicht verstehen.

 Der Glaube aber taugt wenig, indem nicht zuvor in rechter Weise versucht wurde, zu erkennen. Wer die Forderung der Evangelien, danach zu streben, den Christus zu erkennen (vgl. z. B. Joh. 17,3), ernst nimmt, wird nicht umhin können, diesen ersten Schritt der Begriffsklärung zu gehen.

Die Reinkarnation

Ist Jesus wirklich der Erlöser?

„Niemand kommt zum Vater als durch mich“: Ist Jesus tatsächlich der alleinige Erlöser, für den ihn die meisten Christen halten?

Reinkarnation war zu jener Zeit für die meisten Menschen Palästinas etwas Selbstverständliches. Mag das in den Evangelien etwas zurückgedrängt worden sein durch spätere Korrekturen und Streichungen in den kanonischen Texten, so ist es doch nicht gelungen, die Tatsache der Reinkarnation ganz daraus zu eliminieren.2 Das zeigt sich beispielsweise in den sogenannten Sadduzäergesprächen und ihrer Frage nach der Auferstehung (vgl. z.B. Markus 12,18-27). Daß es damals eine Sekte gab, die die Auferstehung (gemeint ist dort die Reinkarnation) leugnete – das war ihr einendes Kennzeichen –, zeigt deutlich, daß dieses Leugnen eben nicht gängige Überzeugung war.

Ein anderes Beispiel: Der Christus Jesus sagt in Matthäus 11, 13-14: „Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis auf Johannes. Und (so ihr’s wollt annehmen) er ist Elia, der zukünftig sein wird.“ Jesus machte also den Jüngern klar, daß sein Zeitgenosse Johannes der Täufer in einem früheren Leben bereits als Prophet Elia in die Welt gekommen war. Deutlicher kann man nicht von Reinkarnation sprechen, auch wenn es sich hier um die Wiederverkörperung eines Propheten handelt. Andere Hinweise könnten ebenso genannt werden, wie etwa die Heilung des Blindgeborenen, als die Jünger Jesus fragten, weshalb ein bestimmter Mann von Geburt an blind sei: „Wer hat gesündigt, er selbst oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde?“ Hierbei tritt das Wissen um Reinkarnation und Karma offen zutage: Wenn man von Geburt an blind ist, muß die selbstverschuldete Ursache dafür logischerweise in einem früheren Erdenleben liegen. Die ganze Episode kann man im Johannes-Evangelium nachlesen (Kap. 9, Vers 1-9).

Reinkarnation ist, wie der lateinische Ursprung re-incarnare schon sagt, das aus der Geisteswelt „Wieder-ins-Fleisch-treten“ der Seele und des Geistes, also das Zurückkommen in die irdische Welt, und zwar mit all ihrem Gepäck – wozu wir gewöhnlich Schicksal oder Karma sagen. Schicksal umfaßt dabei: den Geburtszeitpunkt und -ort, die geschichtliche Situation in der Menschheitsentwicklung, die kosmische Konstellation, das Hineingeborenwerden in eine bestimmte Familie mit ihrem genetischen Fundus, dem seelischen und sozialen Umfeld, die in Vorinkarnationen erworbenen Fähigkeiten in entsprechenden Anlagen (Begabungen) und die körperliche Konstitution. Das alles ist abhängig von unseren Gedanken, Worten und Taten und unserer Gesinnung in Vorinkarnationen. Reinkarnation ist, so gesehen, ein göttliches Geschenk, das wir zu unserer Weiterentwicklung nutzen dürfen.

Um nicht mißverstanden zu werden: Nicht in jedem Karma steht geschrieben, man solle sich auf einem Schulungsweg dem Christus nähern, wiewohl Ansätze dazu für uns und andere immer wohltuend sind. Früher oder später indes wird jeder Mensch daran gehen müssen, den Christus im Innern, das eigentliche Menschheitsziel, zu entwickeln. In einer bestimmten Inkarnation kann es aber durchaus sein, daß ganz andere Aufgaben gestellt werden oder Lebenswege, die nicht unmittelbar zur Erkenntnis des Christus beitragen, sondern zum „Abrunden“ des Erfahrungsschatzes des eigenen Ich auf einem sehr weltlichen Felde.

Reinkarnation im Osten

Bhavacakra – das Rad des Lebens oder der Wiederverkörperung: Für die östlichen Weisheitsreligionen ist Reinkarnation eine fundamentale Tatsache.

Das Ich meint hier die Individualität des Menschen in der geistigen Welt, die sich über die Inkarnationen hinweg entwickelt. Die Persönlichkeit – im Unterschied zur Individualität – des Menschen ist die „Maske“, so die Bedeutung des Wortstammes, unter der wir uns im physischen Leben entwickeln, die im Tode abgelegt wird, damit neues Leben entstehen kann.

Angemerkt sei, daß es hier häufig Mißverständnisse gibt. Wir sind in der physischen Welt immer auch mit der geistigen Welt verbunden. Die geistige Welt „trägt“ die physische und durchdringt sie bis in die feinsten Verästelungen hinein. Wer das nicht anerkennen will, wie die katholische Kirche, die meint, mit dem Tode der Persönlichkeit gehe der Mensch unter, könne nur am Ende der Tage „auferstehen“, und zwar in dem leiblichen Kleide, das er beim Tode trug (!), der widerspricht auf brutale Weise den Evangelien und den Paulusbriefen. So schrieb Paulus in seiner Ermahnung an die Korinther: „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben“ (1. Kor. 15,50).

Die Wiedergeburt

Wenn wir die Reinkarnation so auf ihren Grundinhalt – nämlich die Wiederverkörperung im Fleische – abgegrenzt haben, bleibt die Frage: Was ist dann Wiedergeburt? Da der Mensch auf Entwicklung (Evolution) angelegt ist, folgt daraus, daß wir das Geschenk der Reinkarnation für unsere seelisch-geistige Höherentwicklung nutzen sollten. Wiedergeburt ist, wenn man es recht betrachtet, harte und konsequente Arbeit an uns selbst und zwar einer Arbeit, die zu einem Wiedergeborenwerden im Christus während unseres irdischen Seins führt. Das mag zunächst einmal schwer verständlich sein, wird aber im weiteren Text klarer werden.

Die oben erwähnte Schulung des Menschen, um ihn zum Einblick in geistige Welten zu führen, hat gewöhnlich die Abfolge: Vorbereitung, Erleuchtung und Einweihung. Sie gilt grundsätzlich für alle Mysterien, auch nichtchristliche. Pythagoras (ca. 570 bis 500 v. Chr.) beispielsweise unterteilt in seinen Goldenen Versen in Vorbereitung, Reinigung und Vervollkommnung,3 Die Evangelien beschreiben mehrere Wege, wie man sich dem Christus nähern und schließlich bewußt mit ihm vereinen kann. Beispiele: Das Hineinleben in die sieben „Ich-bin-Worte“ des Johannesevangeliums, das Durchleben der Inhalte der Bergpredigt, das Durchleiden der Passion Jesu Christi in den sieben Stufen: Fußwaschung, Geißelung, Dornenkrönung, Kreuzigung, mystischer Tod, Grablegung und Auferweckung und Himmelfahrt.4

Gut, das kann man aus den Evangelien ableiten, wenn man sie einfühlsam liest. Aber ist die Wiedergeburt denn auch direkt in den Texten angesprochen?

Quellenangaben

  • 1 Platon, antiker Philosoph (428–348 v. Chr.)
  • 2 Mehr dazu erfahren Sie in der ZS 39, ab Seite 22: Die 16 fundamentalen Irrtümer der Kirche
  • 3 siehe Fabre d’Olivet, Die goldenen Verse des Pythagoras, Schwarzenberg/Schweiz 1979
  • 4 Siehe dazu z.B. Rudolf Steiner, Das Johannes-Evangelium, GA 103, S. 190ff.