Sucht – die Umkehrung der Lebensgesetze: Gespräch mit einem Drogentherapeuten

Wie hilft man einem Drogensüchtigen wirklich? Indem der Staat ihm die Droge abgibt, oder durch den harten und oft erfolglosen Weg des Entzugs? Welche geistigen Phänomene begleiten die Sucht? In unserem Gespräch beleuchtet Drogentherapeut Johannes Middelhoff die verschiedenen Aspekte dessen, was nach wie vor eine Bedrohung für unsere Jugend darstellt. Was ihn von den meisten anderen Therapeuten unterscheidet, ist sein Bewusstsein, das sich nicht vor den geistigen Aspekten des Menschen verschließt.

Die Schweiz erntet gegenwärtig vom Ausland viel Beachtung und auch Lob für ihre fortschrittliche Drogenpolitik der kontrollierten Heroinabgabe. Teilen Sie diese Zustimmung?

Johannes Middelhoff: Nein. Die kontrollierte Heroinabgabe hat sicher den Effekt, daß sie stabilisierend wirkt, weil der Beschaffungsstreß entfällt. Sie hat allerdings verschiedene Nebeneffekte.

Und die wären?

Ein Mensch, der häufig Betäubungsmittel konsumiert, lebt praktisch in einem konstanten Rauschzustand. Seine Wahrnehmung der Realität wird durch den Filter der Droge verzerrt. Ein 14jähriger, der beispielsweise während zehn Jahren Drogen konsumiert, verzögert dadurch seine Entwicklung nachhaltig. Die schrittweise Annäherung ans andere Geschlecht findet nicht in der üblichen Form statt. Möchte er dann mit 24 Jahren aus der Droge aussteigen und eine Therapie beginnen, bedeutet dies, daß sein 24jähriger Körper nicht die psychosexuelle Entwicklung hinter sich hat, die seinem Alter entspräche. Er hat sehr viele unstrukturierte, unsichere Gefühle, quasi einen Entwicklungsstand von 14 mit einem Körper von 24 Jahren. Dasselbe zeigt sich im Beruf, wo kaum ein Süchtiger eine Berufsausbildung abgeschlossen hat. Auch hier hatte er kaum die Möglichkeit, sich Kompetenzen anzueignen.

Hört jemand mit dem Drogenkonsum im Alter von Mitte zwanzig auf, so sind diese verpaßten Erfahrungen teilweise noch nachholbar. Wird jedoch diese Suchtphase verlängert – und jede Liberalisierung der Drogenabgabe hat tendenziell eine Verlängerung derselben zur Folge – so kommt der Wille zum Ausstieg vielleicht erst zwischen dreißig und vierzig. Ihre gesellschaftlichen Partizipationschancen sind dann aber sehr stark vermindert. Im Alter von 30 bis 40 können die verpaßten Entwicklungsschritte nur mehr sehr schwer nachvollzogen werden. Aus einer möglichen sozialen und beruflichen Integration wird dadurch ein dauernder Sozialfall.

Wie ist das ‘klassische' Beziehungsverhalten eines Süchtigen?

 Liebesbeziehungen im wahren Sinne des Wortes sind für einen Schwerstsüchtigen nicht möglich. Je länger die Drogenkarriere dauert, desto mehr fokussiert sich das ganze Leben nur noch auf die Droge. Sämtliche anderen Aspekte werden Stück für Stück ausgeblendet. Die Süchtigen unternehmen dann Dinge, die sie vordem niemals für möglich gehalten hätten: Da werden Mütter bestohlen, Väter betrogen, Großväter ausgenommen, Handtaschen geklaut etc. Der Trieb nach der Droge ist dermassen überwältigend, daß praktisch jedes Mittel recht ist, ihn zu befriedigen.

Die Abhängigkeit wächst in einem Maße, wie man sich das als Nichtsüchtiger nur schwer vorstellen kann.

Im Innern des Süchtigen bildet sich im Laufe der Sucht eine Instanz, welche im Jargon der Suchtarbeiter bisweilen ‘Suchtschwein' genannt wird. Dieses ‘Suchtschwein' will um jeden Preis Drogen konsumieren, und es schreckt vor wenig zurück, um zur Droge zu kommen. Im Laufe der Suchtphase wird dieses ‘Suchtschwein' immer stärker entwickelt, so daß es am Schluß fast ganz von der Person des Süchtigen Besitz ergreift.

Haben Sie schon einmal erlebt, daß ein Süchtiger gar nicht so glücklich war darüber, daß man ihm seine Sucht weiterhin ermöglicht?

Das denke ich nicht! (Lacht.) Der Süchtige ist sehr froh, daß er Drogen konsumieren kann. Süchtige, die an einem Methadonprogramm teilnahmen, sagten mir praktisch unisono, das Methadon sei prima, um den ‘Boden' zulegen, auf dem man dann das, was ‘wirklich was bringt' – die ‘Heroinkicks' – draufsetzen kann. Das wird beim Heroinprogramm nicht viel anders sein. Es stillt gewissermaßen das Grundbedürfnis, beruhigt den Suchttrieb. Braucht's noch was zusätzliches, kann man sich das noch privat besorgen.

Da der Süchtige sein ‘Suchtschwein' befriedigen muß, ist er natürlich froh darüber, daß der Staat ihm dabei hilft, und die Motivation, mit dem Drogenkonsum aufzuhören, wird höchstwahrscheinlich schwächer werden, weil alle negativen, stressigen Begleiterscheinungen der Sucht eliminiert sind.

Was ich nicht verstehen kann: Jeder weiß doch, wozu Heroin führt. Auch in den Schulen wird aufgeklärt. Was treibt die Jugendlichen dann dazu, es eben doch zu probieren?

 In unserer Kultur hat Adoleszenz immer mit dem Überschreiten von Grenzen zu tun. Es geht also eher um die Frage, warum jemand Heroin nimmt und die alterstypische Grenzüberschreitung nicht auf andere Weise begeht. Ein Motiv für den Drogenkonsum ist natürlich eine erhoffte Bewußtseinsveränderung. Kokain regt an, führt zu klarerem und schärferem Denken, aber auch zu einer Verarmung der Gefühle. Heroin wiederum macht unempfindlich, ist entspannend, vermittelt dem Süchtigen eine gewisse Wärme.

Man sollte sich also fragen, weshalb der Jugendliche diese Entspannung und Wärme in der Droge sucht. Empfindet er die Welt, in der er lebt als schwierig, problematisch, feindlich und kalt, ist die Flucht in die Droge vielleicht verlockend. Lebt der Jugendliche hingegen in einer Welt, in der er sich geborgen und zufrieden fühlt, in der er seinen Platz hat, ist die diesbezügliche Wahrscheinlichkeit wesentlich geringer.

Solange der Staat die Droge zur Verfügung stellt, können sich Süchtige also entscheiden, das ganze Leben auf ‘Heroin-Wolke 17' zu verbringen?

Das können sie – im Extremfall – bis hin zum goldenen Schuß. In meinen zahlreichen Gesprächen mit Süchtigen versuchte ich aber immer, ihnen klarzumachen, daß es ein künstlicher Weg ist, den sie beschreiten; ein Weg, der nie völlige Befriedigung bringt und mit Zerstörung einhergeht und mit Zwanghaftigkeit. Ich sagte ihnen, ‘Hör mal, was Du erlebst, erlebe ich auch – aber durch Meditation.' Der Unterschied liegt darin, daß ich das nicht kaufen kann, sondern mir über Jahre erarbeiten muß. Doch sind die Zustände, die ich damit erreichen kann, nicht an etwas äußeres gebunden. Ich habe sie mir erworben und kann sie wieder erleben, ohne negative Nachwirkungen und Abhängigkeiten.

 Man liest ja auch oft, daß die Drogentrips mit zunehmender Gewöhnung immer schaler werden, also das ursprünglich Erlebte nicht wirklich wieder erreicht werden kann.

Alles was zwanghaft wird, wird automatisch schaler. Auch ein Workoholic empfindet kein Vergnügen an der Arbeit. Zwanghaftigkeit verunmöglicht wirkliche Befriedigung und Erfahrung. Wirkliche Erfahrung kann nur in Freiheit erfolgen. Darin liegt das große Problem. Die kontrollierte Heroinabgabe nimmt diese Zwanghaftigkeit als etwas natürliches hin, der Süchtige soll damit leben und der Staat das ganze noch finanzieren. Es ist die absolute Umkehrung der Vernunft.

Kommen wir zu etwas anderem, diesen Endlos-Tanzveranstaltungen, auf denen viele Jugendliche Drogen wie Ecstasy einnehmen. Worin liegt da die Motivation? Und betrachten sie dies als harmloser als den Konsum von harten Drogen?

Zur Technomusik kann ich nur sagen, daß sie meine ganzen Chakras und Energien durcheinanderbringt. Nach Technomusik kann ich kein richtiges Wort mehr schreiben, ich kann mich beim Lesen nicht mehr konzentrieren – es bringt mich völlig durcheinander. Wenn ‘meine' drogensüchtigen Jungs Techno-Musik hörten, war nachher der Teufel los. Zwanzig Minuten Techno-Sound, und sie haben sich fast geprügelt, ich wurde angemacht, das ganze Klima war aggressiv aufgeladen.

 Ich sehe in diesen Veranstaltungen auch eine der Folgen der Veräußerlichung unserer Kultur. Statt auf unsere innere Stimme zu hören, lernen wir, der Erscheinung, dem Mammon, dem Status zu huldigen. Dabei könnte gerade das pubertäre Stadium anders verlaufen. Man könnte Jugendliche anleiten, mehr auf ihr Inneres zu hören und danach zu handeln.

Leserstimmen zum Artikel

Ihre Artikel über Drogen sind bemerkenswert, außerordentlich aufschlußreich und interessant. Ich habe noch nie Abhandlungen gelesen, die so gut auf die physischen und psychischen Konsequenzen und Probleme hinweisen, die durch den Konsum der verschiedenen Drogen entstehen können.

C. M., CH-Zürich