Blutegel: Wurm mit Biss!

Die Hirudotherapie – das Kurieren von Beschwerden mithilfe von Blutegeln – wird von Heilkundigen seit Jahrtausenden praktiziert und hat ihren Weg sogar in die moderne Medizin gefunden.

Der Egel saugt sich fest und beißt mit seinen 240 Zähnen zu. Da er ein Schmerzmittel abgibt, spürt man aber nicht viel davon.

Es war im 19. Jahrhundert, als man in ganz Europa Jagd machte auf ein Tier mit zweiunddreißig Gehirnen, fünf Augenpaaren und drei Kiefern mit 240 messerscharfen Zähnen, die selbst die zähe Haut von Rindern spielend leicht durchtrennen konnten, um an das begehrte Elixier zu gelangen, von dem es sich ernährte: Blut. Vor allem auf dem Land war das für viele Familien eine einträgliche Tätigkeit. Und in der Tat ist dieses Tier heute in freier Wildbahn in Europa praktisch ausgestorben.

Änderung des Schauplatzes: Wir befinden uns nun im Jahr 2019, „Tatort“ ist der internationale Flughafen Toronto Pearson in Kanada. Ein Spürhund der Grenz- und Zollbehörde hat angezeigt, dass sich im Gepäck eines aus Russland eingereisten Mannes wohl Schmuggelware befindet. Als die Beamten die Koffer untersuchen, werden sie fündig. Sie entdecken eben jene Tiere, die im vorletzten Jahrhundert auf dem alten Kontinent gnadenlos gejagt wurden. Und es handelt sich nicht etwa nur um ein oder zwei Exemplare, nein, es sind fünftausend Stück! Der Mann gibt an, dass er mit dem Wasser, in dem er die Tiere transportierte, seine Orchideen habe düngen wollen. Sehr wahrscheinlich wollte er sie aber zu klingender Münze machen, immerhin hätte er pro Stück rund zehn Dollar gekriegt. Dem Mann wird jedenfalls der Prozess gemacht, die Tiere werden konfisziert.

Doch nun steht die Zollbehörde vor einem größeren Problem. Wohin mit den Tieren? Aussetzen geht nicht, da es sich nicht um eine einheimische Tierart handelt, töten auch nicht, da sie unter Schutz stehen. Dazu sind sie sehr pflegeintensiv: Das Wasser in den Behältnissen muss regelmäßig gewechselt werden, zudem büxen die Viecher aus, sobald sich auch nur ein millimetergroßer Spalt in ihrem Gefängnis auftut, und das ist schnell der Fall, müssen in den Deckel der Gläser doch Luftlöcher gestochen werden. Fünfzig Exemplare wird die Behörde an das Royal Ontario Museum los. Immerhin Tausend von ihnen finden nach einer Menge Papierkram ein neues Zuhause im American Museum of Natural History in New York. Irgendwann hat sich vielleicht auch für die restlichen Exemplare, die bei guter Haltung immerhin dreißig Jahre alt werden können, eine Lösung ergeben.

Dass dieses Tier, dessen Beschreibung vor dem inneren Auge das Bild eines wahren Monsters heraufbeschwört, dennoch nicht besonders groß sein kann, haben Sie bestimmt schon herausgefunden. Tatsächlich handelt es sich bei diesem zahnbewehrten „Untier“ um einen höherentwickelten Verwandten des Regenwurms, einen Ringelwurm, genau genommen: den Blutegel. Die Bezeichnung „Egel“ stammt vom griechischen Wort „echis“, was „kleine Schlange“ bedeutet. Nicht ganz zufällig klingt Egel ganz ähnlich wie Ekel, denn die meisten Menschen finden die kleinen Schleimer nicht gerade putzig, sondern grausen sich vielmehr vor ihnen.

Vielleicht fragen Sie sich nun aber, warum unsere Vorfahren einen Wurm so gnadenlos verfolgten, dass er heute unter Artenschutz gestellt ist? War es Angst, war es Aberglaube? Nein, dem Blutegel wurde vielmehr seine Heilwirkung zum Verhängnis. Schon vor dreitausend Jahren wussten die Heilkundigen in Mesopotamien, dass eine Therapie mit diesen unscheinbaren Tierchen bei vielen Beschwerden Linderung verschaffen konnte. Auch die alten Ägypter, Inder, Chinesen, Araber, Angelsachsen, Griechen und Römer schworen auf seine Heilkraft, was die Blutegeltherapie zu einem der ältesten Heilverfahren in der Menschheitsgeschichte macht. Den Boom, der die Egel Kopf und Kragen kostete, hat vor allem der französische Mediziner François Broussais ausgelöst. Er war der Ansicht, dass alle Krankheiten auf Entzündungen zurückzuführen seien, und deshalb verschrieb er Blutegel quasi in rauen Mengen. Allein in Frankreich wurden damals pro Jahr rund sechzehn Millionen Blutegel „verbraucht“, setzte man Patienten pro Behandlung doch bis zu hundert Tiere an. Damit übertrieb man es allerdings gewaltig, denn durch diese Rosskur verbluteten viele der Kranken.

Ganz falsch lag Broussais dennoch nicht, denn heute kann die moderne Medizin nachweisen, dass und warum der Blutegel für den Menschen (aber auch in der Tiertherapie) ein Segen sein kann. Der Biss des Blutegels sieht aus wie ein kleiner Mercedes-Stern. Das liegt daran, dass im Maul des Blutegels sternförmig drei „Sägeleisten“ mit je achtzig Kalkzähnen angelegt sind. Zwischen diesen Zähnchen befinden sich jeweils Öffnungen, durch welche Speichel in die Wunde abgegeben wird. Was eklig klingt, ist tatsächlich heilsam. Der Blutegel ist nämlich kein Parasit, der seinen Wirt vampirartig seines Lebenssaftes erleichtert, sondern er geht mit dem Gebissenen vielmehr eine Symbiose ein, ein gegenseitiges Nutzungsversprechen also. Der „Deal“ heißt Nahrung, sprich Blut, gegen Medizin.

Im Speichel des Blutegels gibt es nämlich mehr als hundert Substanzen, von zwanzig derselben weiß man unterdessen, dass sie nachweisbar arzneilich wirksame Inhaltsstoffe enthalten. (An den übrigen Substanzen wird immer noch geforscht, da könnten sich für die Medizin der Zukunft durchaus noch Überraschungen ergeben.)

Diese Stoffe wirken unter anderem schmerzstillend, entzündungs- und gerinnungshemmend oder auch antimikrobiell. Sie tragen komplizierte Namen wie Hyluronidase, Calin, Bdellin, Destabilase, Apyrase, wobei dem entzündungshemmenden Eglin und Hirudin, welches die Blutgerinnung hemmt, die größte Bedeutung zukommt. Prof. Dr. Andreas Michalsen, Naturheilkundler und Chefarzt im Berliner Immanuel Krankenhaus, nennt Hirudin „das stärkste beschriebene gerinnungshemmende Protein, das es gibt“.

Ein wichtiges Einsatzgebiet der Blutegeltherapie ist daher die plastische Chirurgie. Wenn nach Unfällen die Durchblutung in verletzten Gliedmaßen oder der Haut wiederhergestellt werden muss, kommt der Blutegel zum Einsatz.