Kaizen: Der Pfad der kleinen Schritte

Die japanische Philosophie des Kaizen räumt mit dem Mythos der Schwierigkeit von Veränderungen ein für alle Mal auf. Durch sie wird aus der Bergbesteigung ein fast müheloser Spaziergang.

Bei jeder Silvesterfeier nehmen sich Millionen Menschen vor, im neuen Jahr etwas in ihrem Leben zu verändern – und versagen jedes Mal kläglich. Es gibt jedoch eine Alternative zur jährlichen Wiederkehr des Scheiterns: Den japanischen Weg des Kaizen. Alles, was Sie dabei tun müssen, ist, gemächlich einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das japanische Wort Kaizen bedeutet „Veränderung zum Besseren“ (Kai = Veränderung, Zen = zum Besseren). Kaizen ist auch ein uralter philosophischer Weg, der sich am besten mit einer Aussage aus dem Tao Te King1 illustrieren lässt: „Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.“

Einfach immer nur einen Fuß vor den anderen setzen – und plötzlich ist man sanft auf einen neuen Weg eingeschwenkt.

Einfach immer nur einen Fuß vor den anderen setzen – und plötzlich ist man sanft auf einen neuen Weg eingeschwenkt.

In unserer westlichen Wirtschaftswelt lautet die Parole jedoch Innovation, und erstrebt wird die maximale Veränderung in einem Minimum an Zeit. Doch nicht immer führt eine solche Strategie zum Erfolg. In der schwierigen Situation Japans nach dem Zweiten Weltkrieg – die Industrie war zerstört und es fehlten Ressourcen für einen schnellen Wiederaufbau – fand sich die Lösung in der Idee des Kaizen: Tägliche kleine Fortschritte und die Verbesserung aller Bedingungen waren das Ziel, das die Ethik des Zen und die Mentalität des japanischen Volkes in sich vereinte.

Die Automarke Toyota machte den Kaizen-Weg nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu zu ihrer Marken-DNS. Einen Toyota kaufte man, weil er von unverwüstlicher Qualität war. Eine der Erfolgsstrategien von Toyota war es, die automatisierten Fertigungsstraßen mit einer Reißleine auszustatten: Wenn ein Arbeiter einen Defekt bemerkte, konnte er an dieser Leine ziehen, und das Fließband hielt an. Jederzeit standen Ingenieure, Zulieferer und Fließbandarbeiter bereit, um das Problem möglichst sofort zu beheben. Die übrigen Autohersteller fanden die Idee absurd, da sie die Grundgesetze der Massenproduktion (unter anderem Schnelligkeit) missachtete. Und doch erwies sich diese Methode als die erfolgreichste beim Autobau, denn das sofortige Beheben kleiner Probleme ließ größere später erst gar nicht entstehen.

2002 setzte sich das Management von Toyota ein anderes Ziel: Der größte Autobauer der Welt zu werden, was schließlich auch gelang. Der Produktivitätssprung hatte jedoch seinen Preis: Die Zulieferer konnten die frühere Qualität nicht mehr aufrechterhalten, und die neuen Fabriken hatten keine Zeit, eine Kaizen-Kultur aufzubauen. Das Ergebnis war, dass über neun Millionen Autos aufgrund von Mängeln zurückgerufen werden mussten, was dem Unternehmen eine Menge schlechter Publicity einbrachte.

Toyota erkannte, dass das Problem darin lag, dass man den Kaizen-Weg verlassen und nur noch aufs große Geld geschielt hatte. Also drosselte man die Produktion und konzentriert sich seither wieder auf Qualität statt Quantität. Und man legt besonderen Wert darauf, dass Probleme in der Produktion dort behoben werden, wo sie noch gering sind und sich leicht lösen lassen, was den Ruf von Toyota bald wieder aufpolieren sollte.

Die Philosophie des Kaizen hat sich inzwischen auch in vielen westlichen Firmen etabliert und zahlreiche Menschen inspiriert. Dr. Robert Maurer ist klinischer Psychologe an der medizinischen Fakultät der University of California in Los Angeles und der University of Washington. Er hatte Kaizen bei seiner Arbeit in Unternehmen kennengelernt und wollte diese Strategie auch für persönliche Wandlungsprozesse adaptieren. Bei seiner Tätigkeit begegnete er vielen Menschen, die ihr Leben wirklich ändern mussten: negative Gewohnheiten ablegen, die eigene Einsamkeit überwinden, einen ungeliebten Beruf aufgeben. „Immer und immer wieder konnte ich beobachten, wie manche Menschen sich tapfer in den Kampf stürzten, um schnell viel zu erreichen. Der Großteil scheiterte. Und diese frustrierten Seelen gaben sich dann meist entmutigt mit den Trostpreisen des Lebens zufrieden, statt ihrer wahren Berufung zu folgen“, schreibt Dr. Robert Maurer in seinem bemerkenswerten Buch „Wie ein kleiner Schritt Ihr Leben verändert – Der Weg des Kaizen“.2

Die Geschichte von Julie

Julie kam ins medizinische Zentrum der University of California, weil sie hohen Blutdruck hatte und unter Erschöpfung litt. Dr. Maurer aber erkannte schnell, dass da noch mehr dahintersteckte: Sie war geschieden, hatte zwei Kinder, war „ein wenig deprimiert“ und fühlte sich von allem überfordert. Ihr soziales Netz war bestenfalls löchrig und sie hatte große Mühe, ihren Job zu erledigen. Alles Faktoren, die sich auf ihre Gesundheit auswirkten. Sie hatte schon 15 Kilo Übergewicht, die zusammen mit ihrem Dauerstress ihr Risiko für Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten und Depressionen erhöhte.

Statt ihr ein riesiges Fitnessprogramm aufzubürden, das sie in ihrer fragilen Verfassung nicht hätte durchhalten können, bat Maurer sie schlicht, abends vor dem Fernseher eine Minute lang auf der Stelle zu gehen. Julie tat, wie ihr geheißen. Schon bei ihrem zweiten Besuch hatte sich ihre Haltung verändert, und Julie selbst war munterer und zeigte weniger Widerstände als vorher. „Was kann ich noch tun, was nicht länger als eine Minute am Tag dauert?“, fragte sie. So führte Dr. Maurer Julie Schritt für Schritt in ein gesünderes Leben und baute ihre Sportlust Minute für Minute auf. Innerhalb weniger Monate bekam Julie Lust auf ein forderndes Workout – und führte es regelmäßig und voller Begeisterung aus!

Maurer wendete die Kaizen-Technik der kleinen Schritte auch bei anderen Patienten an. „Statt meinen Klienten zuzureden, einen unbefriedigenden Beruf aufzugeben, hielt ich sie an, sich jeden Tag einige Sekunden lang ihren Traumjob auszumalen. Wenn ein Patient weniger Kaffee trinken wollte, fingen wir mit einem Schluck weniger pro Tag an“, so Maurer. Er entdeckte dabei, „dass maßvolle Veränderungen dem menschlichen Geist helfen, mit der Angst fertigzuwerden, die Erfolg und Kreativität blockiert.“ Wie Fahrschüler, die zunächst einfach im Auto sitzen bleiben und sich mit den Instrumenten vertraut machen, um dann immer nur ein paar Minuten am Stück zu fahren, lernen die Klienten von Dr. Maurer in einem sicheren, angstfreien Umfeld, winzige Schritte der Veränderung zu tun. Am Ende sind seine Patienten regelmäßig verblüfft, dass sie ihre Ziele erreicht haben – ohne jede bewusste Anstrengung!

Maurer ist überzeugt, dass der Kaizen-Ansatz eine extrem effektive Methode ist, neue neuronale Verbindungen im Gehirn zu schaffen. Oder wie eine seiner Klientinnen sagte: „Die Schritte waren so winzig, dass ich gar nicht scheitern konnte!“

Um einen kreativen Prozess anzustoßen oder etwas verändern zu wollen, müssen wir uns an den Kortex wenden, jenen Teil des Hirns, in dem das rationale und kreative Denken angesiedelt ist. Meist fühlen wir uns bei anstehenden Veränderungen mehr oder weniger blockiert. Die Ursache dafür liegt in der Amygdala, einer Gehirnregion, die den Kampf-Flucht-Impuls kontrolliert. Nicht nur Gefahren, sondern auch neue Situationen und Herausforderungen versetzen die Amygdala nämlich in Alarmbereitschaft – was Angst auslöst. Diese wiederum vermindert unseren Zugriff auf den Kortex, den rationalen, denkenden Teil unseres Gehirns, und dies ausgerechnet dann, wenn wir ihn am meisten benötigen würden.

Die kleinen Schritte des Kaizen hingegen entschärfen die Angstreaktionen des Gehirns und verhindern damit innere Blockaden. Sie stimulieren vielmehr das rationale Denken und das kreative Spiel. Oder mit den Worten von Dr. Maurer: „Wenn Sie kleine, leicht zu erreichende Veränderungen und Ziele anstreben, so umschleichen Sie die Amygdala auf Zehenspitzen, damit sie geruhsam weiterschläft und nicht die Alarmglocken schrillen lässt. Während Sie dann Ihre kleinen Schritte in aller Stille weiterverfolgen, wird Ihr Kortex aktiv und schafft die Voraussetzung, die Sie für den ersehnten Wandel brauchen: neue Verbindungen zwischen Ihren Neuronen, sodass sich das Gehirn begeistert auf die Wandlung einlässt und Sie plötzlich zügig auf Ihr Ziel zusteuern.“

Wie nun aber können Sie Kaizen ganz konkret auf persönliche Fragen anwenden? Dr. Maurer stellt in seinem Buch insgesamt sechs Kaizen-Strategien vor – die zwei zentralsten schauen wir uns nun etwas genauer an.

Quellenangaben

  • 1 Das Tao Te King ist eine Sammlung von Spruchkapiteln des chinesischen Weisen Lao Tse; dem Begründer des Taoismus.
  • 2 Sie können das Buch über uns beziehen: Der Weg des Kaizen