Kindererziehung: Vom Spiel mit den Grenzen

Die Jugend ist unsere Zukunft – doch von ihrer Erziehung hängt ab, wie diese Zukunft dereinst aussehen wird. Eine Lehrerin von schwer erziehbaren Jugendlichen gibt wertvolle Ratschläge für jede Familie.

Eine neue Fernsehsendung auf RTL begeistert gegenwärtig ein Millionenpublikum. Sie will von schweren Erziehungsproblemen geplagten Eltern helfen und sie dabei unterstützen, ihre Probleme selbst in den Griff zu bekommen. In jeder Folge der Doku-Soap Die Super Nanny zieht Katharina Saalfrank, ausgebildete Diplom-Pädagogin und Mutter von vier Kindern, eine Woche zu einer Familie, die Sorgen mit den Kindern hat. Gemeinsam mit Kindern und Eltern sucht sie nach den Ursachen, erarbeitet individuelle Lösungen und trainiert sieben Tage lang intensiv mit den Betroffenen. Anschließend hat die Familie eine Woche Zeit, die Tips alleine umzusetzen. In der dritten Woche kehrt die ‚Super Nanny' zur Familie zurück, begutachtet das Ergebnis der Erziehungshilfe und zieht ein Fazit.

Da ist zum Beispiel die Familie Wedlich mit den beiden Kindern Katharina (3) und Florian (5). Der Fünfjährige terrorisiert die ganze Familie, schlägt, schreit, spuckt, tritt. Vor allem seine kleine Schwester hat unter den Angriffen zu leiden. Die Eltern haben fast aufgegeben: Wenn sie ihren Sohn bestrafen, wird er noch aggressiver und unberechenbarer. Die ‚Super Nanny' macht Bestandesaufnahme - ihre Schlußfolgerung: Das Problem der Familie liegt weniger beim kleinen Florian - es sind die Eltern, die Schwierigkeiten haben. Sie haben ein Problem mit ihrer Elternrolle, sie sprechen nicht über ihre Beziehung, über Organisatorisches, über die Familie. Katharina Saalfrank stellt fest, daß die Eltern sich wenig mit ihren Kindern beschäftigen, wenig auf sie eingehen. Die Kinder reagieren auf die Hilflosigkeit der Eltern. Es gibt keine definierten Grenzen, keine festen Regeln, an die sich alle - auch die Eltern - halten müssen. Es gibt keine Anleitung zum Spiel, kein gemeinsamer Beginn der Mahlzeiten.

Die Nanny-Tips

Der Nanny-Tip 1: Feste Regeln. Eine Familie braucht feste Regeln, Strukturen und Rituale. Die Nanny formuliert Regeln für die Kinder und für die Eltern. Dazu gibt es einen genau festgelegten Tagesablauf, der Struktur in das Familienleben bringen soll.

Der Nanny-Tipp 2: Stille Treppe. Die Regeln besagen, daß Florian nicht schreien, spucken, schlagen darf. Bricht er die Regeln, bringen ihn Vater oder Mutter auf die ‚Stille Treppe'. Die Treppe bedeutet eine Auszeit für Florian zum Nachdenken und sich Beruhigen. Es gibt zuvor eine kurze Vorwarnung: Wenn du das Verhalten nicht abstellst, sitzt du fünf Minuten auf der Stillen Treppe. Wird das Verhalten nicht abgestellt, müssen die Eltern schnell und konsequent reagieren.

Der Nanny-Tipp 3: Rituale. Kinder brauchen Rituale, auf die sie sich verlassen können. Dazu gehören die gemeinsamen Mahlzeiten, die zusammen begonnen und beendet werden. Das neue Nanny-Ritual: Der Nachmittagstisch. Katharina Saalfrank zeigt einen kleinen Trick, wie Kinder auch zu Obst greifen: Die Kinder dürfen sich pro Obststück, das sie essen, einen Keks nehmen.

Der Nanny-Tipp 4: Gemeinsame Zeit. Der Nachmittag ist die Zeit, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen, sich mit ihnen zu beschäftigen. Es wird gemeinsam etwas unternommen: Basteln, Ausflug machen etc.

Der Nanny-Tipp 5: Konflikte austragen. Auch wenn es unbequem ist: Um die Familienregeln durchzusetzen, müssen auch Konflikte ausgetragen werden. Bloß nicht aus Bequemlichkeit einfach auf- oder nachgeben, ist Katharina Saalfranks Forderung. Die Eltern kontrollieren die Situation, nicht die Kinder. Deshalb müssen Mutter und Vater ruhig bleiben, dürfen nicht aggressiv werden oder brüllen - sie machen den Kindern mit ruhiger, bestimmter Stimme den Regelbruch klar und zeigen deutlich die Konsequenzen auf.

Der Nanny-Tipp 6: Kinder ernst nehmen! Kündigen Sie Ihren Kindern an, was für den Tag, was als nächstes geplant ist. Nicht die Kinder urplötzlich vor vollendete Tatsachen stellen (zum Beispiel zu einer willkürlichen Uhrzeit den Fernseher abstellen, ohne vorher anzukündigen: "In zehn Minuten ist der Fernseher aus, dann geht es ins Bett").

Der Nanny-Tipp 7: Eltern sind auch Menschen. Auch die Eltern brauchen einen Freiraum, brauchen ihre Hobbys und Zeit für sich. Diese Zeit muß eingeplant und eingehalten werden. Die Eltern brauchen Zeit für sich als Paar - und auch Zeit allein. Die völlig aussichtslose Situation der Familie mit der überlasteten, resignierten Mutter konnte durch dieses kompetente und gefühlvolle Eingreifen der ‚Nanny' innerhalb von kurzer Zeit stark verbessert werden. Dem Kind wurden Grenzen gezeigt, und zwar gewaltfrei und wirksam. Das Kind akzeptierte diese auch nach sehr kurzer Zeit und brachte sich dann positiv in die Gemeinschaft ein. ‚Die Super Nanny' ist wohl für die meisten Eltern und Erzieher eine sehr lehrreiche Sendung!

Wie steht es mit den Jugendlichen?

Während sich bei kleinen Kindern solche Verhaltensauffälligkeiten von den Eltern relativ rasch korrigieren lassen, gestaltet sich dieses Vorhaben bei Jugendlichen schwieriger. Bestimmte Verhaltensmuster sind schon länger eintrainiert und es wird mehr Zeit benötigen, um wieder gute Verhältnisse in einer Familie herzustellen. Oft schaffen dies die Eltern aber nicht aus eigener Kraft und so kommen Kinder und Jugendliche, welche dann auch in der Schule nicht mehr tragbar sind, ins Sonderschulheim. Ziel ist, sie möglichst schnell wieder in die normale Schule zu integrieren. Das Sonderschulheim ist sozusagen letzte Chance: Wenn die Jugendlichen hier keinen Abschluß schaffen, werden sie keine Lehrstelle bekommen und später oft zwangsversorgt werden.

Karin Stark, Sekundarlehrerin an einer Sonderpädagogischen Schule in der Zentralschweiz, hat Erfahrung im Umgang mit verhaltensauffälligen Jugendlichen. Ein Hauptproblem in der Erziehung sieht sie in der Rollenumkehrung, die man heutzutage häufig antrifft: "Eine Umkehrung der Hierarchie geschieht in Familien mit verhaltensauffälligen Kindern meist schon sehr früh. Das heißt, die Kinder übernehmen die Befehlsgewalt und nehmen sich Dinge heraus, die ihnen als Kinder gar nicht zustehen. Die Eltern sagen währenddessen immer weniger, bis sie schließlich fast überhaupt nicht mehr reagieren und die Kinder einfach machen lassen. Unsere Aufgabe im Sonderschulheim ist es also, diese Hierarchieordnung wiederherzustellen und die Eltern zu stärken, indem man ihnen die Wichtigkeit ihrer Erziehungsfunktion wieder bewußt macht und sie trainiert, ihren Kindern die Regeln aufzustellen."

"In der Schule suchen solche Kinder dauernd die Grenzen, welche von den Eltern nicht gesetzt wurden", erläutert Karin Stark und ergänzt, daß ins Sonderschulheim oft auch schwache Schüler kommen, deren große Lücken bald nach dem Übertritt in die Oberstufe so richtig zum Vorschein kommen.

"Als erstes beginnen sie aus Frustration zu randalieren, verweigern die Hausaufgaben, stören im Unterricht, bleiben später der Schule wochenlang fern und werden deshalb zuletzt weggewiesen. Auch eine zweite Chance können sie meist nicht mehr nutzen, was dann oft zu einer Einweisung in ein Sonderschulheim führt, falls überhaupt ein Platz in absehbarer Zeit zur Verfügung steht. Es gibt einerseits zu wenig solche Schulen und andererseits zu viele Anwärter. Der Anteil verhaltensauffälliger Jugendlicher nimmt von Jahr zu Jahr zu und sie werden auch immer jünger. Sehr häufig haben die Eltern einfach keine Zeit gehabt für ihre Kinder, haben sie sich selbst überlassen, sprich dem Fernseher.
Oder die Eltern ließen ihre Kinder einfach alles machen, weil sie der Meinung sind, daß die Kinder sich selber erziehen. Viele Eltern, welche vorwiegend auf ihren Beruf fokussiert sind und ihr eigenes Leben leben wollen, schauen gar nicht erst hin. Und wenn dann erste Probleme mit den Kindern auftauchen, denken sie oft, diese verschwänden dann schon wieder."

Doch die Probleme lösen sich selten von selbst. Karin Stark fährt fort: "Wenn Kinder Dinge tun, die nicht in Ordnung sind, muß man diese ansprechen und korrigieren und dann Abmachungen treffen, Regeln erstellen und klare Grenzen setzen. Wenn sie überschritten werden, muß man dies unmittelbar wieder ansprechen. Entscheidend ist daher unbedingt die Präsenz des Erziehers. Doch Kinder brauchen Grenzen. Grenzen vermitteln einem Kind Sicherheit, Klarheit, Struktur und Stabilität", betont die Lehrerin. Was heißt dies konkret? "Es läuft darauf hinaus, daß man immer wieder hinschauen muß. Ein junger Mensch provoziert und probiert aus, und als Erzieher muß man sich immer wieder von neuem entscheiden, ob man hinschauen und reagieren will oder ob man die Konfrontation scheut und wegschaut." Kinder brauchen also dringend Feedback und Leitlinien, damit sie aus Fehlverhalten lernen können. Und sie brauchen vor allem positive Bestätigung, wenn sie konstruktiv spielen und experimentieren.

Karin Stark: "Das Reagieren muß immer sofort geschehen. Wenn kein Erzieher zuhause ist, sprich Vater und Mutter am Arbeiten sind, dann findet keine Erziehung statt. Auch eine Fremdperson, selbst wenn sie geschult ist und eine emotionale Bindung zum Kind hat, kann ein Kind nicht erziehen, sie kann es höchstens betreuen und dessen Grundbedürfnisse stillen. Denn ein Kind akzeptiert die Erziehung nur von seinen eigenen Eltern. Deshalb ist für uns die konstruktive Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern sowohl die Voraussetzung als auch der Erfolgsfaktor in der Erziehung dieser Jugendlichen.
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