Wahre Kindererziehung: Geburtshilfe zum Selbst

Edward Bach (1886-1936) war viel mehr als „nur“ der Vater der Bach-Blüten-Therapie. Lesen Sie hier, was dieser weise Philosoph zur Kindererziehung zu sagen hat, deren nobelste Aufgabe es ist, jedes Kind seine Bestimmung finden zu lassen.

„Die Familie ist das Vaterland des Herzens.“ Giuseppe Mazzini

„Die Familie ist das Vaterland des Herzens.“
Giuseppe Mazzini

Die Aufgabe der Elternschaft, die in der Tat als ein göttliches Privileg betrachtet werden sollte, ist es in erster Linie, einer Seele die Möglichkeit zu geben, im Interesse ihrer Weiterentwicklung in diese Welt einzutreten. Wenn man es richtig sieht und versteht, gibt es vermutlich kein großartigeres Vorrecht für den Menschen, als bei der körperlichen Geburt einer Seele zu helfen und mit der Pflege des jungen Lebensstroms während der ersten Jahre seines Erdendaseins betraut zu sein. Die Einstellung der Eltern sollte deshalb ganz darauf ausgerichtet sein, dem kleinen Neuankömmling nach allerbestem Vermögen alles zu geben, was er geistig, gedanklich und körperlich an Geleit braucht. Die Eltern sollten immer im Sinne haben, dass das Menschlein eine individuelle Seele ist, auf die Erde herabgekommen, um ihre eigenen Erfahrungen zu sammeln und auf eigene Weise Wissen zu erwerben, nach den Geboten ihres höheren Selbst und ihr deshalb so viel wie möglich Freiheit lassen für ihre ungehinderte Entfaltung.

Der göttliche Dienst der Elternschaft sollte so hoch – vielleicht noch höher – geachtet werden wie jede andere große Pflicht, zu der wir aufgerufen sind. Da dieser Dienst Opfer verlangt, sollten wir immer daran denken, dass nichts, was auch immer es sein möge, vom Kinde zurückerwartet werden darf; es geht allein darum, zu geben und nur zu geben: sanfte Liebe, Schutz und Geleit, bis die Seele den jungen Lebensstrom selbst lenken kann. Unabhängigkeit, Individualität und Freiheit sollten von Anfang an vermittelt werden und man sollte das Kind anregen, so früh wie möglich damit zu beginnen, selbst zu denken und zu handeln. Die elterliche Kontrolle sollte Schritt für Schritt abgebaut werden, während sich die kindliche Fähigkeit zur Selbstständigkeit entfaltet, und später sollten keine einschränkenden Pflichtgefühle den Eltern gegenüber die Seele des Kindes behindern.

Die Elternschaft ist eine Aufgabe, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, und dabei geht es im Wesentlichen darum, dass eine Zeit lang Geleit und Schutz gewährt werden. Danach hat diese Funktion zurückzutreten und die Eltern sollen das Ziel ihrer Aufmerksamkeit, ihr Kind, freigeben, damit es allein weitergehen kann. Es sei daran erinnert, dass das Kind, dessen Schutz uns vorübergehend anvertraut ist, eine viel ältere und reifere Seele sein kann als wir selbst, dass es uns geistig längst über den Kopf gewachsen sein mag, und so sollten sich Kontrolle und Schutz auf die Bedürfnisse des jungen Lebensstroms beschränken.

Die Elternschaft ist eine heilige Pflicht, die ihrem Wesen nach an die nächste Generation weitergegeben wird. Sie bringt nichts anderes als Dienen mit sich und erwartet keinerlei Gegenleistung, außer dass die Jungen dereinst die gleiche Pflicht gegenüber der nächsten Generation erfüllen werden. Eltern sollten sich besonders vor dem Verlangen hüten, die junge Persönlichkeit nach ihren eigenen Vorstellungen oder Wünschen zu formen, und sich jeder unangebrachten Bevormundung oder Forderung von Gefälligkeiten als Gegenleistung für ihre natürliche Pflicht und ihr göttliches Vorrecht enthalten. Jedes Machtstreben, jeder Versuch, das junge Leben aus eigenen Motiven heraus zu formen, ist eine schreckliche Form der Habgier, der nie stattgegeben werden darf, denn wenn sich solche Gedanken in den jungen Eltern verfestigen und Wurzeln schlagen, werden sie sie in späteren Jahren zu regelrechten Vampiren entarten lassen. Wenn sich auch nur das geringste Machtstreben zeigt, muss es im Keim erstickt werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die Hab- und Machtgier versklavt und in uns den Wunsch weckt, andere zu beherrschen. Wir müssen in uns selbst das Geben fördern und diese Kunst entwickeln, bis die Opferbereitschaft jede Spur von schädlichem Handeln beseitigt hat.

„Ich verzichte auf alle Weisheit, die nicht weinen, auf alle Philosophie, die nicht lachen, auf alle Größe, die sich nicht beugen kann – im Angesicht von Kindern.“ Khalil Gibran

„Ich verzichte auf alle Weisheit, die nicht weinen, auf alle Philosophie, die nicht lachen, auf alle Größe, die sich nicht beugen kann – im Angesicht von Kindern.“
Khalil Gibran

Auch der Lehrer sollte immer daran denken, dass es nur seine Aufgabe ist, Vermittler zu sein, der den jungen Menschen Geleit und Gelegenheit gibt, die Dinge der Welt und des Lebens zu erlernen. Jedes Kind soll auf seine eigene Weise Wissen aufnehmen und instinktiv auswählen können, was für den Erfolg seines Lebens notwendig ist. Deshalb gilt auch hier, dass nicht mehr als die behutsame Anleitung gegeben werden sollte, damit der Schüler imstande ist, das Wissen zu erwerben, das er braucht.

Kinder sollten im Sinne behalten, dass die Aufgabe der Elternschaft ein göttliches Sinnbild der schöpferischen Kraft ist, dass sie aber keine Einschränkungen der Entwicklung und keine Verpflichtung verlangt, die das Leben und Wirken behindern, das ihnen die eigene Seele gebietet. Man kann unmöglich das immense Leiden in unserer Zeit, die innere Verkrüppelung von Menschenwesen und das Anwachsen herrschsüchtiger Charaktere abschätzen, die auf mangelnde Erkenntnis dieser Umstände zurückzuführen sind. Fast in jeder Familie sind Eltern wie Kinder damit beschäftigt, sich ihre eigenen Gefängnisse zu bauen, weil sie von falschen Beweggründen angetrieben und in unrichtigen Vorstellungen der Eltern-Kind-Beziehung gefangen sind. Solche Gefängnisse nehmen die Freiheit, verkrampfen das Leben, behindern die naturgemäße Entwicklung und bringen allen Betroffenen Unglück. Die mentalen, nervösen und sogar körperlichen Störungen, die daraus entstehen, bilden einen sehr großen Teil der Krankheit unserer Zeit.

Man kann gar nicht klar genug sagen, dass jede Seele zu dem spezifischen Zweck hier auf Erden verkörpert ist, Erfahrungen und Verständnis zu gewinnen und ihre göttliche Individualität nach dem Maßstab der ihr innewohnenden Ideale zu vervollkommnen. Ganz gleich, welcher Art unsere Beziehung zueinander auch ist, sei es Mann und Frau, Eltern und Kind, Bruder und Schwester, Meister und Geselle: Wir versündigen uns gegenüber unserem Schöpfer und unseren Mitmenschen, wenn wir aus persönlicher Motivation heraus die Entwicklung einer Seele behindern. Unsere einzige Pflicht besteht darin, den Geboten unseres Gewissens zu folgen, und dieses wird niemals auch nur einen Augenblick lang die Beherrschung eines anderen Lebensstroms zulassen. Jedermann soll wissen, dass seine Seele eine bestimmte Aufgabe für ihn vorgesehen hat, und solange er diese Aufgabe nicht erfüllt – auch wenn ihm dies gar nicht bewusst ist –, wird er unausweichlich einen Konflikt zwischen seiner Seele und Persönlichkeit verursachen, der sich dann notwendigerweise in Gestalt körperlicher Störungen niederschlägt.

Nun mag es wohl sein, dass jemand dazu berufen ist, sein ganzes Leben einem anderen zu widmen, aber bevor er dies in Angriff nimmt, soll er zuerst absolut sicher sein, dass dies ein Gebot seiner Seele ist und nicht die Empfehlung einer fremden, dominierenden Persönlichkeit, die ihn dazu überredet, oder ein falsches Pflichtgefühl, das ihn irreleitet. Er soll auch wissen, dass wir in diese Welt kommen, um Schlachten zu schlagen, um Kraft gegen jene zu gewinnen, die uns beherrschen wollten, und um jene Stufe zu erreichen, auf der wir ruhig und bedacht unsere Pflicht erfüllen und unerschrocken und unbeeinflusst von irgendeinem anderen lebenden Wesen durchs Leben gehen, immer geleitet von der Stimme unseres Höheren Selbst. Für sehr viele wird der größte Kampf in ihrem eigenen Heim stattfinden: Bevor sie die Freiheit erlangen, Siege in der Welt davonzutragen, müssen sie sich erst von der nachteiligen Beherrschung und Kontrolle durch einen sehr nahen Verwandten losreißen.

Jeder Mensch, sei er erwachsen oder ein Kind, der sich aus den dominierenden Einflüssen eines anderen zu befreien hat, sollte zweierlei bedenken: Erstens sollte er diesen „Möchtegern“-Unterdrücker in der gleichen Weise sehen wie einen Gegner im Sport: als eine Persönlichkeit, mit der wir gemeinsam am Spiel des Lebens teilnehmen ohne die geringste Spur von Bitterkeit. Hätten wir nicht solche Mitstreiter, dann hätten wir keine Gelegenheit, unseren eigenen Mut, unsere eigene Individualität zu entfalten. Zweitens: Die wirklichen Siege im Leben erwachsen aus Liebe und Sanftheit, und so sollte in einem solchen Wettstreit keinerlei Gewalt eingesetzt werden. Durch stetiges Hineinwachsen in unser eigenes Wesen, durch Üben von Mitgefühl, Sympathie, Freundlichkeit und, falls möglich, Zuneigung – oder besser noch: Liebe – gegenüber dem anderen können wir uns so entwickeln, dass es uns im rechten Moment möglich ist, ganz sanft und ruhig dem Ruf unseres Gewissens zu folgen, ohne die geringste Einmischung zu erlauben.

Jene aber, die dominieren, brauchen viel Hilfe und Anleitung, um die Wahrheit als große, universale Wahrheit zu erkennen und um die Freude der geschwisterlichen Verbundenheit mit allen zu erfassen. Daran vorbeizugehen heißt, am wahren Glück im Leben vorbeizugehen, und wir müssen jenen Menschen helfen, soweit es in unserer Macht steht. Schwäche auf unserer Seite, die jenen erlaubt, ihren Einfluss auszuweiten, wird ihnen nur schaden. Eine sanfte, aber bestimmte Weigerung, sich von ihnen beherrschen zu lassen, und eine Bemühung, ihnen die Erkenntnis der Freude des Gebens zu vermitteln, werden ihnen auf ihrem nach oben führenden Wege helfen.

Das Erlangen unserer Freiheit, das Gewinnen unserer Individualität und Unabhängigkeit wird in den meisten Fällen viel Mut und Vertrauen verlangen. Aber in den dunkelsten Stunden, wenn der Erfolg geradezu unmöglich scheint, wollen wir immer daran denken, dass Gottes Kinder sich niemals fürchten sollten und dass unsere Seelen uns nur solche Aufgaben anvertrauen, die wir erfüllen können. Mit dem Mut und Vertrauen auf die innewohnende Göttlichkeit muss der Sieg all jenen zuteil werden, die nicht ablassen, danach zu streben.