Ohne Bindung keine heile Kinderwelt

Gewalt und fehlende Bildungserfolge an den Schulen, desinteressierte, konformistische Jugendliche, unreife, nicht bindungsfähige Erwachsene – was läuft falsch in unseren westlichen Wohlstands- und Hektik-Gesellschaften? Bahnbrechende Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie zeigen: Gerade unser Glaube, wir müßten Kinder so früh wie möglich von uns unabhängig machen und Kinder würden am besten in großen Gruppen Gleichaltriger gedeihen, verhindert in alarmierendem Ausmaß die Heranbildung wirklich unabhängiger, voll ausgereifter Persönlichkeiten.

Bindung durch Gleichheit: Mama beim „Bindungstanz“ des Grimassenschneidens.

Wie kommt es nur, daß so viele Kinder und Jugendliche heute in einer anderen, für Erwachsene nahezu unzugänglichen Welt leben? Sie scheinen Erwachsene im allgemeinen und ihre Eltern im Besonderen nur noch als lästige Geräuschkulisse wahrzunehmen. Viele Kinder oder neudeutsch „Kids“ schauen Erwachsene nicht aufmerksamer an als Möbelstücke und reagieren auf deren Ansprache bestenfalls mit verächtlicher Gleichgültigkeit. Was Erwachsene gut und wichtig finden, kann schon deshalb nichts sein, und mit den Eltern Zeit zu verbringen, grenzt an Isolationsfolter, denn zuhause ist ja „niemand“, weil „alle“ zusammen irgendwo ab“chillen“. Technik, vor allem Kommunikationstechnik wie Handy und Internet, wird zwar eifrig genutzt, um coole Dialoge zu führen, aber nur die wenigsten möchten Technik auch verstehen oder gar selbst aktiv weiterentwickeln. Wie es mit dem Lernen in der Schule aussieht, wissen wir pätestens seit PISA ja auch. Da diese Entwicklung schon eine Weile so geht, feiern auch die Erwachsenen mittlerweile nach Jahrgängen getrennt (20+-Party, 30+-Party, 40+-Party...). Die Begeisterung für „Klassisches“ wird zunehmend ersetzt durch immer neue Pop-Kulturen mit einer Halbwertzeit von etwa zehn Jahren.

Wir finden das heute normal. Doch es kann nicht immer so gewesen sein, und das ist eindeutig belegbar: Jede Zivilisation und Kultur konnte und kann nur entstehen, indem generationsübergreifend Wissen weitergeben wird und nicht jede Generation alles wieder neu erfinden und entdecken muß. Diese vertikale Weitergabe von Kultur zwischen den Generationen wird derzeit zusehends ersetzt durch viele kurzlebige, horizontal nach Altersgruppen geschichtete Pop-Kulturen.

Geht es den Kindern und Jugendlichen wenigstens gut in ihrer abgetrennten Cool-Welt? Mitnichten, das zeigen die stark zunehmenden Selbstmordraten und die nach amerikanischem Vorbild amoklaufenden Jugendlichen. Der öffentlich gewordene Abschiedsbrief des Bastian B. aus dem deutschen Emsdetten zeigt das Ausmaß, in dem Jugendliche in ihrer, unserer Welt verzweifeln können. Wer cool ist, der friert, das leuchtet ein.

90’000 „Raufunfälle“ jährlich

Nordamerika ist auch hier Trendsetter. Die geschilderte Problematik, daß Kinder und Erwachsene in getrennten Welten leben und kaum noch eine Verständigung möglich ist, besteht dort schon länger und hat weit bedrohlichere Ausmaße angenommen als in Europa. Dem Nationalen Zentrum für Bildungsstatistik zufolge wurden in den USA allein im Schuljahr 2002/2003 fünfzehn Schüler von Mitschülern getötet, es gab landesweit zwei Millionen – wie es heißt – nicht-tödliche Verletzungen und darunter 150’000 schwere Verbrechen wie Vergewaltigungen oder Körperverletzungen. In der Bundesrepublik Deutschland sind im Jahre 2003 „nur“ 93’295 Schüler infolge aggressiver Handlungen verletzt worden, in der Schweiz hat sich die niedrige Zahl der polizeilich verzeichneten durch Jugendliche verübten Körperverletzungen von 1992 bis 2003 allerdings mehr als verdoppelt.

Daher ist auch die Ursachenforschung in Nordamerika schon weiter gediehen, während wir uns noch über unsere Kinder und ihre aggressive Sprache wundern und nach individuellen Ursachen und Fehlern suchen. Besonders die Entwicklungspsychologen haben dabei Erstaunliches herausgefunden. Der führende Forscher auf diesem Gebiet, der kanadische Psychologe Dr. Gordon Neufeld, avancierte mit seinem kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Buch Unsere Kinder brauchen uns! (siehe Buchmarkt) in kürzester Zeit zum Bestsellerautor. Sein Werk, eine Mischung aus Elternratgeber und populärwissenschaftlichem Sachbuch, liefert nicht nur eine einleuchtende Erklärung für das Phänomen, sondern zeigt auch, was wir ändern müssen, um wieder Zugang zur Generation unserer Kinder zu finden. Es wird derzeit in vierzehn Sprachen übersetzt, und Gordon Neufeld berät Bildungsbehörden in Nordamerika und hält weltweit Vorträge und Seminare. Zur direkten Arbeit mit Kindern und Eltern selbst kommt er kaum noch, statt dessen bildet er besonders engagierte Eltern, Therapeuten und Lehrer zum „Eltern-Coach“ aus, um die Verbreitung des von ihm gefundenen Wissens effektiver zu beschleunigen.

  1. Der Bindungsinstinkt
    Denn die Ursache für das Auseinanderdriften der Welten von Erwachsenen und Kindern ist, so Neufeld, geradezu erschütternd einfach, auch wenn die Auswirkungen komplex und vielschichtig sind: Kinder bringen für das Hineinwachsen in die Welt einen Bindungsinstinkt mit, der sich unzählige Zeitalter hindurch, seit Menschen auf der Erde leben, als nützlich erwiesen hat. In den letzten fünfzig Jahren haben wir jedoch unseren Lebensalltag so radikal verändert, daß dieser uralte Bindungsinstinkt, der die Beziehungen von Kindern zu ihrer Umwelt ordnet, seine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Die instinktiven Mechanismen wirken sich statt dessen fatal zu unser aller Nachteil aus.
    Es lassen sich sechs Bindungsarten ausmachen. Biologisch gesehen sind wir – wie viele Säugetiere – Nesthocker und Traglinge. Das heißt, wir kommen in einem Zustand zur Welt, in dem wir auf die umfassende Versorgung und später Anleitung erwachsener Artgenossen angewiesen sind, um überleben zu können und um zu lernen, wie das Leben funktioniert. Dementsprechend haben sich Mechanismen entwickelt, die dafür sorgen, daß dies auch geschieht.

  2. Bindung durch körperliche Nähe und Zärtlichkeit.
    Das Neugeborene braucht, abgesehen von der Versorgung mit Nahrung und Wärme, intensiven Körperkontakt, am liebsten rund um die Uhr. Alleinsein löst bei ihm einen Alarmzustand aus, der seine Entwicklung durch Streßhormone behindert. In der Steinzeit, bei Naturvölkern und in traditionellen Gesellschaften ist das meist kein Problem, wir tun uns heute eher schwer damit, dieses grundlegende Bedürfnis unserer Babys zu erfüllen. Mit ganztägiger Berufstätigkeit beider Eltern außer Haus ist es kaum vereinbar, denn was in Jahrmillionen gewachsen ist, läßt sich nicht einfach abstellen.

  3. Bindung durch Gleichheit.
    Die zweite Bindungsart ist gewöhnlich bereits im Kleinkindalter gut erkennbar. Das Kind versucht, so zu sein wie seine engsten Bezugspersonen und durch Nachahmung deren Art und Ausdrucksweise anzunehmen. Diese Bindungsform spielt beim Spracherwerb und bei der Kulturübermittlung eine entscheidende Rolle.

  4. Bindung durch Zugehörigkeit und Loyalität
    Die dritte Bindungsart tritt, sofern sich alles wie vorgesehen entwickelt, ebenfalls erstmals im Kleinkindalter auf. Einer Person nahe zu stehen bedeutet, sie als sein Eigen zu betrachten. Das sich bindende Kleinkind wird auf alles oder jeden, zu dem es eine Bindung hat – ob Mama, Papa, Teddybär oder kleine Schwester – einen Besitzanspruch erheben.

  5. Bindung durch Bedeutsamkeit
    Die vierte Art, nach Nähe und Verbindung zu streben, ist das Streben nach<I> Bedeutsamkeit , dem Gefühl, jemandem wichtig zu sein. Wenn wir für jemanden wichtig sind, so sichert uns dies Nähe und Verbindung. Mit drei bis vier Jahren ist das sich bindende Kind ganz darauf aus, zu gefallen und Anerkennung zu finden. Für abfällige und mißbilligende Blicke ist es extrem empfänglich und leicht zu verletzen.

  6. Bindung durch Gefühl
    Eine fünfte Art, Nähe zu finden, erfolgt durch Gefühle – Gefühle von Zuneigung, Liebe und Wärme. Emotionen spielen bei Bindungen immer eine Rolle, aber im Vorschulalter wird das Streben nach emotionaler Nähe bei einem Kind, das tief empfinden kann und sehr verletzlich ist, sehr intensiv. Kinder, die auf diese Art Verbindung suchen, „verlieben“ sich häufig in ihre Bindungspersonen. Erfahren sie emotionale Nähe zu ihren Eltern, so können sie physische Trennungen von ihnen viel besser ertragen und es dennoch schaffen, die Nähe zu ihnen zu bewahren. Wenn wir die Bindung über die Sinne – die erste und primitivste Bindungsart – als den kurzen Arm von Bindung bezeichnen wollten, so wäre Liebe der lange Arm. Das Kind trägt das Bild der liebenden und geliebten Eltern in seinem Herzen und findet darin Trost und Halt.

  7. Bindung durch Vertrautheit
    Die ersten Anzeichen dieser letzten Bindungsart sind gewöhnlich zu Beginn der Schulzeit erkennbar. Jemandem vertraut zu sein heißt, sich ihm nahe zu fühlen. Diese Bindungsart ist gewissermaßen eine Wiederholung der Bindung über die Sinne, nur daß die Erfahrung, gesehen und gehört zu werden, jetzt auf der seelischen statt auf der rein physischen Ebene gemacht wird.

Bei einer gesunden Entwicklung verflechten sich diese sechs Stränge zu einem starken Verbindungsseil, das Nähe auch unter den widrigsten Umständen gewährleisten kann. Mit einer vollständig entwickelten Bindung hat ein Kind viele Möglichkeiten, seiner Bezugsperson, auch bei physischer Trennung, nahe zu bleiben und an ihr festzuhalten.