Krishnamurti: Goldene Regeln für die Lebensreise

Vor gut neunzig Jahren wurde aus Meistermund ein Text verfaßt, der zu den absoluten Klassikern esoterischer Literatur gehört. So kurz er auch sein mag, enthält er doch alle Erfordernisse, die der Schüler auf dem Pfade braucht, um den geraden Weg zur Erleuchtung zu gehen.

Es war ein kleiner Junge in Südindien, der zum Übermittler jener zeitlosen Worte der Weisheit werden sollte. Sein Name wurde weltberühmt: Krishnamurti. Eines Tages - vermutlich im Mai des Jahres 1909 - schaute Charles W. Leadbeater am Strand von Adyar in Südindien spielenden Kindern zu. "Plötzlich fiel Leadbeaters Augenmerk auf einen der Jungen, einen recht knochig aussehenden kleinen Knaben (...). Die Aura, die diesen Jungen umgab, besaß eine derartige Strahlkraft und einen solchen Glanz, wie er es noch bei niemandem in Adyar gesehen hatte. Unverzüglich freundete er sich mit den zwei Brüdern an.

Dann besuchten ihn sein Meister, Meister Kuthumi und Meister Djwhal Khul, und erklärten Leadbeater: ‚Nun, du hast sie gefunden! Du hast recht mit deiner Vermutung, sie sind außergewöhnlich und wurden nach Adyar geführt durch eine Einladung von Mrs. Besant an ihre Eltern. Hier sind die Jungen also, und wenn sie ausgebildet werden können, so hat der ältere in der Zukunft möglicherweise eine wichtige Aufgabe zu erfüllen."

Der 13jährige Krishnamurti und sein jüngerer Bruder Nityananda wurden kurz darauf von Annie Besant, der damaligen Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft unter die Fittiche genommen. Im Januar 1910, mit vierzehn Jahren, durchlief Krishnamurti seine erste Einweihung in den höheren Ebenen, während er schlief. Danach, berichten seine Beschützer, habe er einen völlig veränderten Ausdruck im Gesicht gehabt - so erhaben und rein, daß sie vor ihm auf die Knie gefallen seien.

Noch ein wichtiges Ereignis fällt in jene Zeit. Krishnamurti stritt später immer jede Erinnerung daran ab, doch gab es mehrere Augenzeugen, die berichten, was genau geschah. Charles W. Leadbeater schreibt: "Jede Nacht mußte ich diesen Jungen in seinem Astralkörper zum Haus der Meisters bringen, damit er unterwiesen werden würde. Der Meister widmete sich ihm jedesmal etwa fünfzehn Minuten. Zum Schluß des Gespräches faßte er stets die Hauptpunkte des Gesagten in einem einzigen Satz, manchmal in mehreren Sätzen zusammen. - Diese einfache, kurze Zusammenfassung lernte der Junge auswendig und schrieb sie am nächsten Morgen aus dem Gedächtnis nieder. Das Buch besteht aus diesen Sätzen, dem Abriß der Lehre des Meisters, von ihm, in seinen eigenen Worten verfaßt. Der Junge schrieb sie etwas mühsam nieder, da sein Englisch damals nicht sehr gut war. Er wußte um all diese Dinge in seinem Herzen und kümmerte sich nicht besonders um seine Aufzeichnungen. Einige Zeit später ging er mit Dr. Annie Besant nach Benares. Von dort aus schrieb er mir nach Adyar, ich möge alles seine Aufzeichnungen, die er über das, was der Meister ihm mitgeteilt hatte, zusammentragen und ihm zuschicken. Ich ordnete seine Notizen so gut wie möglich, schrieb sie auf der Schreibmaschine nieder...

Dann fiel mir ein, daß es, da es fast nur Worte des Meisters waren, besser sei, mich zu vergewissern, ob keine Fehler darin seien. Deshalb brachte ich die von mir angefertigte Maschinen-Abschrift zum Meister Kuthumi und bat ihn, so gütig zu sein, sie durchzulesen. Er las sie und änderte hier und da ein oder zwei Worte. Dann sagte er: ‚Ja, sie scheint richtig zu sein. Aber', setzte er hinzu: ‚Wir wollen sie dem Maitreya zeigen.' Und so gingen wir zusammen. Er nahm die Niederschrift und sie wurde dem Weltlehrer gezeigt.

Dieser las sie durch und stimmte ihr zu. Er war es, der sagte: ‚Ihr solltet ein hübsches kleines Buch daraus machen, um Krishnamurti in die Welt einzuführen.' - und so wurde das Buch am nächsten Morgen in Druck gegeben." Es trägt den Namen ‚Zu Füßen des Meisters', wurde in über 40 Sprachen übersetzt und weltweit in Millionenauflage verkauft. Leider wählte Leadbeater das Pseudonym ‚Alcyone' für die Autorenschaft Krishnamurtis.

Krishnamurti schreibt in seinem Vorwort, "Es genügt nicht, von ihnen (den Worten) zu sagen, sie seien wahr und schön; sie müssen sehr genau befolgt werden, wenn sie dem Menschen helfen sollen. Der bloße Anblick einer Nahrung wird den Hungrigen nicht sättigen; er muß seine Hand ausstrecken und muß essen. Ebenso genügt es nicht, des Meisters Worte nur zu hören; du mußt selbst tun, was Er sagt, mußt jedes Wort beachten, jeden Wink befolgen." Und hier sind sie nun, jene zeitlosen Worte der Weisheit aus dem Munde des heutigen Weltlehrers Kuthumi (siehe auch ZeitenSchrift-Druckausgabe Nr. 41):

Vier Grunderfordernisse sind die Leitsterne für den, der diesen Pfad beschreiten will:

 Unterscheidungskraft
Wunschlosigkeit
Charakterbildung
Liebe

Unterscheidungskraft

Die erste dieser Eigenschaften ist die Fähigkeit der rechten Unterscheidung. Die Erkenntnis, die den Menschen zum Betreten dieses Pfades hinleitet, wird für gewöhnlich aufgefaßt als Unterscheidung des Unwirklichen vom Wirklichen. Das ist sie auch, doch sie ist noch viel mehr; auch ist sie stetig zu betätigen, nicht nur beim Eintritt in den Pfad, sondern täglich bis zum letzten Schritte. Du betrittst den Pfad, weil du erfahren hast, daß du nur auf ihm jene Dinge finden wirst, die des Gewinnes wert sind. Menschen, die das nicht wissen, arbeiten, um Reichtum und Macht zu gewinnen; aber diese Dinge sind doch höchstens nur für ein Leben und daher unwirklich. Es gibt weit größere Dinge, Dinge, die wirklich und dauernd sind; hast du sie erst einmal gesehen, so wirst du die anderen nicht mehr begehren. Zwei Arten von Menschen nur gibt es auf der ganzen Welt: die Wissenden und die Nichtwissenden; auf dieses Wissen kommt es an. Welcher Religion und welcher Rasse ein Mensch angehören mag, ist nicht wichtig. Wirklich wichtig ist nur dieses Wissen - die Erkenntnis von Gottes Plan, und dieser Plan ist die Entwicklung. Sobald ein Mensch dies erkannt hat und es wirklich weiß, kann er nicht anders, als dafür zu wirken und sich eins mit ihm zu machen, weil er so erhaben und so schön ist. Und indem er sich auf Gottes Seite weiß, wird er das Gute tun und wird dem Bösen widerstreben; er wird für die Entwicklung arbeiten, nicht für den Eigennutz.

Wenn er auf Gottes Seite steht, ist er einer der Unsrigen, gleichviel, ob er sich Hindu oder Buddhist, Christ oder Mohammedaner nennt, ober er ein Inder oder Engländer, Chinese oder Russe ist. Alle, die auf seiner Seite stehen, wissen, warum und wozu sie hier sind; und sie streben, den Zweck ihres Daseins zu erreichen. All die anderen Menschen wissen noch nicht, was sie tun sollen, sie handeln daher oftmals töricht. Sie erfinden ihre eigenen Wege, von denen sie denken, daß sie ihnen Freude machen werden; aber sie verstehen nicht, daß alle eins sind und daß deshalb nur das, was das Eine will, uns wirklich Freude machen kann. Sie streben nach dem Unwirklichen anstatt nach dem Wirklichen. Solange sie nicht zwischen diesen beiden unterscheiden können, stehen sie noch nicht auf Gottes Seite. Und so ist diese Fähigkeit richtiger Unterscheidung der erste Schritt auf dem Pfade.

Aber selbst wenn diese Wahl vollzogen ist, so mußt du dir vergegenwärtigen, daß es vom Wirklichen wie vom Unwirklichen verschiedene Arten gibt. So mußt du unterscheiden zwischen Recht und Unrecht, Wichtigem und Unwichtigem, Nützlichem und Unnützem, Wahrem und Falschem, Selbstsüchtigem und Selbstlosem. Zwischen Recht und Unrecht zu wählen, sollte nicht schwer sein; denn die, die dem Meister folgen wollen, haben sich bereits entschlossen, das Recht um jeden Preis zu tun. Aber der Körper und der Mensch sind zwei; der Wille des Menschen ist nicht immer der des Körpers. Wenn dein Körper etwas begehrt, so halte ein und denke nach, ob du das wirklich willst. Denn du bist dein höheres Ich, bist Gottes, und du willst nur das, was Gott will. Aber du mußt tief in deinem Selbst nachgraben, um Gott in dir zu finden, du mußt Seiner Stimme lauschen, die ja deine Stimme ist. Verwechsle deinen Körper nicht mit deinem Selbst - weder den physischen, noch den emotionellen, noch den mentalen! Jeder dieser Körper wird beanspruchen, das Selbst zu sein, um dadurch zu erlangen, was er wünscht. Du aber mußt sie alle kennenlernen und mußt wissen, daß du selbst ihr Meister bist.

Wenn eine Arbeit getan werden soll, möchte der physische Körper ausruhen, möchte ausgehen, essen oder trinken; und der Mensch, der noch nicht ‚weiß', sagt sich: "Ich möchte dies tun, und ich muß es tun." Aber der Wissende sagt: "Dies Wünschende ist nicht mein Ich, und daher muß es eine Weile warten."

Oft, wenn sich die Gelegenheit bietet, jemandem zu helfen, fühlt der Körper: "Wieviel Mühe wird es für mich sein; laß irgend jemand anderen dies tun." Doch ein solcher Mensch antwortet seinem Körper: "Du sollst mich nicht hindern, Gutes zu tun."

Der Körper ist dein Tier - dein Pferd, auf dem du reitest. Daher mußt du ihn auch gut behandeln und gewissenhaft für ihn sorgen. Du darfst ihn nicht überarbeiten, du mußt ihm reine Nahrung geben und ihn immer peinlich sauber halten, ihn selbst vor den kleinsten Schmutzflecken bewahren, denn ohne einen völlig reinen und gesunden Körper kannst du das mühevolle Werk der Vorbereitung nicht vollbringen, kannst die unaufhörliche Anstrengung nicht ertragen. Immer aber mußt du es sein, der den Körper beherrscht, niemals er dich.