Altsein ist schön!

Von der Schönheit des Alters. Wer hinter diesen Worten üblen Zynismus wittert, hat die Botschaft des Lebens missverstanden, die da heisst, daß man das ganze Leben nur aufwärts geht. Und wenn die Jugend mit Äusserlichkeit lockt und verführt, dann hält das Alter die wahre, innere, erfüllte Freude bereit. Und eine Freiheit, nach der man sich in der Jugend nur sehnt.

Marbella, Februar 2002: Silke Höllerich, Ex-Fotomodell und Ex-Frau von Gerd Höllerich alias Roy Black, nimmt sich das Leben. Trotz ihrer 57 Jahre sah sie immer noch hervorragend und viel jünger aus als sie war, hatte keine Geldsorgen und lebte in einer sonnenverwöhnten Region Europas. Sie verfing sich trotzdem in der Spirale der Trübsal, wie auch eine andere prominente Bürgerin von Marbella: Marilys, Gattin von Prinz Ferdinand zu Hohenlohe und, wie er immer wieder beteuerte, seine große Liebe. Sie war reich, behütet, hatte ‘alles’ im Leben, wie es so schön heißt, und sah ebenfalls noch immer sehr gut aus. Auch sie war 57 Jahre alt. Sie nahm Tabletten und stülpte sich sicherheitshalber auch noch eine Plastiktüte über den Kopf.

Natürlich kennen Außenstehende die Gründe nicht, doch wurde gemunkelt, daß die beiden Frauen nur noch Verfall und Niedergang in dem sahen, was vor ihnen lag: Dem Alter. Das, was ihnen das Leben süß – vielleicht zu süß – gemacht hatte, nämlich Jugend, Schönheit, Bewunderung, die Traumfigur und die Macht, die sie daraus bezogen, welkte vor ihren Augen dahin, verzögerbar vielleicht, aber doch unaufhaltsam.

Silke Höllerich und Marilys zu Hohenlohe sind–wenn denn die Spekulationen stimmen – Beispiele für ein Phänomen, das heute millionenfach grassiert: Den veräußerlichten Menschen, der sich von der Medien-und Glamourindustrie hat einfangen lassen, nur eine Rolle spielt, aber kein Leben lebt und vergessen hat, daß Leben auch lebenslanges Lernen, Wachsen und sich verändern bedeutet.

Das Alter ist, weiß Gott, in Verruf geraten. So sehr, daß es fast völlig tabuisiert wird. Fürs Fernsehen sind die über 49jährigen uninteressant, weil die Werbeindustrie nur unter den Jüngeren die geeignete Manipuliermasse vermutet; auf dem Arbeitsmarkt gehört der Stellensucher schon mit vierzig zum alten Eisen, und Tausende versuchen dem Schrecken der zerfallenden Gestalt durch teure Schönheitsoperationen zu entgehen. Doch eine Gesellschaft, deren Alte mit lauter aufgespritzten, glattgezogenen, geradeoperierten Un-Gesichtern umherlaufen, darüber die Hair-Extensions, die jugendliche Fülle vortäuschen sollen, darunter die High Heels, die die fettabgesaugte Figur strecken und den Waden einen sexy Schwungverleihen–so eine Gesellschaft sieht wirklich alt aus und ist durchaus zu bedauern.

Diese Alten versuchen, weiterhin in einem Wettkampf mitzumischen, den sie nur verlieren können. Sie klammern sich an die vergänglichen ‘Statussymbole’ der Jugend, die sie einfach nur lächerlich aussehen lassen – statt den Weg frohgemut immer weiterzuschreiten und dabei neue Täler der Freude zu entdecken und der unerfüllten, getriebenen Jugend zu zeigen, daß auch das Alter seine Schätze bereithält, die da sind: innere Fülle, Gelassenheit und Demut.

Agnes Martin ist 31 Jahre älter als Silke Höllerich oder Marilys zu Hohenlohe, sie wohnt in keinem Schloß und keiner Villa, sondern in einem kargen Bungalow in der Nähe von Santa Fé, New Mexiko. Sie besitzt fast gar nichts – kaum Kleider, nur die nötigsten Möbel, nicht mal einen Fernseher. „Es ist phantastisch, wenn einen die Kräfte langsam zu verlassen beginnen, so um die Siebzig“, sagt sie versonnen. „Die Freude wird nicht kleiner“, sinniert sie weiter, mit einem leisen Lächeln im Gesicht. Agnes Martin hat sich früh darin geübt, mit wenig zu leben. Auch, um zum Wesentlichen vorzustoßen: Dem inneren Reichtum. Dem Glück, das, wie sie sagt, immer da ist. Glück hängt nämlich nicht vom Zufall ab und ist keine Eintagsfliege. Glück ruht in allen Dingen, und wenn wir uns die Muße nehmen, wenn wir der Hast entweichen und es wagen, in die Langsamkeit, ins Innere einzutauchen und ganz still zu werden, dann gelingt es uns, uns an dieses ewig strömende Glück anzuschließen. Glück, sagt Agnes Martin, ist des Menschen wahrer Zustand. Sie hat ihn gefunden.

Agnes Martins einziger Luxus, den sie sich leistet, ist ein gutes Auto. Sie mag es nicht, wenn sie irgendwo auf einer Wüstenstraße mit einem Motorschaden strandet. Sie braucht ihr Auto, um ihre Malutensilien einzukaufen, denn Agnes Martin ist eine bedeutende Malerin, und ihre Bilder der Stille werden in den ganz großen Galerien des Landes ausgestellt. Trotzdem kauft sie keinen Mist ein, sondern nur, was sie braucht. Und das ist fast nichts. „Wenn ich etwas kaufe, das ich nicht wirklich brauche“, sagt sie im TV-Porträt Die Fülle der Leere, „dann habe ich ein schlechtes Gefühl dabei.“ Sie sagt auch, daß die Menschen viel mehr Zeit hätten im Leben, wenn sie nicht so viele unnötige Dinge kaufen würden, für die sie wiederum viel arbeiten müßten.

Agnes Martin ist einen langen Weg gegangen. „Geboren wird man als hundertprozentiger Egoist“, lächelt sie verschmitzt. „Ich erinnere mich noch, wie ich als Neugeborenes das Gefühl hatte, ein kleines Messer in der Hand zu halten. Ich fühlte mich wirklich glücklich und dachte: Mit diesem Messer werde ich mir meinen Weg durchs Leben schneiden, und ich werde jede Minute siegreich sein! – Dann wird man in die Arme der Mutter gelegt, und die Hälfte deiner Siege sind gegangen...!“

Des Menschen Entwicklung verläuft also vom hundertprozentigen Egoisten in der Kleinkindheit zum – hoffentlich – völlig egolosen, geläuterten alten Weisen, der den Tod nicht fürchtet, weil er ganz genau weiß, daß der Tod nur ein Umsteigen, aber keine Endstation ist. „Was wir wirklich tun wollen“, sagt Agnes Martin, die 88jährige, „ist, dem Glück dienen. Wir wollen, daß jedes Wesen glücklich ist.“ Und dann, ohne Resignation: „Wir können nicht ein einziges Lebewesen glücklich machen.“ Natürlich, denn Glück ist ja ein Zustand, den wir uns im Inneren dauerhaft erbauen müssen – ansonsten gleicht er immer nur einem flüchtigen Schmetterling, von den willfährigen Winden des Lebens herbeigeweht und wieder weggetragen. Am ehesten hat jener die Chance, anderen zum Glück zu verhelfen, sagt Agnes Martin, der selbst sein Ego aufgibt. Das bringe einem die glücklichsten Augenblicke ein. Und im Alter, endlich, schwindet auch das Ego. „Alles ist sehr ruhig und schön, und man ist nicht mehr so getrieben.“

Agnes Martin ist ihr Aussehen egal. Sie trägt das immer gleich gestreifte Hemd zur einfachen Jeans und geht etwas unsicher am Stock. Da sie in ihrem Leben ganz und gar zu Sich – ihrem höheren Ich–gefunden hat, ist ihr dies alles keine Plage, sondern eine Chance zu noch mehr innerer Fülle, innerem Glück.

Oscar Wilde, der Dichter, schrieb tragisch: „Wie wenig Menschen vor ihrem Tode im Besitz ihrer Seele sind. Nach Emerson (Ralph Waldo Emerson, amerikanischer Weiser des 19. Jh., die Red.) ist beim Menschen nichts so selten wie eine eigene Willenshandlung; die meisten sind nur Verwirklicher fremden Wollens. Die meisten Leute sind andere Leute. Ihre Gedanken sind die Gedanken anderer. “Sie leben eigentlich nicht, sondern sie werden gelebt. „Sie besitzen Selbstbewußtsein, selten Selbst-Bewußtheit“, nennt es K.O. Schmidt in seinem Buch Schönheit des Alters.

Wer sein Leben lang keinen Versuch unternimmt, sich selbst zu finden und die eigene Bestimmung für dieses Leben, der mag im Alter verbittert sein – unbewußt ob der verpaßten Chance, dem vertanen Leben. „Du lebst dein Leben nur, wenn du wirklich das tust, was du willst. Dies herauszufinden braucht Zeit. Man muß tief darüber nachdenken“, rät Agnes Martin, die mit ihrer Malerei immer tiefer in ideelle Welten vordringt, weil es ihr irgendwann nicht mehr genügte, Gegenständliches zu malen, sondern weil sie zum Beispiel ‘unschuldige Liebe’ darstellen wollte.

Spätestens ab Mitte Vierzig ist der Mensch aufgerufen, sich mehr und mehr der ideellen Welt des Geistes zu öffnen. „Je älter die Leute werden, die ein geistiges Leben führen“, steht im Talmud, „desto weiter wird ihr Horizont, desto reifer ihre Weisheit und desto reicher ihr Leben; die aber ein weltliches Leben führen und nur an den Körper und seine Genüsse denken, werden mit den Jahren noch stumpfer. “Weigert sich der Mensch – spätestens in den Vierzigern, sich dem Geistigen zu öffnen, so droht er zum Midlife- Crisis-geschüttelten Menschen zu werden, der eine zweite Jugend erleben will, indem er sich junges Blut verschafft und einen Sportwagen zulegt. Und da er sich nicht dem Geiste öffnet, werden ihm die heftig betriebenen Vergnügen doch schneller schal, hat alles irgendwann den zermürbenden Beigeschmack des schon x-mal erlebten.

„Ich bin gern alt. Mißlich ist nur die Zeit zwischen 40 und 60, und zwar die zwischen 40 und 50,weilman dann erkennt, daß man nicht wieder jung sein wird, jedoch noch jung genug (aber noch nicht reif genug) ist, um durch dieses Gefühl bedrückt zu werden. Und zwischen 50 und 60 fürchtet man, sich zu einem idiotischen Tattergreis zu entwickeln... Aber dann, nach dem 60. Lebensjahr, kommt die Renaissance: man tritt in eine überraschend neue Lebensperiode ein. Man scheint seine zweite Kindheit zu erlangen. Man fühlt sich wohl, macht sich keine Sorgen mehr und hat ein höchsterfreuliches Gefühl der Freiheit...“.

Der diese Zeilen verfaßte, wußte, wovon er schrieb: George Bernard Shaw nämlich, der englische Schriftsteller, Sozialkritiker und Nobelpreisträger, der immerzu schöpferisch tätig das hohe Alter von 95 Jahren erreichte und Wesen und Aufgabe des Alters als fortschreitende Freiheit erkannt hatte.

Es ist kein Zufall, daß vor allem jene Menschen, die in schöpferischen Berufen tätig sind, oft ein hohes, sehr beglückendes Alter erreichen. Erstens mußten sie sich früh auf sich selbst einlassen, konnten sie ihr Leben lang ihren eigenen Weg gehen, gingen sie einer Tätigkeit nach, die sie liebten, die ihnen entsprach und sie innerlich bereicherte, wurden sie nicht fremdbestimmt und mit 65 Jahren gezwungen, in den ‘Ruhestand’ zu gehen. Der ‘Pensionierungstod’ ist ein klassischer Hinweis auf ein zuvor fremdbestimmtes Leben, durch das sich manche Menschen lebenslang davon abhalten ließen, irgendwelche Tätigkeiten zu pflegen, die sie von Herzen gern machten, die sie innerlich beglückten und bereicherten. K.O. Schmidt rät jedem Menschen, der gegen die Fünfzig geht, eindringlich, sich Hobbies zuzulegen; Liebhabereien, die einen ausfüllen und schöpferisch sein lassen, die einen lebendig und neugierig erhalten. So wird die Pensionierung nicht zum Schock, sondern zum Tor in die Freiheit eines selbstbestimmten, sinnreichen dritten Lebensabschnitts, der umso länger dauern wird, als der Betreffende sich eine heitere, frohe, ausgefüllte Seelenstimmung zu erhalten weiß – während dem Leben des Misanthropen, des Nörglers, des freudleeren Menschen oft aus geradezu göttlicher Barmherzigkeit ein früheres Ende bereitet wird – damit er sich selbst nicht noch mehr Schaden zufüge. „Die Natur ist gerecht: ein Leben ohne Inhalt und ständiges inneres und äußeres Wachstum wird von ihr als bedeutungslos gewertet und früher beendet“, schreibt Schmidt.

Die meisten Menschen begehen den Fehler, das Leben als einen Hügel zu sehen. So Mitte zwanzig hat man seine Kuppe erreicht, spaziert dann im Sonnenschein der ‘besten Jahre’ über dessen Hochplateau, umschließlich, jenseits der fünfzig, langsam wieder hinabzusteigen ins Tal der Dämmerung, des Alters, wo die Kräfte nachlassen und die Sicht entschwindet. Welch kolossaler Irrtum! Denn zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens – ob wir nun zwanzig, vierzig, sechzig oder achtzig sind – befinden wir uns auf dem Höhepunkt aller Leben, die wir jemals hatten – und ohnehin auf dem Höhepunkt der jetzigen Verkörperung. Denn niemals zuvor hatten wir so viele Erfahrungen gemacht, soviel Gutes in unserer Seele gesammelt, wie gerade jetzt – und wenn es auch immer wieder mal Täler zu durchschreiten gibt, wächst das ‘Ewige’ im Menschen nur immer weiter und kann nicht – nicht – zurückfallen!

Und welcher Irrtum zu meinen, der Zerfall sei unabwendbares Schicksal.

Leserstimmen zum Artikel

Alt sein ist sogar sehr schön, dies kann ich mit meinen 92 Jahren wohl schon sagen, bin ich doch, Gott sei Dank, immer noch bei bester Gesundheit, lese, schreibe, koche und besorge meinen eigenen Haushalt. Ihr Artikel sollte allen Menschen Auftrieb geben,wird doch jeder von uns früher ode später in das fortgeschrittene Alter kommen.

E.S., CH-Zürich