Was uns so ganz nebenbei am Leben hält, beinhaltet eine geheime Zutat, die nur wenige kennen. Bewusste Atemarbeit kann unser Leben immens verbessern und sogar Autoimmunerkrankungen heilen.
Meine ersten Erfahrungen mit, sagen wir einmal „Atemarbeit“, waren ein Desaster. Einatmen, ausatmen, so weit, so gut. Doch in diesem Fall sollte der Atem sowohl nach dem Ein- wie nach dem Ausatmen eine Weile angehalten werden. Ich hatte die Sache schlecht eingeteilt und fühlte mich schon nach Sekunden wie ein Fisch, den man aufs Trockene gezogen hatte. Statt in tief entspanntem Atmen übte ich mich in Schnappatmung. Nun, ich bin über die Jahre hinweg kompetenter geworden, was Atemübungen betrifft. Ausgelernt habe ich allerdings noch lange nicht. Denn wie jeder, der sich näher mit der Atmung beschäftigt, schon bald feststellt, bietet unsere Atmung ein unglaubliches Reservoir an Möglichkeiten. Diese gehen weit darüber hinaus, uns einfach mit Sauerstoff zu versorgen und somit am Leben zu halten. Man könnte den Atem auch als körpereigenes Schweizer Taschenmesser betrachten, welches für so ziemlich jede Situation und jedes Bedürfnis ein extra Werkzeug bereithält.
In vielen alten Kulturen war das Wissen um die Macht des Atems vorhanden. Ob Tibeter, Sufis, Taoisten, Hindus, Buddhisten oder Schamanen: Sie alle entwickelten ihre eigenen heiligen Atemtechniken, um das menschliche Dasein zu verbessern und um über den Atem in höhere Bewusstseinsebenen vorzudringen. Im Tao Tsang (oder auch Daozang), den überlieferten Schriften des chinesischen Taoismus, die zwischen 500 v. Chr. und 1400 n. Chr. verfasst wurden, sind mehr als 200'000 Seiten dem Atem gewidmet, wobei es zum größten Teil um lebensverlängernde Atemtechniken geht. Selbst im Westen gehörte das Studium des Atems und der Atemvorgänge im Körper noch bis ins 17. Jahrhundert hinein standardmäßig zur Ausbildung von Ärzten und Anatomen.
Doch in dem Maß, wie das menschliche Dasein und die Medizin industrialisiert wurden, geriet das Wissen um die Heilkraft des Atems in Vergessenheit und hat sich die Art und Weise, wie wir atmen, zusehends verschlechtert bis an den Punkt, dass heute rund 90 Prozent der Menschen falsch atmen. Ganze 40 Prozent leiden unter einer chronischen Verstopfung der Nase und die Hälfte von uns sind gewohnheitsmäßige Mundatmer, wodurch der Körper 40 Prozent mehr Wasser verliert, als wenn wir durch die Nase atmen.
Einer der Gründe, warum wir heute schlechter atmen als unsere Vorfahren, ist der, dass uns durch unsere deformierten Schädel schlicht zu wenig Platz zum Atmen zur Verfügung steht. Deformiert? Ja, in der Tat. Einmal mehr haben wir uns durch die viel gepriesene Industrialisierung zwar zum Teil das Leben einfacher gemacht, doch keineswegs gesünder. Hatten unsere Großeltern und Urgroßeltern noch starke, breite Kiefer, die es gewohnt waren, hartes Brot, knackige Äpfel oder Karotten und dergleichen zu zermalmen, sind unsere Gesichter durch unseren Konsum von weichen, pampigen, industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln in den letzten Jahrzehnten immer stärker geschrumpft. Die Kieferchirurgie, die bei Millionen Kindern für gleichmäßig ausgerichtete Zahnreihen sorgte, gleichzeitig aber deren Kiefer noch zusätzlich verkleinerte, hat ein Übriges getan, dass die Atemluft nicht mehr ungehindert wie ehemals durch unsere Nasen und Münder streift.
Apropos Nase und Mund: Was ist denn nun richtig beziehungsweise gesünder, durch die Nase oder durch den Mund zu atmen? Tatsächlich ist die Antwort sehr einfach. Der Mund ist zum Essen, Trinken, Schmecken, Sprechen, Singen gemacht. Manchmal hat die Mundatmung, vor allem beim Ausatmen oder bei körperlicher Belastung wie Sport, durchaus ihre Berechtigung. Aber es ist die Nase, die zum Atmen vorgesehen ist, und sie ist ein wahres Wunderwerk! Stellen Sie sich vor, Sie halten sich eine Billardkugel vor die Nase, die Sie nun langsam mitten in Ihr Gesicht hineinschieben. Das Volumen der Billardkugel (ungefähr 90 Kubikzentimeter) entspricht dem Hohlraum, den die Nasenhöhlen eines Erwachsenen bilden. Mit jedem Atemzug strömen mehr Luftmoleküle durch Ihre Nase, als Sandkörner an allen Stränden der Welt zu finden sind, Abermillionen Moleküle. Diese gelangen aber nicht auf geradem Weg in die Lunge, sondern sie bewegen sich auf einem spiraligen Wirbelstrom durch die Atemwege.
Verantwortlich dafür sind sechs verschlungene Knochen unseres Schädels, die jeweils an den Nasenöffnungen beginnen und sich bis unter die Augen hinaufziehen. Weil ihre Form, würde man sie auseinanderschneiden, an Muschelschalen erinnert, heißen diese Knochen Nasenmuscheln oder Turbinaten. Doch nicht nur die Form der Turbinaten ist einzigartig, sie bergen in ihrem Inneren noch ein zusätzliches Geheimnis: Sie sind nämlich mit Schwellkörpergewebe ausgekleidet, das heißt mit demselben erektilen Gewebe, das sich auch unter den Schleimhäuten von Penis, Klitoris und Brustwarzen befindet. Unsere Nase ist direkt mit den Genitalien verbunden und kann tatsächlich eine Erektion bekommen. Bei einigen Menschen genügt schon der Gedanke an Sex, um bei ihnen einen lästigen „Flitterwochenschnupfen“ auszulösen. Diese bedauernswerten Zeitgenossen kriegen dann kaum noch Luft und müssen unkontrolliert und heftigst niesen, bis die sexuelle Stimulation wieder nachlässt.
Das Schwellkörpergewebe ist zusätzlich von einer Schleimhaut überzogen, einer klebrigen Zellschicht, welche die vorderste Abwehrstellung unseres Körpers bildet. Diese Schleimhaut feuchtet den Atem an und erwärmt ihn auf Körpertemperatur; zusätzlich werden Staub- und Schmutzteilchen wie auf einem großen Förderband gesammelt und mit einer Geschwindigkeit von zirka 1,2 Zentimeter pro Minute den Rachen hinunter in den Magen transportiert. Dort macht die Magensäure potenziellen Krankheitserregern den Garaus und befördert sie über den Darm wieder aus dem Körper hinaus. Das Schleimförderband läuft jedoch nicht automatisch, sondern verfügt über einen Antrieb. Es handelt sich dabei um die sogenannten Zilien, Millionen haarähnlicher kleiner Geißeln, die den Schleim wellenförmig nach innen und unten befördern. Der Schlag der Zilien ist unglaublich stark, stärker noch als die Schwerkraft. Denn ganz gleich, in welcher Position sich unsere Nase befindet, die Bewegung der Zilien führt immer nach innen und unten. Die Konstruktion unserer Nase bewirkt also, dass die eingeatmete Luft erwärmt, gereinigt, abgebremst und so komprimiert wird, dass die Lungen bei jedem Atemzug die größtmögliche Menge an Sauerstoff aufnehmen können. Atmen wir durch den Mund, findet das alles nicht statt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Nasenatmung ist der, dass in den Nebenhöhlen ein kräftiger Schub an Stickstoffmonoxid freigesetzt wird. Stickstoffmonoxid ist ein wichtiges Signalmolekül im menschlichen Körper, welches Immunsystem, Gewicht, Kreislauf, Stimmung und den Sexualtrieb beeinflusst, es wirkt zudem antibakteriell, antiviral und antifungal. Stickstoffmonoxid ist aber auch ein sogenannter Vasodilatator, das heißt, es erweitert die Blutgefäße und erhöht die Zufuhr von Blut und Sauerstoff zu den Muskeln. Ein ausreichender Stickstoffmonoxidspiegel ist daher essenziell für unsere körperliche Leistungsfähigkeit.
Durch Nasenatmung kann der Stickstoffmonoxidspiegel im Körper versechsfacht werden, weshalb man über die Nase ungefähr 18 Prozent mehr Sauerstoff aufnimmt als durch den Mund. Eine sehr einfache Übung, um in den Nasengängen die Freisetzung von Stickstoffmonoxid um den Faktor 15 zu boosten, ist es, täglich mindestens fünf Minuten lang zu summen. Atmen Sie dazu normal durch die Nase, den Mund geschlossen, und summen Sie dazu irgendeinen Ton oder ein Lied. Und schon haben Sie dafür gesorgt, dass sich die Blutkapillaren erweitern, die Sauerstoffversorgung verbessert wird und die glatten Muskelfasern im Körper entspannen.
Beim Betrachten der Wunderwelt unserer Nase ist jedoch zumindest eine Frage noch offen. Zwar hat die Forschung herausgefunden, dass unsere Nase mit erektilem Gewebe ausgekleidet ist, doch warum? Eine wirklich befriedigende Antwort liegt immer noch nicht auf dem Tisch, doch zumindest weiß man heute, dass dieses spezifische Nasengewebe unseren Gesundheitszustand widerspiegelt. Sind wir krank oder ist der Körper aus anderen Gründen aus dem Gleichgewicht geraten, dann entzündet sich das Schwellkörpergewebe in unserer Nase. Gleichzeitig verstärkt sich der Nasenzyklus. Dieser ist eine weitere Eigenheit unseres „Gesichtserkers“. 1895 beschrieb der deutsche Arzt Richard Kayser erstmals dieses Phänomen, dass sich im Rhythmus von dreißig Minuten bis vier Stunden die beiden Nasenlöcher abwechselnd schließen beziehungsweise öffnen.
Doch schon mehr als tausend Jahre früher fand sich im Shiva Svarodaya, einem alten tantrischen Text, ein Hinweis darauf, dass unsere Nasenlöcher offenbar wie eine Blüte regelmäßig abwechslungsweise auf- und zugehen. Diese Rhythmen wiederholen sich jeden Monat und sind allen Menschen gemeinsam. Der Zweck, so das Shiva Svarodaya, bestehe darin, dass der Körper im Gleichgewicht und im Einklang mit den Rhythmen des Universums und der Mitmenschen bleibt. Diese Erklärung ist durchaus plausibel.
Das rechte Nasenloch nämlich ist wie das Gaspedal. Atmen wir durch dieses Nasenloch ein, wird der Kreislauf beschleunigt, die Körpertemperatur wird höher, der Cortisolspiegel, Blutdruck und die Herzfrequenz steigen. Außerdem wird der linken Hirnhälfte mehr Blut zugeführt, insbesondere dem präfrontalen Cortex, der für logische Entscheidungen, Sprache und Berechnungen zuständig ist.
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