Heutzutage ist es verpönt, krank zu sein. Fit, fröhlich, faltenfrei ist die Devise. Also geben wir uns alle große Mühe, gesund zu bleiben. Wenn wir bloß mehr Zeit dafür hätten! Da kommt es uns gerade recht, dass all die Dinge, die uns guttun, ganz einfach mit einem Griff ins Supermarkt-Regal zu erreichen sind: Vitamine im Trinkjoghurt und Folsäure im Knabberriegel…
Der Arzt hatte es ihm bestätigt: Seine Werte waren wie die eines Neugeborenen, auch die Cholesterinwerte: super. – Das war wenige Wochen, bevor es passierte. Irgendwie hatte er sich immer Sorgen um sein Herz gemacht und deshalb auch besonders auf eine gute Ernährung geachtet. Seine Frau hatte mit ihm gleichgezogen. Zusammen befolgten sie die offiziellen Ratschläge: Wenig Fleisch, eher Fisch. Ab und zu Wein, viel Quark und Käse, aber immer die fettreduzierten Produkte. Wegen dem Cholesterin! Wenig Süßes, dafür viel Salat und Obst. Und immer Margarine, und zwar die besonders gute, die, die das Herz schützt. Weil er sich ja eben wegen des Herzens immer etwas Sorgen machte. Um auf der sicheren Seite zu sein, ließ er sich auch regelmäßig vom Arzt durchchecken. Und da war immer alles im grünen Bereich: kein Übergewicht, kein Bluthochdruck…Traumwerte eben.
Doch dann geschah es immer häufiger, dass er, sobald er zu Fuß eine kleine Steigung zu bewältigen hatte, kaum noch Luft bekam. Der Arzt schickte ihn ins Krankenhaus und dort hieß es: Sofort operieren, wenn wir noch länger warten, sind Sie bald tot. Es war ausgerechnet das Herz, zwei Herzkranzgefäße waren total verkalkt. Die Operation verlief sehr gut, er erholte sich auch ganz schnell, hatte keine Schmerzen. Die herzschützende Margarine allerdings fand im Abfalleimer ein schnelles, unrühmliches Ende nach dem Telefonat mit Dr. med. Oliver Weingärtner, Kardiologe an der Universität des Saarlandes in Homburg/Saar. Der wollte nämlich untersuchen, ob etwas dran war an der Vermutung, dass jene Zusätze in der Margarine, die das Herz schützen sollen, genau das Gegenteil bewirken, also dem Herz schaden. Den frisch am Herzen operierten Patienten bat der Arzt um Mitwirkung bei einer diesbezüglichen Studie. Das war eben jener Moment, da die Margarine im Abfall landete.Die Zusätze in der Margarine – sogenannte Pflanzensterine – sollen die Cholesterinwerte senken und auf diese Weise Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen. Pflanzensterine sind sozusagen das Cholesterin der Pflanzen. Sie kommen natürlicherweise in Gemüse, Olivenöl, Nüssen und Früchten vor, und mit einer ausgewogenen Ernährung nehmen wir davon täglich zirka 200 bis 400 Milligramm auf. Durch eine stark erhöhte Zufuhr von Pflanzensterinen lässt sich der Cholesterinwert tatsächlich um zehn bis fünfzehn Prozent senken. Insofern stimmt das Werbeversprechen der Hersteller. Diese empfehlen übrigens eine Zufuhr von zwei Gramm Pflanzensterinen pro Tag. Wollten wir diese Menge an Pflanzensterinen über die normale Nahrung zu uns nehmen, müssten wir uns wahlweise durch 150 Äpfel, 210 Karotten, 425 Tomaten oder elf Tassen Erdnüsse futtern! Was auch unerwähnt bleibt, mittlerweile aber durch diverse Studien belegt wurde: Eben diese Pflanzensterine führen auch zu einer Versteifung der Adern und lagern sich in den Herzklappen ab, und zwar in lebensbedrohlichem Ausmaß. Die Herzklappen müssen in der Regel ersetzt werden! Nach einer solchen Operation steigt in den Folgejahren das Risiko für einen Schlaganfall. – So erging es auch dem ernährungsbewussten, sich um sein Herz sorgenden Herrn im obigen Beispiel. Wenige Jahre nachdem ihm die künstliche Herzklappe eingesetzt worden war, verstarb er rund 24 Stunden nach einem heftigen Schlaganfall. Ob ihn der jahrzehntelange Margarine-Konsum vorzeitig ins Grab brachte, obwohl er doch alles richtig gemacht, Ämtern, Ärzten und der Werbung geglaubt hatte – das lässt sich natürlich nicht beweisen.
Dass Aufstriche wie Becel, Lättaund Co. schaden können, ist den verantwortlichen EU-Behörden sehr wohl bekannt und sie schreiben entsprechende Warnhinweise auf den Produkten vor: Der Konsum sei auf maximal drei Gramm pro Tag zu beschränken. Wer cholesterinsenkende Mittel einnimmt, sollte vor dem Verzehr des Produkts seinen Arzt konsultieren. Für Schwangere, Stillende und Kinder unter 5 Jahren ist es nicht geeignet. (Ja, doch, wir sprechen hier immer noch von einem „Lebensmittel“, nicht von einem Medikament.) – Leider werden die Hinweise kaum gelesen. Umfragen haben gezeigt, dass nur knapp die Hälfte der Käufer wirklich unter einem erhöhten Cholesterinwert leidet. Bei 36 Prozent von diesen essen auch die Partner mit, die keine erhöhten Cholesterinwerte haben! Andere kaufen das Produkt wegen des Geschmacks, wegen der Werbung oder allgemein, um ihren eher ungesunden Lebensstil auszugleichen. In 29 Prozent der Haushalte werden diese Produkte auch von Kindern konsumiert. Man kann also getrost davon ausgehen, dass Millionen Menschen durch den Genuss solch vermeintlich gesunder Nahrungsmittel täglich ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.
Das Beispiel mit der Herzschutz-Margarine ist nur die Spitze des Eisbergs. Machen Sie die Probe aufs Exempel und beachten Sie einmal bei Ihrem nächsten Gang durch den Supermarkt, auf wie vielen „normalen“ Produkten Dinge draufstehen wie: „plus 10 Vitamine“, „mit Folsäure und Eisen“, „mit Vitamin C und A“, „12 Vitamine und Mineralstoffe“. Und dann schauen Sie mal noch auf Werbeversprechen wie „stärkt Ihre Abwehrkräfte“, „gut für die Verdauung“, „die Extraportion Energie“. Besonderen Spaß macht dieses Spiel übrigens in der Abteilung mit Babynahrung…
Ein durchschnittliches Frühstück kann durchaus so aussehen: Flocken von Kellogg’s mit einem LC1-Joghurt von Nestléangemacht, ein Glas Multivitaminsaft von Hohes C plus ein Glas Milch mit Nesquik oder Ovomaltine. Dazu vielleicht noch ein Brötchen mit Becel pro.activ… Alle diese Lebensmittel sind in irgendeiner Form angereichert mit Vitaminen, Bakterienkulturen, Mineralstoffen etc. Welche Menge dieser meist künstlichen Stoffe man sich so über den Tag hinweg einverleibt – wohlverstanden als gesunder Mensch, bei dem kein erhöhter Bedarf für irgendeinen dieser Inhaltsstoffe diagnostiziert wurde – lässt sich gar nicht berechnen. Ob unsere Körper mit dieser unkontrollierten Flut von industriellen Zusätzen überhaupt umgehen können, darüber machen sich wohl die wenigsten Gedanken. Zu normal und allgegenwärtig sind derartige Esswaren.
Dass diese Produkte wohl kaum einem humanitären Engagement der Nahrungsmittelmultis entspringen, wird dabei oft vergessen. Vielmehr handelt es sich bei den Lebensmitteln mit Zusatznutzen, dem Functional Food, um einen der letzten Wachstumsmärkte auf den gesättigten Lebensmittelmärkten der westlichen Industrieländer. Allein in Deutschland werden von den Konsumenten jedes Jahr mehr als drei Milliarden Euro für Nahrungsmittel mit vermeintlichem Gesundheitsnutzen ausgegeben! Nestlé beispielsweise konnte den Umsatz mit solchen Produkten alleine zwischen 2004 und 2007 um mehr als 23 Prozent jährlich steigern – im Gegensatz zu den gewöhnlichen Lebensmitteln: Dort nahm der Umsatz nur gerade um mickrige 6,2 Prozent zu. Nestlé-Verwaltungsratschef Peter Brabeck möchte den Konzern denn auch gerne als Pionier „einer ganz neuen Industrie zwischen Nahrung und Pharma“ positioniert sehen. Man würde gerne „akuten und chronischen Krankheiten des 21. Jahrhunderts vorbeugen und sie behandeln.“ – Ja, ja, wir sprechen immer noch von Lebensmitteln…
Um ein arg strapaziertes Klischee zu bemühen: Früher war das alles noch viel einfacher. Es war einfacher festzustellen, woher die Lebensmittel stammten, nämlich in der Regel von den Bauern aus der Umgebung, aus dem eigenen Garten oder aus Wald, Wiese und Wasser. Vor allem war ziemlich klar, wer sich um die Zubereitung der Mahlzeiten kümmerte und wer definierte, was gesunde Ernährung ist: Hausfrauen, Köche und Ärzte. Nun sind im Big Business der Gesundheitsnahrung noch etliche Player mehr hinzugekommen, nämlich Chemiker, Analysten, Investoren, Unternehmensberater, Juristen… Sie agieren nach ganz anderen Kriterien, monetären vorwiegend. Dass es dabei nicht in erster Linie darum geht, die Kundinnen und Kunden mit hochwertigen, gesunden Lebensmitteln zu fairen Preisen zu versorgen, liegt auf der Hand. Mit Äpfeln und Zucchini lässt sich nun einmal nicht das große Geld machen. Und dann ist das Zeug auch noch leicht verderblich… Daher ist das Shelf Life, also die Lebensdauer eines Artikels im Regal, ein wichtigerer Faktor. Das bedeutet, Produkte werden nicht gemäß der Bedürfnisse der Menschen hergestellt, sondern richten sich primär nach den Bedürfnissen der Industrie. Außerdem nimmt sich dieselbe durchaus auch einmal die Freiheit, die Menschen zuerst darüber aufzuklären, wo deren Bedürfnisse überhaupt liegen.
Anfang der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts beispielsweise war den Konsumentinnen und Konsumenten offenbar nicht klar, dass sie zu wenig Vitamin C zu sich nahmen. Erst als die Marketingabteilung der Firma Roche eine neue Gesundheitsstörung erfand – die „Unterversorgung“ mit Vitaminen – konnte dafür ein Bewusstsein geschaffen werden. Tatsächlich konnte der Schweizer Historiker Beat Bächi anhand interner Unterlagen von Roche nachweisen, dass der Bedarf für Vitamin C damals gezielt erzeugt wurde. 1933 war es dem polnischstämmigen Chemiker Tadeusz Reichstein nämlich gelungen, Vitamin C künstlich herzustellen. Die Patente an dieser Erfindung wollte er gerne an Roche verkaufen. Doch der Pharmariese lehnte ab mit der Begründung, Erwachsene könnten ihren Vitamin C-Bedarf gut durch den Genuss von Gemüse und Früchten decken und außerdem gäbe es, außer Skorbut, keine Krankheit, die sich mit Vitamin C behandeln ließe. Doch bald stellte Roche fest, dass mit künstlichem Vitamin C eigentlich viel Profit zu machen wäre, insofern es gelänge, die Konsumenten davon zu überzeugen, dass sie davon zu wenig abbekämen. „Die Aufgabe lautete also: durch Propaganda, die sich an den Intellekt richtet und via Intellekt den Selbsterhaltungstrieb als Agens einspannt, überhaupt erst das Bedürfnis zu schaffen.“ Roche startete daher erst einmal eine „Aufklärungskampagne zur Einhämmerung des Begriffes ‘Vitamin-C-Defizit’ bei Ärzten“, bei der man die Ärzte bat, positive Gutachten zu verfassen, da man Mediziner benötigte, um „dem äußerlich gesunden Patienten eine neue Krankheit anzudichten“ und so „überhaupt erst ein Bedürfnis [zu] schaffen.“ Es ging darum, „dem Konsumenten mundgerecht zu machen, woran der Konzern ein Interesse hat.“ Wer glauben will, dass solche „Ausrutscher“ den Marketingabteilungen nur im 20. Jahrhundert passiert sind, darf dies natürlich tun. – Übrigens ist sich die Wissenschaft bis heute nicht einig darüber, wie viel Vitamin C wir benötigen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt 45 Milligramm pro Tag, Deutschland, Österreich und die Schweiz 100, die USA zwischen 75 und 90, England hingegen knapp 40. Fröhliches Rätselraten…
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