Wie aus Kindern Killer werden

Im Durchschnitt verbringen heute Kinder und Jugendliche deutlich mehr Zeit vor dem Fernseher und am Computer als in der Schule: über fünfeinhalb Stunden täglich, Tendenz steigend. Wissenschaftler und Experten schlagen Alarm und erklären, wie sowohl Gehirn als auch Seele dabei Schaden nehmen – und warum das im Extremfall zu amoklaufenden Zombies führen kann.

Die natürliche Hemmung, anderen Menschen Gewalt anzutun, wird gezielt durchschlagen.

Der Präsident der deutschen Stiftung für Verbrechensbekämpfung, Hans-Dieter Schwind, hat nach dem Amoklauf von Winnenden1 in Deutschland ein totales Verbot von Computergewaltspielen gefordert. Der Neuen Osnabrücker Zeitung sagte der Professor für Kriminologie: „Daß der 17-Jährige auf der Flucht noch weiter um sich geschossen hat, ist ein Verhalten, das Jugendliche auch in Spielen wie Counterstrike oder Crysis lernen können.“ Die Ermittlungen der Polizei haben denn auch ergeben, daß der Täter von Winnenden gewalttätige Computergames gespielt hat. „Wir haben bei ihm unter anderem das Spiel Counterstrike gefunden“, berichtete ein Polizeisprecher. Der Amokläufer habe in den Monaten zuvor viel Zeit mit Gewaltspielen am Computer verbracht. Zu seinen Hobbys gehörte auch das Schießen mit Softairwaffen.

Die Politik will vorerst einmal zumindest prüfen lassen, ob der Zugang zu Gewaltdarstellungen in Medien eingeschränkt werden kann und soll. In der Schweiz hat das Parlament im März 2010 zwei Vorstöße gutgeheißen, die darauf abzielen, brutale Killergames zu verbieten. Nun soll die Landesregierung ein entsprechendes Gesetz vorbereiten.

Die Welt äußerte sich seinerzeit bestürzt und entsetzt über den Amok-Lauf an Virginias Technikerschule vom 16. April 2007 im amerikanischen Blacksburg. Dort stellte der Mörder Cho Seung Hui einen neuen traurigen Rekord auf. Ihm gelang es, dreiunddreißig Leute umzubringen. Die meisten mit nur einem Schuß. Eine „Leistung“, die professionelle Schützen kaum erreichen. Dabei soll der Mörder aus Verzweiflung darüber ausgerastet sein, daß man ihn in psychiatrische Behandlung geben wollte.

Killerspiele sind Landminen für die Seele. Jugendliche und junge Erwachsene, aber auch schon Fünfjährige, sitzen heute Stunden, Tage und Nächte vor Computern und Spielekonsolen. In „Spielen“ wie Counterstrike, Doom, Call of Duty, Halo, Crysis, Grand Theft Auto IV, Manhuntund anderen üben sie systematisches und exzessives Töten mit Waffen vom Maschinengewehr bis zur Kettensäge. Sie demütigen, foltern, verstümmeln, zerstückeln, erschießen und zersägen Menschen an ihren Bildschirmen. Längst ist wissenschaftlich nachgewiesen, daß Mediengewalt und vor allem Killerspiele verheerende Wirkungen insbesondere auf junge Menschen haben. Dies spiegelt sich auch in den aktuellen Polizeistatistiken wider. Gerade unter jungen Menschen nimmt das Gewaltpotential ständig zu: Gewaltdelikte werden immer häufiger und brutaler.

Killerspiele entstammen den professionellen Trainingsprogrammen der US-Armee, mit denen man Schußtechnik, Zielgenauigkeit und direktes Reagieren auf auftauchende Gegner einübt: Die Soldaten werden desensibilisiert und für’s Töten konditioniert, die Tötungshemmung wird abgebaut.

Das Töten muß gelernt sein

Der Militärpsychologe und Oberstleutnant Dave A. Grossman unterrichtete Militärwissenschaften an der US-Militärakademie Westpoint. 1998 beendete er seine Soldatenlaufbahn, um die Killology Research Groupzu gründen und sich der Erforschung des Tötens zu widmen. Heute schreibt er Bücher, hält Vorträge und wird als Experte zu Gerichtsverfahren und Kongreßausschüssen hinzugezogen.

„Zum Töten sind drei Dinge notwendig: Man braucht die Waffe, das Können und den Willen zum Töten“, erklärt der ehemalige Schießtrainer. „Die Videospiele liefern zwei davon, nämlich die technische Fertigkeit und den Willen zum Töten.“ Dave Grossman erfuhr in seiner persönlichen Praxis als Ausbilder, daß es einige Jahre harten Trainings braucht, um jemandem die Fähigkeit und vor allem den Willen zum Töten beizubringen. Es ist wider unsere menschliche Natur, einen Menschen umzubringen. Wir haben eine angeborene biologische Hemmschwelle, jemanden der eigenen Gattung zu töten.

„In der gesamten uns bekannten menschlichen Geschichte haben Menschen gegeneinander gekämpft. Den antiken Kämpfen gingen immer viel Lärm und eine große Schau voraus. Erst wenn sich eine Seite zur Flucht wandte, begann das Gemetzel. Die meisten starben an Stichen, die sie in den Rücken bekamen. Das machen die Berichte der antiken Militärschriftsteller sehr deutlich.“

Im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) war es nicht anders: „Mit den damaligen Waffen und bei der damaligen Strategie hätte ein Regiment etwa 500 bis 1’000 Mann pro Minute töten können, tatsächlich fielen im Kampf aber nur ein bis zwei Mann pro Minute. Nach der Schlacht von Gettysburg sammelte man auf dem Schlachtfeld 27’000 zurückgelassene Musketen ein. 90 Prozent davon waren geladen. Das ist ungewöhnlich, weil man damals 95 Prozent der Zeit zum Laden und nur 5 Prozent zum Feuern benötigte. Noch ungewöhnlicher war, dass von den geladenen Waffen über die Hälfte mehrmals geladen waren. Bei einer Waffe steckten noch 23 Kugeln im Lauf. – Die Leute setzten sich dem Feuer aus, sie waren bereit zu sterben, aber sie brachten es nicht über sich, selbst zu töten. Töten muß gelernt werden.“

Für ihren Einsatz im Zweiten Weltkrieg hatten die US-Soldaten an Zielscheiben geübt – und im Einsatz an der Front jämmerlich versagt: Die meisten konnten sich nicht überwinden abzudrücken.

„Also entwickelten wir Tötungssimulatoren“, führt Grossman aus. Statt auf runde Scheiben mußten die Soldaten auf Scheiben mit menschlichen Umrissen schießen. Doch weil echte Munition teuer ist, ging man bald dazu über, Schlachtfelder möglichst realistisch auf den Bildschirm zu bringen, damit feindliche Soldaten virtuell niedergeschossen werden können.

Computerspiele für das Militär

„Das Marine Corps erwarb die Rechte auf das Computerspiel Doom und setzte es als taktisches Übungsmittel ein. Die Armee griff auf Super-Nintendo zurück“, erklärt Dave Grossman bei seinen Vorträgen. „Sie kennen sicher das alte Spiel „Entenjagd“ aus den Spielsalons. Wir ersetzten die Plastikpistole durch ein M-16 aus Plastik, und statt Enten huschen Bilder von Menschen über den Bildschirm. Das erwies sich als sehr wirksam.“

Auch bei der Polizei sind solche Computerspiele, pardon „Schußwaffenübungssimulatoren“, im Einsatz. Allerdings wird den Ordnungsbeamten eingebleut, daß sie nur im äußersten Notfall abdrücken dürfen. Wer vergleichbaren Schießspielen in den Arkaden und Spielhallen frönt, kennt diese Zurückhaltung allerdings nicht. Und bei den heutigen Computerspielen ist sie geradezu hinderlich, weil der Spieler sonst innerhalb von Sekunden selbst „erschossen“ wird. Da soll es doch lieber beim virtuellen Gegner „game over“ heißen!

Grossman, vom Saulus zum Paulus geworden, erkennt die Gefahr: „Das sind Mordsimulatoren. Hier sprechen wir nicht mehr vom Tötungssimulator für Einzelne, die widerstrebend und unter besonderen Umständen töten müssen. Hier handelt es sich um Geräte und Spiele, die Kindern zur Verfügung stehen, deren einziger sozialer Zweck es ist, dem Kind die Fähigkeit und den Willen zum Töten beizubringen.“

Mit gewalttätigen Computerspielen üben Kinder das Töten, Abend für Abend. Sie schießen dabei auf alles, was ihnen vor’s Rohr kommt. Solche Verhaltensmuster werden zu Automatismen, die unter Streß wieder an die Oberfläche kommen. So bemerken Polizisten nach einer Schießerei häufig erstaunt, daß sie in der Hitze des Gefechts unbewußt die leeren Patronenhülsen in die Hosentasche gesteckt hatten. Warum? Weil sie es auf dem Schießplatz so gelernt hatten.

Das ist bei jugendlichen Amokläufern nicht anders. Dave Grossman ist überzeugt, daß diese ursprünglich nur eine einzige Person töten wollten: „In der Regel war das ihre Freundin oder ein Lehrer, jemand, der sie tief enttäuscht hatte. Aber dann, wenn sie schossen, konnten sie nicht mehr aufhören. Sie schossen auf alles, was sich noch regte, bis ihnen die Ziele ausgingen oder die Munition.“ Unter den Opfern sind manchmal sogar Freunde der Täter, die ihren Blutrausch im Nachhinein selbst nicht erklären konnten.

Killer-Training für Kinder

Alles, was wir „spielend“ am Computer trainieren, wiederholen wir unter Streß in ähnlichen Situationen automatisch, ohne darüber nachzudenken. Bei Streß übernimmt nämlich das Reptilienhirn in uns die Führung – der Instinkt, zu flüchten oder zu kämpfen.

„Seit 5000 Jahren dreschen wir aufeinander mit Holzschwertern ein und spielen mit Kindergewehren „peng, du bist tot“, schreibt Grossman. „Aber sobald jemand verletzt wird, hört das Spiel auf.“ Auch im Mannschaftssport werde das Spiel unterbrochen, wenn jemand gefoult werde und der Schiedsrichter bestrafe den Übeltäter. „Beim Killerspiel nun blase ich dem virtuellen Mitspieler den Kopf weg, tausend Male fließt Blut. Aber komme ich deswegen in Schwierigkeiten? Im Gegenteil, dafür kriege ich meine Punkte. Das ist pathologisches Spiel.“

An Ego-Shootern bilden sich Kinder zu gefährlich effektiven Tötungsmaschinen aus. So gibt es in vielen Computerspielen Bonuspunkte für besonders effektives Töten, wie beispielsweise ein Kopfschuß.

Laut FBI-Statistik treffen ausgebildete Beamte bei einem Schußwechsel, wenn sie fünf Mal schießen, in der Regel nur ein Mal. Dem entgegen steht ein vierzehnjähriger Junge aus Paducah im amerikanischen Bundesstaat Kentucky. Er stahl eine Pistole Kaliber 22, nahm sie in die Schule mit und schoß achtmal auf acht verschiedene Kinder: Fünf Kugeln trafen jeweils den Kopf, die anderen drangen in die Oberkörper der Kinder ein. Dave Grossman hat jahrelang Elitekämpfer der Polizei und Armee ausgebildet – und dabei nie einen ähnlich guten Schützen erlebt. Wenn Kinder oder Jugendliche immer wieder vor dem Bildschirm das Zielen und Schießen trainieren, sind sie schon bald besser als ein professioneller Schütze, der einige Jahre auf dem Schießstand übt. Sie schießen wesentlich öfter, mit größerer Präzision und auch viel billiger, als es Soldaten je tun. „Spielend“ werden unsere Kinder und Jugendlichen so zu perfekten Killern, auch wenn sie noch nie eine richtige Waffe in Händen hielten.

Bei Kindern und Jugendlichen stellt sich nach stundenlangem täglichen Spielen Realitätsverlust ein. Als man in Littleton im US-Bundesstaat Colorado an der Columbine Schule über Lautsprecher bekannt gab, es habe ein Massaker stattgefunden, haben einige Schüler applaudiert. Dieser erschreckende Realitätsverlust ist auch eine Folge gewalttätiger Computerspiele. Sie unterziehen den Spieler einer Gehirnwäsche, in deren Verlauf moralische Werte auf den Kopf gestellt und abtrainiert werden. Man wird dazu konditioniert, beim Töten nicht Abscheu, sondern Genugtuung oder Freude zu empfinden.

Quellenangaben

  • 1 Der Amoklauf von Winnenden ereignete sich am Vormittag des 11. März 2009 in Winnenden, rund 20 Kilometer nordöstlich von Stuttgart, sowie in Wendlingen am Neckar. Dabei wurden 15 Menschen ermordet. Elf Menschen – einige von ihnen schwer verletzt – mußten in Krankenhäuser eingeliefert werden. Der 17-jährige Täter, Tim Kretschmer, wurde nach mehrstündiger Flucht von der Polizei gestellt und erschoß sich schließlich selbst.