...hat uns zu Gefühlssüchtigen werden lassen. 'Ich fühle, also bin ich' scheint das Motto der heutigen Zeit zu sein. Für ein Gefühl lassen wir alles hinter uns, was uns je teuer war. Doch Gefühle sind wankelmütig, unsicheren Sandburgen gleich. Dennoch ist es möglich, den Himmel der Gefühle zu erklimmen - und dauerhaft in ihm glücklich zu werden.
Was war es aus geistiger Sicht? Vielleicht könnte man es ein Jahrhundert der Erweckung nennen, da die hereinkommende Strahlung in vielen Menschen die Sehnsucht nach tieferer Sinnhaftigkeit im Leben, tieferem Empfinden und höherem Glück stimulierte. Es war bestimmt eine Zeit, da die Menschheit als ganzes ihre Liebesfähigkeit verstärken sollte, da sie lernen sollte, nicht nur das eigene Kind, den eigenen Partner, Mutter und Vater (vielleicht!) zu lieben, sondern auch den Nachbarn, den Vorgesetzten und den Menschen, der einem auf der Straße begegnet – egal, ob man ihn kennt und egal, ob er dieselbe Hautfarbe hat wie man selbst.
Um den Menschen liebesfähiger, liebesstärker werden zu lassen, muß seine Gefühlskraft intensiviert werden. Ohne die Fähigkeit zu fühlen gibt es keinen erfahrbaren Ausdruck für die Liebe, denn diese äußert sich über das Gefühl, als Mitgefühl, als Barmherzigkeit, als Hingabe, als Sorgetragen, als Umhegen, als Geben schlechthin. Es dürfte also im Plan gewesen sein, daß der Mensch seine Gefühlsnatur stärker entwickle. Denn wie alle Qualitäten des Menschseins war sie nicht einfach von Anfang an vorhanden, sondern unterliegt einer Entwicklung. Zuerst war da im Menschen nur eine primitive Indifferenz, die über das Schmerzempfinden zu einer instinkthaften Gefühlsnatur führte, die weitgehend von primitiven, rohen Leidenschaften dominiert wurde.
Irgendwann war der kosmische Augenblick gekommen, da im Menschen die feineren, romantischen Gefühle geweckt werden mußten, die schon länger in ihm keimten, denen aber aufgrund gesellschaftlicher Konventionen nicht Ausdruck gegeben werden durfte. Beethovens Musik diente als Ventil dazu (siehe ZeitenSchrift Nr. 5) und galt deshalb zu ihrer Zeit denn auch als unerhört unanständig. Mendelssohns Musik diente ein paar Jahrzehnte später der Entwicklung des Mitgefühls für die Ärmeren, Schlechtergestellten, Leidenden, die man in früheren Jahrhunderten einfach erbarmungslos ihrem Schicksal überlassen hatte.
Auf der Ebene der Gedanken hatte der Mensch beim Instinkt begonnen, dann drang er zur konkreten und schließlich zur abstrakten Intelligenz vor – wo wir uns heute befinden – und in der Zukunft wird diese intellektuelle Denkfähigkeit abnehmen zugunsten eines neuen, intuitiven Erkennens und Wissens – und schließlich einer direkten Inspiration, wenn der Mensch denken wird, wie seine Göttliche Gegenwart denkt – es also keine Trennung mehr zwischen dem niederen Denken der Persönlichkeit geben wird und dem höheren, vollkommenen Denken der eigenen ICH BIN-Gegenwart.
Genauso wird die Emotionalität, in der sich die meisten Menschen heutzutage noch immer befinden, sich wandeln zu einer höheren Form der Empfindsamkeit und Sensibilität, werden sich die Gefühle verfeinern und klären, bis sie schließlich nur noch positiv und gut sind und allesamt getragen von göttlicher Liebe.
In den letzten Jahrzehnten befanden wir uns am Punkt, wo die reine Emotionalität sich schon hätte wandeln sollen in feinere, liebevollere, positivere Gefühle – solche der Brüderlichkeit und des Mitgefühls für alles Leben. Die Menschen begannen sich in nie gekanntem Ausmaß für Gefühle zu interessieren. Und dies ist nicht besonders erstaunlich, denn mit dieser Stimulierung der Gefühlsnatur in uns begannen wir immer mehr, uns mit unseren Gefühlen zu identifizieren. Ist unser vorherrschendes Gefühl glücklich und freudig, empfinden wir das Leben als schön und uns selbst als glückliche, vom Leben gesegnete Wesen, selbst wenn wir in den Augen anderer vielleicht Mangel erleben oder uns in einer wenig beneidenswerten Situation befinden. Ist unser vorherrschendes Gefühl Trauer, Frustration, Enttäuschung oder Groll, dann ist unser ganzes Leben verdüstert, und wir bezeichnen uns nicht als glückliche Individuen – selbst wenn wir von außen gesehen alles haben, was einen Menschen glücklich machen sollte. Ein Gefangener, der sich verliebt hat und wiedergeliebt wird, mag daher sein Leben als schöner empfinden als ein Millionär mit schöner Frau und artigen Kindern, der in sich nichts als Leere und Überdruß fühlt.
Im Augenblick scheint es also so, daß unsere Gefühlsnatur sehr stark geworden ist, wir jedoch noch ihr Sklave sind und nicht die Seelenstärke entwickelt haben, der Herr unserer Gefühle zu sein – was damit anfängt, sich nur schon mal bewußt zu sein, daß man nicht seine Gefühle ist.
Wie es aussieht, gibt es auch Kräfte, die um jeden Preis verhindern möchten, daß der Mensch jemals zum Herrn seiner Gefühle wird – und die im Gegenteil ihn immer stärker an seine eigene, wildgewordene Gefühlsnatur ketten möchten. Zum einen füttern sie den Appetit unserer Gefühlsnatur über Film und Fernsehen mit immer stärkeren Dosen von Spannung, Horror, Entsetzen, aber auch schmachtenden, romantischen Gefühlen und unerfüllbaren Sehnsüchten. Der Mensch früherer Jahrhunderte hatte eine Erlebniswelt, und die war real. Der Mensch von heute hat unzählige Erlebniswelten, die er per Knopfdruck in seine Gefühlswelt rufen kann, und die deren Begierden immer unersättlicher werden lassen. Viele Menschen sind fernsehsüchtig, ohne sich dies einzugestehen, und ein Abend, an dem kein guter Krimi oder sonst ein fesselnder Film ausgestrahlt wird, ist ein verlorener Abend. Ihre Gefühlsnatur geht unbefriedigt zu Bett. Sie ist nicht ausreichend gefüttert worden. Und darin liegt eine weitere Gefahr: Daß wir darauf abgerichtet werden, mit Gefühlen gefüllt und gefüttert zu werden, ohne daß wir etwas dafür tun müssen (außer faul auf dem Sofa zu liegen). Kein Wunder, bringen wir solcherart passiv gemacht und aufs Konsumieren getrimmt dann kaum mehr die Kraft auf, im Bett selbst schöne Gefühle für den Partner zu erzeugen – denn das bedeutet ja Arbeit, und die scheuen wir um so mehr, als wir erleben, daß wir ohne einen Finger zu rühren gefühlsmäßig befriedigt werden können. (Umfragen zufolge herrscht im Bett um so mehr Ebbe, als die Gefühlsflut im Fernsehen steigt).
Fassen wir also zusammen: Der Mensch von heute wird regelrecht zu einem Gefühlsjunkie gemacht (er läßt es zu), was dazu führt, daß er immer abhängiger von Emotionen wird – die natürlich, dem Suchtgesetz zufolge, nur dann befriedigt werden können, wenn sie mit immer stärkeren Reizen verbunden sind. Also immer größerem Horror und Entsetzen, immer unerträglicherer Spannung, immer geileren Szenen, immer unberechenbareren und ausufernderen romantischen Berg- und Talfahrten. Das Abnormale, das Kranke wird so auf einmal normal und Gewohnheit. Was die nachmittäglichen Talkshows (die zum Glück schwer reduziert wurden) noch immer an Themen bieten, ist widerlich und abstoßend, wird aber von Millionen von Hausfrauen täglich beim Bügeln oder bei einer Tasse Kaffee aufgesogen – und irgendwann finden sie es normal, wenn ein Schwuler nur befriedigt wird, wenn sein Partner ihm Windeln anzieht und ihn ins Babybettchen legt – von den Sadomaso-Scheußlichkeiten ganz zu schweigen. Oder bei der Show von Arabella Kiesbauer: Da läßt ein Partner eines Paares den Treuetest machen. Der Sender schickt dem nichtsahnenden Teil des Pärchens eine Person vorbei, die alles unternimmt, um ihn/sie zur Untreue zu verleiten. Am Schluß sieht man sich in der Sendung wieder, und der/die Auftraggeber/in weiß nicht, wie der Test ausgegangen ist. Jene Person, die getestet wurde, tut erst so, als hätte sie sich neu verliebt und wolle vom früheren Partner nichts mehr wissen. Erst wenn dieser weint, ist das Ziel erreicht, und man kann dann ja enthüllen, daß es gar nicht wahr ist und die alte Beziehungswelt noch voll in Ordnung. Als ob dies so wäre, nachdem man so mutwillig mit dem Gefühlskörper Bungee-Jumping gemacht hat!
Was also aufgeputscht und stimuliert wird, ist die niedere Gefühlsnatur des Menschen, die gleichzeitig auch immer mehr abstumpft – bis hin zur totalen Gefühllosigkeit, die dem gefühlsidentifizierten Menschen dann wie das ödeste Gefängnis erscheint. Denn fühlt er nicht, ist er nicht. Und weil seine Gefühle so stumpf und roh geworden sind, glaubt er nur noch ein Gefühl von Lebendigkeit in sich entdecken zu können, wenn er sich selbst niedersten Trieben und Leidenschaften hingibt - oder roher Gewalt.
Diese – für manche wohl allzu krassen – Worte sollen zeigen, was heute mit uns gespielt wird – und wo wir enden, wenn wir es nicht erkennen und dem üblen Spiel ein Ende bereiten. Wie dies geschehen kann, davon später.
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