Tinnitus: Dieses ständige Schrillen im Kopf ...!

Niemals Ruhe. Der permanente Lärm im Ohr peinigt immer mehr Menschen. Tinnitus kann höllisch sein. Seine Ursachen sind vielschichtig, haben aber meist weniger mit Lärm als mit (seelischem) Stress zu tun. Was hilft?

Es rauscht, brummt, summt, klickt, kratzt, klingelt oder zwitschert. Manchmal pfeift es sogar schrill. Und das leider häufig pausenlos. Mag es anfangs auch nur zeitweilig auftreten (und den Betroffenen eine trügerische Harmlosigkeit suggerieren), so kann sich das leicht ändern: Ohrgeräusche begleiten viele Menschen vom Moment des Aufwachens, bis sie abends einschlafen. Manchmal kann man es ausblenden. Manchmal aber möchte man am liebsten schreien, um den Lärm im Kopf zu übertönen.

In den letzten Jahren hat sich Tinnitus zu einem Volksleiden entwickelt, das sich immer stärker verbreitet. Europaweit sind schätzungsweise 40 bis 65 Millionen Menschen davon betroffen (so die Bandbreite von zwei aktuellen Studien). Etwa 26 Millionen davon fühlen sich deswegen in ihrem Alltag stark beeinträchtigt. Laut einem zu Beginn dieses Jahres in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichten Forschungspapier klagt heute jeder siebte Europäer über Tinnitus, wobei die Frauen etwas häufiger darunter leiden als die Männer; möglicherweise aufgrund der häufigen Doppelbelastung als Mutter und Arbeitnehmerin? Immerhin gilt Stress als häufiger Tinnitus-Auslöser. Zudem gibt es deutliche länderspezifische Unterschiede – von Irland mit 8,7 Prozent bis zu Bulgarien mit 28,3 Prozent Bevölkerungsanteil. Eine Erklärung dafür haben die Wissenschaftler nicht. In den USA leidet schon jeder fünfte Amerikaner daran, das sind über 67 Millionen, und bei den Jugendlichen fast jeder dritte!

Ohrklingeln in der Jugend ist leider häufiger Vorbote einer künftigen Schwerhörigkeit. Deshalb schlugen Forscher an der kanadischen McMaster Universität bereits 2017 Alarm, als sie aufgrund einer Studie viel mehr junge Tinnitus-Leidende im Alter zwischen elf und siebzehn Jahren fanden als erwartet. „Es ist ein wachsendes Problem“, warnte Studienleiter Larry Roberts. „Meiner Meinung nach werden sich Gehörschäden zu einem Hauptproblem des Gesundheitswesens auswachsen.“

Deshalb sollten gerade die Tinnitus-Zahlen aus den Vereinigten Staaten aufhorchen lassen, denn die US-Bürger gelten als das am stärksten gestresste Volk der Welt. Schon 2007 hatte ein Drittel der Amerikaner, die häufig zwei oder drei Jobs ausüben müssen, um ihre Lebenskosten bezahlen zu können, über „extremen Stress“ geklagt. Seither sind die Zeiten keineswegs entspannter geworden. Chronischer Stress ist aber nicht nur eine wichtige Ursache von Tinnitus, sondern er lässt auch das Gehirn rosten – vor allem den für das Gedächtnis wichtigen Hippocampus sowie den Frontallappen, den Regisseur in unserem Gehirn. Die Folgen sind Demenz, Depressionen und der Verlust kognitiver Kontrolle. Man verliert also die Fähigkeit, bewusst, überlegt und aufmerksam zu handeln. Und fühlt sich darüber hinaus oft auch noch todunglücklich. Antidepressiva sind aber auf Dauer keine Lösung. Zumal sie häufig Tinnitus auslösen, wie übrigens auch bestimmte Krebsmedikamente und pharmazeutische Entzündungshemmer (zum Beispiel Ibuprofen oder Aspirin).

Ein Hilfeschrei der Seele

Wie stark Ohrgeräusche, Stress und Depression zusammenhängen, offenbart die Statistik: Unter den erwachsenen Tinnitus-Patienten leiden über drei Viertel zugleich an psychischen Problemen; 62 Prozent davon sind depressiv, 45 Prozent haben Angst-Störungen. Emotionale Erschöpfung – das Gefühl, durch chronischen Stress ausgelaugt zu werden – ist nicht nur ein Vorbote von Tinnitus, sondern führt häufig dazu, dass sich schon bestehender Tinnitus massiv verschlimmert. Deshalb forderte ein Forschungspapier bereits vor zehn Jahren: „Will man das Hörvermögen erhalten, so sollten insbesondere Menschen mit mildem Tinnitus, die einer hohen Stressbelastung ausgesetzt sind, Methoden für Stressmanagement lernen.“1 Denn Tinnitus betreffe nicht nur das auditorische System (also den eigentlichen Hörvorgang), sondern habe ganz klar auch psychosomatische Ursachen.

Diese Schlussfolgerung von Wissenschaftlern birgt Sprengkraft in sich, weil sie die Psyche als Grund für Tinnitus mindestens so stark gewichtet wie Lärm. Zweifellos kann das tägliche Hören zu lauter Kopfhörermusik bei Jugendlichen und Pendlern Ohrgeräusche und später eine Hörschwäche bewirken. Genauso, wie berufsbedingter Lärm das Risiko für Tinnitus und Schwerhörigkeit nachweislich verdoppelt. Trotzdem reagiert das Gehör ebenso sensibel auf das Wimmern der Seele wie auf das Quietschen einer Bremsscheibe. Wir mögen diesem emotionalen Faktor wenig Bedeutung beimessen, doch in Wahrheit bestimmt er darüber, ob zum Beispiel ein wegen eines Knalls geplatztes Trommelfell wieder so schön zusammenwächst, dass kaum Narben und Hörbeeinträchtigungen zurückbleiben – oder aber das Ohr taub bleibt.

Im März 2021 kam die bisher umfangreichste Tinnitus-Studie der EU zum Schluss: „Neben den oft unbekannten Ursachen“ sei die größte Herausforderung „die innewohnende Heterogenität: Verschiedene Patienten leiden unter verschiedenen Formen des Tinnitus“, so Projektleiter Winfried Schlee von der Universität Regensburg. Deshalb gebe es auch keinen „Goldstandard“ in der Behandlung. Dass man also jeden Patienten einzeln und in einem ganzheitlichen Sinn auch dessen Lebensumstände betrachten muss, ist ein weiterer Hinweis darauf, wie stark sich die seelische Befindlichkeit einer Person auf Tinnitus und Hörvermögen auswirkt.

Das zeigte auch die Corona-Zeit: Eine Untersuchung des Tinnituszentrums der Uni Regensburg ergab bereits im April 2020 eine signifikant höhere Tinnitusbelastung der Teilnehmer als zwei Jahre zuvor. Die Forscher glauben, dies hänge stark mit dem erlebten Lockdown-Stress zusammen. Es gibt nämlich keinen Hinweis darauf, dass Coronaviren Hör- oder Hirnzellen angreifen. „Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass emotionaler Stress und Ängste in diesem Fall die Hauptursache sind“, so der Arzt und Schlafforscher Dr. med. Michael Feld.