Die Frau, die den Jungbrunnen fand

Gladys McGarey (1920–2024), bekannt als „Mutter der ganzheitlichen Medizin“, war 80 Jahre lang praktizierende Ärztin. Im Alter von über 100 Jahren blickte sie auf ihr Leben zurück und schenkte uns einen inspirierenden Wegweiser, der uns zeigt, wie wir Heilungs- und Lernprozesse aktivieren können, um jeden Tag des Lebens in vollen Zügen genießen zu können.

Die Ärztin Gladys McGarey im Alter von 102 Jahren.

Im Nachhinein betrachtet hatte die Behinderung, die Gladys McGarey als junges Mädchen hatte, etwas Gutes. Doch damals verstanden weder sie noch ihre Lehrer, weshalb dem Mädchen die Buchstaben beim Lesen vor den Augen verschwammen. Heute ist das Phänomen als Legasthenie bekannt. Das hatte zur Folge, dass das Mädchen im ersten Schuljahr fest davon überzeugt war, dumm zu sein. Ihre Lehrerin verstärkte das noch, indem sie sie ständig wegen ihrer Fehler bloßstellte. Nicht nur das, auch ihre Schulkollegen hänselten sie deswegen. So entwickelte sich Gladys zu einer Kämpferin, raufte sich mit den Jungs auf dem Spielplatz und verprügelte nach der Schule die Mädchen. Sie hatte keine Freunde und fühlte sich schrecklich einsam.

Kurz vor der Pubertät begann Gladys McGarey die ganze Tragik ihrer Situation zu realisieren. „Ich lag im Bett und begriff, dass ich mein Leben lang keinen einzigen Freund und keine einzige Freundin haben würde, wenn ich nichts änderte“, schrieb sie in ihrem autobiografischen Buch. In diesem bewegenden Moment entschied sie sich, mehr wie ihre Mutter sein zu wollen, die viel Liebe für sie und ihre Geschwister hatte. Fortan wollte sie Menschen, die sie provozierten, mit Witz, Klugheit und Selbstbewusstsein begegnen und nicht länger mit Zuschlagen. Dieser Perspektivenwechsel prägte das Leben der späteren Ärztin in vielerlei Hinsicht. Denn damals hatte sie nicht nur aufgehört, gegen andere Kinder zu kämpfen, sondern auch gegen das Leben selbst. Die Entscheidung, nicht mehr zu kämpfen, sei rückblickend eine der wichtigsten Erkenntnisse ihres Lebens. „Sie entstand aus meinem Schmerz. Aus der Einsamkeit, der Ablehnung und der Angst, dass es immer so bleiben könnte. Bis zu diesem Moment war ich nicht fröhlich oder unbeschwert, sondern schwer und düster. Doch dann änderte sich alles für mich“, schrieb Gladys McGarey. Denn seit jenem Tag richtete sie ihre ganze Energie täglich auf das aus, was positiv ist und glücklich machte. Sie begann, das Leben als einen Lehrer zu betrachten und sich vom Leben lehren zu lassen. Und genau diese Lebenshaltung prägte auch ihre Beziehung mit ihren späteren Patienten. Wie kaum etwas anderes war Gladys McGarey als Ärztin bestrebt, den Menschen zu vermitteln, dass wahre Gesundheit darauf beruht, die unvermeidlichen Herausforderungen des Lebens sowie Krankheit und Schmerz aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten, um tiefe Lebensfreude und Zufriedenheit zu empfinden.

Außerdem waren ihr ihre Eltern große Vorbilder. Sie waren Ärzte und Missionare und widmeten ihr Leben der Aufgabe, Menschen zu helfen, die hilfsbedürftig und ausgestoßen waren und unter Schmerzen litten. In dem von ihnen gegründeten Frauenkrankenhaus in Rourkee, Indien, in den alljährlichen Wintercamps und in einer kleinen Gemeinde in Kansas, USA, wo die Familie während der Großen Depression1 lebte, behandelten sie unzählige Patientinnen und Patienten. Meist nahmen sie wenig oder gar kein Geld für ihre Arbeit.

Trotz ihrer Schwierigkeiten mit dem Lesen war für Gladys McGarey schnell klar, dass sie ebenfalls Ärztin werden wollte. Kein leichtes Unterfangen, gab es damals doch nur ganz wenige Hochschulen, die Frauen zum Studium zuließen. Um überhaupt eine Chance zu haben, wurde ihr gesagt, dass sie klüger, härter und insgesamt eine bessere Ärztin sein müsse. Doch es waren ganz andere Gefühle, von denen sie sich leiten ließ, als sie mit dem Studium begann – nämlich Zuneigung und Hingabe an die Menschen, wie sie sie von ihrer Mutter so gut kannte. Sowie auch von jenem besonders intensiven Gefühl, das sie bei einer ganz besonderen Begegnung im Alter von neun Jahren empfand.

Es war Anfang 1930, als Gladys McGarey zusammen mit ihrer Familie in einem Zug von Delhi nach Bombay (heute Mumbai) saß, um Indien zu verlassen und in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Die Eltern hatten für längere Zeit Heimaturlaub bekommen. Doch Gladys war traurig und suhlte sich in Selbstmitleid, denn an ihrer Schule hatte sie endlich eine Lehrerin gefunden, die sie mochte. Auch das von ihr über alles geliebte Kindermädchen Ayah musste sie in Indien zurücklassen – in ihren Armen konnte sie sich immer ausweinen, wenn sie von der Schule nach Hause kam, nachdem sie sich mit den Kindern geprügelt hatte. Sie saß also in jenem Zug, als dieser plötzlich immer langsamer wurde. Entlang der Bahngleise formierte sich eine gewaltige Menschenmenge zu einem Prozessionszug. Die Frauen trugen ihre besten Kleider, und die Kinder tanzten und warfen Blumen. In ihrem Wagen begannen die Menschen, aus den Fenstern zu klettern und sich hinauszustürzen, um sich einzureihen, wieder andere rannten mit donnernden Schritten über die Metalldächer der Waggons. Als der Zug wieder etwas schneller fahren konnte und die Prozession überholte, sah Gladys McGarey die Menschen, die vorneweg marschierten. „In der ersten Reihe stand ein kleiner Mann in einem einfachen weißen Dhoti –, einem Tuch, das um seine Taille und seine Oberschenkel gewickelt war, in der Hand ein Holzstab, den sogenannten Lathi. Obwohl die Sonne erbarmungslos brannte, schritt er fröhlich dahin, ganz erfüllt von seiner Lebensaufgabe. Inzwischen riefen die Leute seinen Namen, aber ich wusste schon, dass ich den Mann sah, von dem mir meine Eltern so respektvoll erzählt hatten und der inzwischen zu einer Legende geworden war. Der Mann, der die Menschen aus ihrer Unterdrückung befreite und sie in das Licht der Selbstermächtnis führte, war Mahatma Gandhi“, berichtete Gladys McGarey in ihrem Buch.

Der Zug hielt an und nach dem stundenlangen monotonen Rumpeln sei die plötzliche Stille fast elektrisierend gewesen. Gladys McGarey erinnerte sich, dass ein Kind mit einer Blume in der Hand auf Gandhi zulief. Dieser blieb stehen, bückte sich und nahm die Blume entgegen. „In diesem Augenblick erkannte ich, dass sein ganzes Wesen von großer Liebe erfüllt war. Er ging weiter und blickte zurück, nicht nur zu den Menschen hinter ihm auf den Dächern, sondern auch zu denen, die ihn hinter den Gitterstäben der Zugfenster beobachteten. Und ich schwöre, für eine Sekunde sah er mich direkt an“, so Gladys McGarey. Sie habe in ihrem Leben viel Liebe erfahren, aber die Liebe dieses Mannes werde sie nie vergessen. „Es war, als ob er meine Traurigkeit, Indien zu verlassen, meine Angst und meine Hoffnung zugleich sah und alles zuließ. Er schaute mich mit einer unvergesslichen Liebe an – einer Liebe, die meine Seele erkannte.“ Dann habe er sich umgedreht und die Menge weitergeführt. Gladys McGarey war Zeugin von Gandhis historischem Salzmarsch, einer gewaltlosen Protestaktion gegen die britischen Bestimmungen zur Salzgewinnung. Seit diesem Tag war dies ihr großer Traum geblieben: Auch Gladys McGarey wollte die Menschen ebenfalls durch Liebe heilen.

Nun, es überrascht nicht, dass Gladys McGarey während ihrem Medizinstudium mit ihren Professoren und den angehenden Ärzten in Konflikt geriet: die beiderseitigen Vorstellungen vom Heilen wichen ziemlich voneinander ab. Während es den Ausbildern darum ging, Krankheiten zu bekämpfen, stellte die angehende Ärztin stets die Frage nach dem Warum: Was war der Grund, weshalb eine bestimmte Krankheit überhaupt auftrat? Weil sie außerdem während dem Unterricht strickte, um sich besser konzentrieren zu können, machte sie sich bei den Ausbildern nicht sehr beliebt – bis zum Punkt, an dem sie sogar eine Überweisung an einen Psychiater erhielt. Die dafür verantwortliche Dekanin meinte dazu, dass die damals noch als Gladys Taylor bekannte Studentin den Sinn der Medizin überhaupt nicht zu verstehen scheine und dass sie höchstwahrscheinlich völlig ungeeignet für den Arztberuf sei. Doch die junge Frau wehrte sich: „Im Unterricht dreht sich alles ums Bekämpfen, und nie hören wir ein Wort darüber, dass Liebe heilen kann“, sagte sie selbstbewusst. Aus der Sicht der Dekanin mussten Krankheiten jedoch bekämpft werden, weil sie Menschen töten. Und das habe nichts mit Liebe zu tun.

Nun, der Psychiater erklärte Gladys Taylor für völlig gesund. Doch diese Erfahrung erschütterte die junge Studentin bis ins Mark. „Ich begriff, dass mich das medizinische Establishment niemals so akzeptieren würde, wie ich war. Rückblickend wurde mir damals klar, dass ich der Medizin meinen Stempel aufdrücken musste, indem ich die Dinge auf meine Weise tat.“ Und das tat sie. Nach erfolgreichem Abschluss des Medizinstudiums erlernte Gladys McGarey auch wirksame alternative Heilverfahren und eine Reihe von Behandlungsmethoden aus westlichen, östlichen und indigenen Medizinsystemen – lange bevor andere Ärzte einen solchen Ansatz verfolgten. In der Tat gilt Gladys McGarey heute als Pionierin der ganzheitlichen Medizin – und inspiriert ganze Generationen von Medizinern und Heilpraktikern.

In ihrem berührenden Buch Was ein gutes Leben ausmacht gab die Ärztin ihre sechs Geheimnisse für ein gutes und erfülltes Lebens weiter – deren Erkenntnis wurzelt teilweise in den Erfahrungen ihrer Kindheit. Schauen wir uns diese deshalb etwas genauer an.