Paulus, der eifrige Pharisäer

Er verhalf dem Christentum zu seiner späteren Größe – und legte gleichzeitig den Grundstein für dessen größtes Versagen und seine schlimmsten Schandtaten: der „Apostel der Heiden“, der vom Saulus zum Paulus wurde.

Apostel Paulus

Paulus, der Religionsstifter: Keiner der Apostel hat das Christentum stärker geprägt.

Kein Missionar hat sich in der Verbreitung des Christentums größere Verdienste errungen als Paulus. Und kein anderer hat die ursprüngliche Lehre von Jesus derart massiv verfälscht.

Paulus wurde in der Stadt Tharsos (heutige Südtürkei) in eine streng religiöse jüdische Familie hineingeboren und verbrachte seine Jugend in Jerusalem, wo ihn der bekannte Rabbi Gamaliel zum Pharisäer ausbildete, wie Paulus selbst schrieb. In seinem religiösen „Eifer für das Gesetz“ tat sich Saulus – so hieß er vor seiner Bekehrung – als Inquisitor der Jerusalemer Tempelpriesterschaft hervor. Er war ein Bluthund, der die ersten Christen erbarmungslos verfolgte und verhaftete, sie foltern und sogar hinrichten ließ.

Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet dieser fanatische Vertreter des pharisäischen Judaismus sich später zum Christentum bekehrte. Will man seinen Schilderungen glauben, so erlebte Paulus gar Außergewöhnliches: Jesus soll ihm vor Damaskus in gleißendem Licht während einer „Vision“ erschienen sein. Das steht zumindest in den Paulusbriefen. Doch wie wir heute wissen, entspricht diese Schilderung nicht den tatsächlichen Begebenheiten. Denn in Wahrheit hatte Paulus seinen später von ihm zum Gott erklärten Herrn quicklebendig in Damaskus angetroffen. Jesus hatte nämlich die Kreuzigung überlebt und war nach Norden ins angrenzende Syrien geflohen, wo bei Damaskus eine große Essener-Gemeinschaft lebte. Diese bot ihm so lange Schutz, bis er sich aufmachte, seine lange Reise nach Kaschmir anzutreten.1

Jesus war ein Mitglied eben dieser mystisch-spirituellen Bewegung gewesen, von denen manche auch als Nazarener bekannt waren.2 Deshalb nannte man ihn auch „Jesus den Nazarener“ – und nicht etwa „Jesus von Nazareth“. Die heutige Stadt Nazareth entstand erst mehr als dreihundert Jahre nach dem Wirken Jesu in Palästina.

Es war damals kein Geheimnis, dass eine große Schar von Anhängern Jesu in Damaskus lebte. Aus diesem Grund war Paulus ja dorthin gereist. Wahrscheinlich wusste er sogar, dass Jesus nicht gestorben sein konnte (er hing bei weitem nicht lange genug am Kreuz) und vermutete ihn in Damaskus, wo er sich auch tatsächlich befand. Was liegt also näher, als dass sich die beiden Männer dort zum ersten Mal Auge in Auge gegenüberstanden und Paulus im persönlichen Kontakt von der Person Jesu stark genug beeindruckt wurde, um seinem Hass auf die Christen abzuschwören?

Verfälschtes Neues Testament

Paulus’ „Vision von Jesus“ ist nur eine von vielen Stellen in den Briefen des Neuen Testaments, wo man es mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Es ist bekannt, dass vor allem die Paulusbriefe nachträglich massiv verfälscht wurden. Viele Theologen stimmen mittlerweile darin überein, mit Ausnahme der Briefe von Jakobus, Petrus, Johannes und Judas habe man alle übrigen Episteln umgeschrieben, um sie den Interessen der Kirche anzupassen.

Selbst die Evangelien wurden nicht verschont. Der weltbekannte Bibelforscher Robert Eisenman behauptet in seinem monumentalen Werk über den Herrenbruder Jakobus:3 „Tatsächlich kann man fast so etwas wie eine Faustregel aufstellen: Wann immer eine Aussage des Paulus – der nach eigenem Eingeständnis Jesus nie leibhaftig sah [was vermutlich nicht stimmt; die Red.] und keinerlei direkte Kenntnis von dessen Lehre hatte – eine Parallele in den Evangelien besitzt, kann man unbesorgt davon ausgehen, dass sie von ersterem in die Textredaktion der letzteren eingeflossen sind, und nicht umgekehrt.“

Ja, sogar – oder besser: vor allem – die Apostelgeschichte kann nicht für bare Münze genommen werden. Das biblische Buch soll die Chronik der frühen Christen und ersten Missionare enthalten. Der evangelische Theologe Hermann Detering schreibt beispielsweise in seinem Buch Der gefälschte Paulus: „Die Apostelgeschichte gleicht, wie man seit Langem in Theologenkreisen weiß, in vieler Beziehung eher einem phantastischen, wunderbaren Roman als einer geschichtlichen Darstellung, auch wenn sich ihr Verfasser im Vorwort den Anschein des Historikers gibt und den Gepflogenheiten antiker Historiker in seiner Darstellung folgt. Bei der Darstellung von Person und Werk des Apostels [Paulus] gehen Irdisches und Himmlisches, Geschichtliches und Legendäres darin wunderbar und ununterscheidbar durcheinander.“

Was die 13 Paulus-Briefe betrifft, geht Detering noch einen Schritt weiter. In seinen Augen sind sie nicht bloß nachträglich manipuliert worden, sondern allesamt Fälschungen aus der Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Seine mit wissenschaftlicher Genauigkeit dargelegte Dokumentation lässt eigentlich keine Gegenargumente mehr zu. Demnach wären die Paulusbriefe von Marcion (85-160 n. Chr.) verfasst worden, den die römisch-katholische Kirche im Jahr 144 exkommuniziert hatte. Markion von Sinope, wie man ihn auch nennt, gilt seither als Erzketzer, gründete er doch eine eigene Kirche mit gnostischen Einflüssen, die vor allem im östlichen Mittelmeerraum bis ins sechste Jahrhundert Bestand hatte.

Neuer Wein in alten Schläuchen?

In seiner Schrift Zur Unglaubwürdigkeit des Judäo-Christentums geht Prof. Dr. phil. Hans-Jürgen Hagel ebenfalls auf Marcion ein: „Es erhebt sich darüber hinaus die Frage, ob Marcion auch – oder gerade deswegen – exkommuniziert wurde, weil er den jüdischen Gott ‚Jahwe’ nicht als den ‚Vater Jesu Christi’ anzuerkennen vermochte und aus eben diesem Grund forderte, die unübersehbare Bindung an die Hebräische Bibel [das Alte Testament] zu lösen.“ Marcion war der erste Theologe, der systematisch einen Unterschied definierte zwischen einem guten Gott der Liebe des Neuen Testamentes, wie er von Jesus als Vater verkündigt wurde, und einem bösen und rachsüchtigen Gott des Alten Testamentes.

Friedrich Nietzsche urteilte in Jenseits von Gut und Böse: „Dieses Neue Testament, eine Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem Alten Testament zu einem Buche zusammengeleimt zu haben, als ‚Bibel‘, als ‚das Buch an sich‘: das ist vielleicht die größte Verwegenheit und ‚Sünde wider den Geist‘, welche das literarische Europa auf dem Gewissen hat.“4

Auch Hagel erkennt „eine unüberbrückbare Kluft“ zwischen der „Christlichen Bibel“ und der „Hebräischen Bibel“: „hier der grausame jüdische Gott ‚Jahwe’, dort die unjüdische ‚Christusinkarnation’“. Zwar sei Erlösung der zentrale jüdische Begriff der damaligen Zeit gewesen, so Hagel weiter, „aber kein rechtgläubiger Jude dachte im Entferntesten an die unjüdische Erkenntnis, Jahwe würde für ihn seinen einzigen Sohn als Verbrecher ans Kreuz schlagen lassen“. Auch die Behauptung, das Alte Testament sei eine Art Vorstufe des Christentums, „ist schlichtweg falsch“. Denn was „christlich ist, kann man aus dem Alten Testament nicht ersehen“, schrieb einst Adolf von Harnack (1851-1930), der bedeutendste protestantische Theologe und Kirchenhistoriker des beginnenden 20. Jahrhunderts. Wikipedia beschreibt Harnacks christliches Selbstverständnis mit den Worten: „Jesus habe das Kultische, das im Judentum galt, beiseite geschoben. Er setzte nicht auf kultische Reinigung und Heiligung, sondern allein auf die Seele des Menschen. Das moralische Handeln des Einzelnen, seine Werke der Liebe würden entscheiden, ob der Einzelne in ein Reich Gottes eingehe oder nicht. Das römisch-katholische und das orthodoxe Christentum sei dem Kult des Judentums ähnlich.“

Wir dürfen nicht vergessen, dass fast alle der frühen Anhänger von Jesus Juden waren. Viele dieser Judenchristen, welche logischerweise auch die überwiegende Mehrheit der Jerusalemer Gemeinde ausmachten, konnten die geistige Dimension von Jesu Botschaft der Liebe nicht vollständig erfassen. Denn jene „frühen Christen waren nicht einfach Juden“, erklärt der bekannte britische Bibelforscher James Dunn, „sondern blieben nämlich weiterhin ziemlich orthodoxe Juden“.

Aus diesem Grund hatte Jesus seine Jünger schon frühzeitig vor den Lehren der Pharisäer und Sadduzäer gewarnt (Mat. 16:6 & 12) und deren mangelnde Rechtschaffenheit angeprangert (Mat. 5:17-20). Die Pharisäer und Schriftgelehrten schimpfte er „blinde Heuchler“, die anderen Wasser predigen würden und selber Wein tränken. Er nannte sie „Verblendete voller Untugend“ oder „Schlangen und Otterngezücht“ (Mat. 23:1-33). Und was Jesus generell vom geistlos gelebten Judaismus seiner Zeit hielt, kann man im Johannesevangelium (Kapitel 8) nachlesen. So enthalten denn auch alle vier Evangelien Jesu eindringliche Warnung, man solle den neuen Wein [seiner Lehre] nicht in die alten Schläuche [der judaistischen Traditionen] füllen, weil er sonst verderbe (Mat. 9:17).

Die Vermischung von jüdischem und christlichem Gedankengut nahm indes bereits mit Paulus ihren Anfang. Durch die persönliche Begegnung mit Jesus wandelte sich Saulus der Pharisäer zwar zu Paulus, dem Apostel der Heiden – zu jenem Missionar, der die „frohe Botschaft“ (das „Evangelium“) den Nichtjuden verkündete. Doch Paulus’ eigene Herkunft wurde dem jungen Christentum zum Verhängnis. Als strenggläubiger Jude erzogen, dachte er natürlich auch wie ein Jude. In der Tat ist der Judaismus sehr gesetzestreu, doch die Vorstellung des Göttlichen im Menschen ist ihm fremd – genauso wie einem jüdisch geprägten Christentum.

Wo ist Gott?

Mit Jahwe und Jehova beten sowohl Juden als auch Christen einen Gott an, der getrennt vom Menschen existiert. Einen auf dem Himmelsthron sitzenden alten Mann mit wallendem Bart. Einen Gott, den sich die Juden damals schon durch die strikte Einhaltung der von ihrem Glauben vorgeschriebenen Gesetze wohlgesinnt zu machen hofften. Es sind dies religiöse Vorschriften, die den äußeren Ablauf des täglichen Lebens bis ins kleinste Detail bestimmen und viel wichtiger zu sein scheinen als die innere Reifung der Seele: Bis auf den heutigen Tag müssen sich orthodoxe Juden 613 Talmudgeboten unterziehen.

Das gilt es zu bedenken, wenn man Paulus verstehen will, der Jesus nach dessen Mission in Palästina bestenfalls flüchtig gekannt hatte und nie einer seiner engen Gefährten gewesen war. Da Paulus wie so viele seiner Zeit nicht verstand, was der Christus im Innern bedeutet, machte er aus Jesus das Einzige, was ihm vertraut war und die Juden vor allem anderen erwarteten: einen gottgleichen Messias im Äußeren. Mit einer solchen Vorstellung konnte auch die hellenistische Welt der „Heiden“ etwas anfangen. Einen Gott, der sich für die Welt aufopfert, kannte man bereits im Mithraskult, der sich im Römischen Reich großer Beliebtheit erfreute. Im griechischen Tragödientheater griff man ebenfalls gerne und häufig auf den Kunstgriff des „Deus ex machina“ zurück: Wann immer sich die menschlichen Figuren in Konflikte verstrickten, die sie aus eigener Kraft nicht mehr lösen konnten, wurde mit einer kranähnlichen Hebemaschine ein „Gott“ auf die Bühne gehievt, der dann kraft seiner himmlischen Macht wieder alles ins Lot brachte und die Menschen von ihrem Leiden erlöste.

Durch seine persönliche Interpretation vom Menschen Jesus machte Paulus diesen im Grunde ungewollt zu einem ebensolchen Versatzstück aus einem antiken Theaterspiel. Das mag mit ein Grund gewesen sein, weshalb Paulus’ Heidenmissionierung so erfolgreich war (er unternahm mehrere Reisen durch das Mittelmeergebiet und legte dabei ungefähr 8‘000 Kilometer zurück). Den Menschen war dieses Konzept nicht nur vertraut, sondern auch angenehm – bescherte es ihnen doch einen Messias, der die anstrengende Erlösungsarbeit stellvertretend für alle anderen übernommen hatte.

Goethe goss seine Meinung über den theologischen Sündenfall des Paulus in die poetischen Worte: „Jesus fühlte rein und dachte nur den einen Gott im Stillen; der ihn selbst zum Gotte machte, kränkte seinen heilg’en Willen.“5

Die Essenz seiner Erlösungstheologie goss Paulus in die These, dass der Mensch nur von der Gnade Gottes errettet werden könne, niemals aber durch seine guten Taten, sondern „allein durch den Glauben“ (Römerbrief 3:28): den Glauben an Jesus Christus den Erlöser, der am Kreuz für unsere Sünden gestorben sei.

Glaube oder Werke?

Mit dieser Behauptung ging Paulus auf direkten Konfrontationskurs mit Jakobus, dem leiblichen Bruder von Jesus. Jakobus, den seine Zeitgenossen den „Gerechten“ nannten, war der eigentliche geistige Anführer jener ersten „Christen“-Gemeinschaft, die sich selbst nur als „DER WEG“ bezeichnete und damit auch der erste „Bischof“ von Jerusalem6. Kein Wunder, wurde Paulus von den übrigen Aposteln der Jerusalemer Gemeinde beschuldigt, „ein anderes Evangelium“ und einen „anderen Jesus“ zu verkünden. Worauf Paulus in seinen Briefen immer wieder beteuert: „Hört die Wahrheit, die ich euch verkünde! Glaubt mir, ich lüge nicht!“

Denn Jakobus hatte die Menschen immer wieder gewarnt, dass ein Glaube ohne gute Taten wertlos sei, leblos wie ein Körper ohne Geist (Jak. 2:26). Dies entsprach der Essenz von Jesu Lehren, der den Blick seiner Zuhörer auf das göttliche Potenzial in ihrem Innern gelenkt hatte und sie ermahnte, dieses auch praktisch zu leben: „Lasst euer Licht vor den Menschen scheinen, dass sie eure guten Werke sehen mögen und euren Vater im Himmel verherrlichen!“ (Mat. 5:16). Kurz vor seiner Verhaftung erinnerte Jesus seine Jünger nochmals daran, dass der Christus (oder Menschensohn) einem jeden Menschen „vergelten wird nach seinen Werken“ (Mat. 16:27).

Quellenangaben

  • 1 Den Report Jesus starb nicht am Kreuz! finden Sie auf unserer Internetseite.
  • 2 Die Nazarener waren ein Orden innerhalb der Essener.
  • 3 Robert Eisenman: James, the Brother of Jesus (1996)
  • 4 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 614f. (Nr. 52)
  • 5 J.W. v. Goethe: West-Östlicher Divan