Der Ozean braucht uns – und wir ihn!

Müsste man ein einziges Wort wählen, um die Meere und Ozeane zu beschreiben, vielleicht wäre „unendlich“ das richtige. Unendliche Weite, unendliche Tiefe, unendlicher Reichtum, unendliche Freiheit, unendliche Fülle, unendliche Schönheit. Ja, aber auch: unendliche Vermüllung, unendliche Ausbeutung, unendliche Gier, unendliche Dummheit und – unendlich krank. Lesen Sie hier, wie es heute um die Ozeane steht und wie wir dafür sorgen, dass der Reichtum der Meere nie zur Neige geht.

Unsere Ozeane zu schützen und nachhaltig zu nutzen bedeutet den Schutz des Lebens selbst.

António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen

Unser blauer Planet ist einzigartig im Universum. Bislang ist kein anderer Planet bekannt, auf dem Wasser in solcher Fülle vorhanden ist wie auf der Erde. Tatsächlich bedecken die Ozeane fast zwei Drittel der Erdoberfläche. Das sind rund 1,3 Milliarden Kubikkilometer Wasser, eine schier unvorstellbare Menge. Wäre die Erde eine Scheibe, könnte man das Meerwasser darauf fast drei Kilometer in die Höhe stapeln. Und wie die Wissenschaft herausgefunden hat, stammt alles Leben auf der Erde ursprünglich aus dem Meer. Die Ozeane sind Heimat für unzählige Lebewesen. Wie viele es sind, das wissen wir noch nicht einmal. Schätzungen zufolge sind dem Menschen magere zehn Prozent aller Meereslebewesen bekannt, wobei wir selbst von diesen nur gerade wissen, dass es sie gibt und wie sie aussehen. Auch sonst kennen wir dieses immense Wasserreich noch kaum. Bloße fünf Prozent der Meere und Ozeane haben wir bis jetzt erforscht. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, was die Meere alles für diesen Planeten leisten. Sie bestimmen das Weltklima, der gesamte Wasserkreislauf dieses Planeten hängt von den Meeren ab – und somit auch unser Trinkwasser. Auch für den gesamten Kohlenstoff-Sauerstoff-Zyklus sind die Ozeane maßgebend. Sie können rund ein Viertel des CO2-Ausstoßes aufnehmen und 93 Prozent der Erderwärmung. Plankton und Bakterien in der obersten, knapp hundert Meter tiefen lichtdurchfluteten Meeresschicht produzieren Sauerstoff, und zwar in solcher Menge, dass man mit gutem Gewissen behaupten darf, jeder zweite Atemzug stamme aus dem Meer. Die Ozeane sind Kinderstube und Lebensraum für unzählige Spezies und stützen durch ihre biologische Diversität die Funktion und Stabilität von Ökosystemen. Und nicht zuletzt sind die Fische der Meere für Milliarden von Menschen die wichtigste Eiweißquelle und Nahrungsgrundlage. In einem Satz: Ohne das Meer könnte der Mensch auf diesem Planeten nicht überleben.

Fünf nach zwölf: Das Meer, die Wiege des Lebens, liegt im Sterben.

Fünf nach zwölf: Das Meer, die Wiege des Lebens, liegt im Sterben.

Wenn sonst nichts, müsste uns zumindest der gesunde Menschenverstand sagen, dass wir dieses kostbare, doch fragile Ökosystem, das uns in solcher Fülle beschenkt und dem wir Wohlstand, Reichtum und unser Leben verdanken, behandeln sollten wie einen wertvollen Schatz, mit Ehrerbietung, Respekt und größter Sorgfalt. Doch dem ist nicht so. Wir gebärden uns wie Nimmersatte, die den Kropf nicht voll genug bekommen können. Wie ungezogene Kinder schreien wir ständig nach mehr, und wenn schon beinahe alles weg ist, wühlen wir noch in den tiefsten Schichten, um uns auch noch die letzten Kostbarkeiten einzuverleiben. Was wir dem Meer und seinen Bewohnern angetan haben und fortfahren anzutun, hat dazu geführt, dass es schon weit später ist als fünf vor zwölf. Die Uhr tickt so laut, dass es uns in den Ohren dröhnen und bis in die Knochen erschüttern sollte, denn kippt das Ökosystem Meer, gerät der gesamte Planet Erde ins Trudeln.

Seit Mitte des letzten Jahrhunderts entsorgen Länder wie die USA, Russland, Japan sowie mehrere europäische Staaten ihren Atommüll im Meer. Obwohl seit 1993 die Verklappung von festem Atommüll im Meer verboten ist, nachdem man feststellen musste, dass Fässer mit radioaktivem Abfall im Ärmelkanal zu lecken begannen, ist bis heute das direkte Einleiten von radioaktiven Abwässern aus Atomkraftwerken in die Ozeane erlaubt. Doch die Direkteinleitung von Kühlwasser aus Atomkraftwerken ist schon deswegen unverantwortlich, weil dadurch das thermische Gleichgewicht im Meerwasser empfindlich gestört wird. Bereits eine Erhöhung der Wassertemperatur um nur ein Grad kann bedeuten, dass einzelne Tier- oder Pflanzenarten ausgelöscht werden. Hinzu kommt, dass Stoffe wie Kobalt 60, Cäsium 137 oder Plutonium 399 jahrtausendelang strahlen und sich über die Nahrungskette in allen Organismen anreichern. Für alle Lebewesen steigt somit das Risiko für Tumore, Genmutationen oder andere gesundheitliche Schäden.

Die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 ist in besonderem Maß für die radioaktive Belastung der Ozeane verantwortlich, und da man rechnet, dass die Aufräumarbeiten dreißig bis vierzig Jahre dauern werden, ist noch lange kein Ende in Sicht. Erst im Juni 2017 wurden neue Rekordwerte an Radioaktivität in Fukushima gemessen.

Die Auswirkungen von Fukushima zeigten sich schon nach kurzer Zeit deutlich an der nordamerikanischen Westküste. So wurden bei Eisbären, Seehunden und Walrossen an der Küste Alaskas kahle Stellen im Fell und offene Wunden beobachtet; in Kalifornien starb die Seehundepopulation in fast schon epidemischem Ausmaß. Fische bluteten aus Kiemen, Augäpfeln und Bäuchen, die Population des Rotlachses vor Kanada und Alaska sank auf ein historisches Tief. 2012 ergab ein Test in Kalifornien, dass sämtliche untersuchten Blauflossen-Thunfische radioaktiv verseucht waren. Und in Kanada stellte man fest, dass die meisten von Japan importierten Fische mit Cäsium 137 belastet waren, nämlich 73 Prozent der getesteten Makrelen, 91 Prozent des Heilbutts, 92 Prozent der Sardinen, 93 Prozent der Thunfische und Aale, 94 Prozent des Kabeljaus und der Sardellen sowie 100 Prozent des Seetangs, der Karpfen, der Haie und Seeteufel. Auch im Plankton zwischen Hawaii und der amerikanischen Westküste fand man hohe Mengen an Cäsium 137. Schätzungen zufolge gelangte durch die Atomkatastrophe von Fukushima die hundertfache Menge der Radioaktivität, die von Tschernobyl insgesamt freigesetzt wurde, in den Ozean. Experten gehen daher davon aus, dass der gesamte Pazifik bald eine Cäsium-Verseuchung haben wird, die fünf bis zehn Mal höher sein wird als zur Zeit der vielen Atombomben-Tests nach dem Zweiten Weltkrieg.

Und noch immer sind die Verantwortlichen in Japan nicht zur Vernunft gekommen. Seit es am 11. März 2011 zur Kernschmelze in drei Reaktoren des Atomkraftwerks kam, wurden diese täglich mit Hunderten von Tonnen Wasser geflutet, um die Brennstäbe zu kühlen. Das hochradioaktive Wasser floss zunächst ungehindert ins Meer und ins Grundwasser – Tausende von Tonnen. Später begann der Kraftwerksbetreiber TEPCO (Tokyo Electric Power Company) das Kühlwasser in großen Tanks auf dem Gelände zu sammeln, wo man es, noch etwas später, mittels Filteranlagen zumindest von Cäsium und Strontium sowie sechzig weiteren radioaktiven Substanzen säuberte. Mittlerweile haben sich so in einer Unzahl riesiger Tanks schon fast 800'000 Tonnen Wasser angesammelt – und TEPCO weiß nicht mehr, wohin damit. Nun schlägt der Betreiber vor, dieses Wasser im Ozean zu entsorgen. Doch das Wasser ist nach wie vor radioaktiv verseucht, nämlich mit dem Wasserstoff-Isotop Tritium, das eine Halbwertszeit1 von 12,32 Jahren aufweist. TEPCO und die japanische Atomaufsichtsbehörde behaupten, es bestünden keine Risiken für Mensch und Umwelt; das Tritium werde im Meer so stark verdünnt, dass man es kaum mehr nachweisen könne. Als weicher Betastrahler2 sei Tritium nicht einmal in der Lage, die menschliche Haut zu durchdringen. Außerdem unterlägen die Tanks dem Risiko, durch Erdbeben oder einen weiteren Tsunami zerstört zu werden. Da fragt man sich dann allerdings, warum es sicherer sein sollte, das verseuchte Wasser direkt in den Pazifik zu pumpen …

Im Übrigen täten das viele andere Atomkraftwerksbetreiber routinemäßig auch, heißt es noch (und das ist leider wahr). Tritium gilt nur dann als gefährlich, wenn es im Wasser oder via Atemluft eingenommen wird. Dann lagert es sich im Körper ein und kann das Erbgut verändern. Da Tritium aber vom Wasser (also auch dem Meer) in die Luft gelangt und als Regen wieder zurück ins Wasser, besteht also sehr wohl ein Risiko. In Deutschland bringen Wissenschaftler das Tritium, das im Kühlwasser und in die Luft entweicht, mit den signifikant höheren Leukämieraten von Kindern in der Umgebung aller deutschen Atomkraftwerke in Verbindung. Auch andere Studien kommen zum Schluss, dass die Risiken von Tritium wohl bedeutend größer sind, als man bisher annahm, möglicherweise werde die Wirkung um den Faktor 1'000 bis 5'000 unterschätzt.

Der Appetit auf japanischen Fisch dürfte uns nach Fukushima wohl vergangen sein, aber nicht nur dort, sondern weltweit wird der Genuss dieser wertvollen Eiweißquelle immer mehr zum Gesundheitsrisiko. Vorausgesetzt es geht überhaupt noch ein Fisch ins Netz. Denn dreißig Prozent der globalen Fischbestände sind überfischt (was bedeutet, dass mehr Fische gefangen werden, als sich natürlich reproduzieren können) oder stehen kurz vor dem Kollaps, weitere sechzig Prozent sind am Limit, das heißt, der Fischbestand kann sich gerade noch knapp erhalten; wird mehr gefischt, kollabieren auch diese Fischarten. Im Klartext: Neunzig Prozent aller Fischbestände der Welt sind bis an die Grenzen der Belastbarkeit und darüber hinaus befischt. Vor allem große Speisefische sind stark gefährdet; die Bestände von Marlin, Schwertfisch, Hai, Kabeljau und manche Thunfischarten sind um bis zu neunzig Prozent geschrumpft. Wenn sich die Situation nicht schnell ändert, werden laut Prognose die Meere bis ins Jahr 2048 leergefischt sein.

Im März 2017 veröffentlichten die Wissenschaftler des gemeinsamen Forschungszentrums der EU (Joint Research Centre, JCR) im Fachblatt Nature eine alarmierende Studie zu den Zuständen im Mittelmeer. Demnach sind sogar 93 Prozent aller Bestände überfischt; 34 Prozent seiner Fischbestände und 41 Prozent der Meeressäuger hat das Mittelmeer in den letzten fünfzig Jahren bereits verloren. Die Wissenschaftler warnen, dass für das Mittelmeer, welches 10'000 bis 12'000 verschiedenen Arten eine Heimat bietet und damit über eine außerordentliche Vielfalt an Meereslebewesen verfügt, durch menschliche Aktivitäten bald der "Point of no Return" erreicht sei. Mit anderen Worten: Werden in diesem Gebiet nicht schleunigst wirksame Maßnahmen zum Schutz des Meeres und seiner Bewohner in die Tat umgesetzt, ist das Mittelmeer unwiederbringlich geschädigt.

Quellenangaben

  • 1 Halbwertszeit meint die Zeitspanne (hier also 12,32 Jahre), die es dauert, bis die Strahlung um die Hälfte abgenommen hat.
  • 2 Ionisierende Strahlung aus radioaktivem Zerfall wird in Alphastrahlen, Betastrahlen und Gammastrahlen eingeteilt. Die Durchdringungsfähigkeit von Materie nimmt in dieser Reihenfolge – Alpha, Beta, Gamma – ab.