Israel: Das neue Land der Apartheid

Von der Idee eines sicheren Hafens für die versprengten Juden, wie Theodor Herzl sie einst propagiert hatte, ist nichts mehr übrig. Israel gebärdet sich heute als menschenverachtender Despot, der von anderen Ländern das Schlechteste importiert: Von Südafrika die Apartheid, von der DDR die Mauer. Doch zeigt die Geschichte, dass kein Reich, das die eigenen Bürger oder andere Völker unterdrückt, auf Dauer überleben kann.

Apartheid in Israel

Trutzburg aus Betonwall und Stacheldraht: die jüdische Siedlung Har Homa, nahe Bethlehem.

Mohammad Omer ist ein junger Palästinenser aus dem Flüchtlingslager Rafah im südlichen Gazastreifen. „Im Alter von 17 bewaffnete ich mich mit einer Kamera und einem Stift, weil ich mich der korrekten Berichterstattung aus Gaza verpflichtet fühlte“, sagt er von sich. Im Sommer 2008 durfte der nun 24jährige Palästinenser nach London ausreisen, wo ihm als jüngster Journalist der Martha-Gellhorn-Preis verliehen wurde. Dieser ehrt ausschließlich Reporter, die unter großem persönlichem Risiko Propaganda mit Wahrheit bekämpfen.

„Als ich aus London zurückkehrte, umzingelten mich israelische Sicherheitskräfte. Mit vorgehaltener Waffe wurde ich nackt ausgezogen, untersucht, getreten und geschlagen. Mehr als vier Stunden lang. Irgendwann verlor ich das Bewußtsein und erwachte, als sich Fingernägel ins Fleisch unter meinen Augen bohrten. (…) Sie zogen mich an meinen Füßen, fegten meinen Kopf durch mein eigenes Erbrochenes. Ich verlor erneut das Bewußtsein. Später erzählte man mir, daß sie mich nur in ein Krankenhaus gebracht hatten, weil sie dachten, ich könnte sterben“, schrieb Omer.1 „Heute habe ich Schwierigkeiten beim Atmen. Meine Hände funktionieren nicht richtig; tippen ist schwierig. Mein Arzt teilte mir mit, wegen eines Tritts hätte ich Nervenschäden erlitten, die es mir verunmöglichen würden, Vater zu werden.“

Israelische Übergriffe auf Journalisten sind notorisch. Dabei hat Glück, wer bloß verprügelt wird. Obwohl sich der Reuters-Kameramann Fadel Shana in einem klar als Pressefahrzeug gekennzeichneten Auto befand, wurde er im April 2008 von einem israelischen Panzer in die Luft gejagt. Laut Amnesty International „scheint Fadel Shana vorsätzlich getötet worden zu sein, obwohl er ein Zivilist war, der an keinerlei Angriffen auf israelische Truppen teilnahm.“

Die Besatzungssoldaten erschossen im Jahr davor Fotografen der Agence France-Press, der Zeitung Al-Ayam und dem TV-Sender Al-Aqsa – selbstverständlich immer versehentlich, wie die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte IDF jeweils bekanntgaben. Aufgrund eines solch bedauerlichen „Kollateralschadens“ fiel auch der Kameramann Imad Ghanem verletzt zu Boden. Danach allerdings schossen ihm israelische Soldaten noch zweimal in die Beine. Sie mußten beide amputiert werden.

Bilder gegen Unrecht

Da ein Bild mehr sagt als tausend Worte, entschloß sich die von Israelis gegründete Menschenrechtsorganisation B’Tselem zu einem brillanten Schachzug: Seit einigen Monaten verteilt sie überall in den besetzten Gebieten kleine Videokameras an Palästinenser. Über zweitausend dieser Kameras sind schon verteilt worden. In einer deutschen Fernsehdokumentation erzählt eine palästinensische Jugendliche, die kleine Handycam sei zu ihrer ständigen Begleiterin geworden; sie verleihe ihr Sicherheit und Schutz. Und tatsächlich: Schon belegen Videoaufzeichnungen, wie militante jüdische Siedler mit Steinen und Stangen bewaffnet auf palästinensische Dorfbewohner losgehen wollen – und schnell davonrennen, wenn sie merken, daß sie gefilmt werden. Die B’Tselem-Verantwortlichen in der Jerusalemer Zentrale sind froh über solche Gewaltverhinderung. Genau das ist das Ziel ihrer Aktion.

Apartheid in Israel

Palästinensisches Ghetto: Bethlehem, die Geburtsstadt Jesu, wurde vollkommen abgeriegelt.

Im Juli 2008 filmt ein siebzehnjähriges Mädchen mit seinem Camcorder die Verhaftung eines jungen Mannes durch israelische Sicherheitskräfte. Die Augen mit einer Binde verbunden und an den Händen gefesselt, wird der Zivilist zu einem Einsatzwagen geführt. Plötzlich hebt einer der Soldaten sein Gewehr und schießt dem ahnungslosen Palästinenser aus nächster Nähe ein Gummigeschoß in den Fuß. Er fällt schreiend zu Boden. Die Videoaufnahme kann erfolgreich nach Jerusalem geschmuggelt werden, wo B’Tselem den Film in die ganze Welt hinaus verbreitet. Sogar CNN und BBC strahlen ihn aus. Die internationale Empörung ist groß genug, daß sich das israelische Militär genötigt sieht, eine Untersuchung einzuleiten.

Apartheid in Israel

Eine Mutter mit ihrem Kind versucht, neue Schulwege zu finden.

Im Jahr 2006 produzierte das Palästinensische Komitee zur Förderung der Landwirtschaft einen Dokumentarfilm, der dieser Tage nun in verschiedenen europäischen Kinos zu sehen ist: Die Eiserne Mauer.2 Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter nennt ihn „die beste Darstellung der Trennmauer, ihres Verlaufs und ihrer Auswirkungen“. Die Eiserne Mauer dokumentiert aber auch die systematisch vorangetriebene Siedlungspolitik Israels und die damit einhergehende Zerstörung palästinensischen Eigentums.

 2002 beschloß Israel, sich mit einem „Sicherheitszaun“ vor den Palästinensern zu schützen. Der „Zaun“ stellte sich vielerorts als Betonwand von mehr als sieben Metern Höhe heraus! Das ist dreimal höher als die Berliner Mauer. Der mit Stacheldraht, Gräben, Überwachungskameras und Militärstraßen gesicherte „Zaun“ ist auch vier Mal so lang, über 670 Kilometer. Dies, obwohl die Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland um mehr als die Hälfte kürzer ist, nämlich nur 315 Kilometer. Wie das? Weil sich die Trennmauer quer durch palästinensisches Land schlängelt und ganze Dörfer isoliert. Sie dehnt sich tief ins Westjordanland hinein aus, wo sie 80 Prozent der jüdischen Siedlungsblöcke umschließt. Und das ist nicht alles: „Die meiste Abriegelung ist innerhalb der Westbank, betrifft also Israel gar nicht“, erklärt Jeff Halper, ein aus Amerika stammender Israeli, der 1997 das Israelische Komitee gegen Häuserzerstörung ins Leben rief.

Statt dessen trennt die Apartheidmauer viele palästinensische Bauern von ihren Feldern und verurteilt sie zu bitterster Armut, wie etwa in Qalqiliya, wo sich das fruchtbarste Ackerland der Westbank befindet. Andernorts schließt sie Dörfer und Städte in hermetisch abgeriegelte Ghettos ein, wie beispielsweise Bethlehem. „Palästinenser brauchten Monate, um Wege zu finden, wie sie Tausende von Kindern zu ihrer Schule und Lehrer zu ihren Klassen kommen lassen konnten“, klagt Hind Khoury, die palästinensische Ministerin für Jerusalem. „Die Mauer zieht sich im Zickzack um Jerusalem, die Juden drin, die Palästinenser draußen. Werdenden Müttern wird der Weg ins Krankenhaus versperrt, Muslime und Christen können ihre heiligen Stätten nicht mehr fürs Gebet erreichen. Israel führt einen Krieg gegen unsere Existenz.“

Wie die Palästinenser loswerden?

Apartheid in Israel
Apartheid in Israel
Apartheid in Israel
 Alles genommen: Während die jüdischen Siedlungen aus dem Boden schießen, zerstört die israelische
Armee vor den Augen der hilflosen Palästinenser deren Häuser. Was übrig bleibt, ist Schrott. Die Bewohner sammeln ihn trotzdem ein, wie hier, mit Pferdewagen in einem zerstörten Quartier.

Daran hat sich seit Anbeginn des Israelischen Staats nichts geändert: Schon 1948 vertrieb Israel 750’000 Palästinenser gewaltsam aus ihren Häusern und machte 125‘000 palästinensische Häuser dem Erdboden gleich. 531 arabische Dörfer wurden ausgelöscht. Man nannte diese Operation eine „Bereinigung des Landschaftsbildes“, weil manche Häuser vom Krieg beschädigt worden waren. In Wirklichkeit ging es darum, den arabischen Flüchtlingen eine Rückkehr zu verunmöglichen. So fristen heute 70 Prozent der neun Millionen Palästinenser weltweit ihr Dasein als permanent aus ihrem Heimatland Vertriebene.

Mehr als drei Viertel des historischen Palästina hatte die Internationale Staatengemeinschaft der neu geschaffenen jüdischen Nation übereignet. Die restlichen 22 Prozent kontrolliert Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 mit brutaler militärischer Besetzung. Dort, auf palästinensischem Land, erbauen die Zionisten seither illegale jüdische Siedlungen, die mittlerweile fast die Hälfte des Westjordanlands beanspruchen.

„Seit 1967, bis heute, bleibt die zentrale Frage: Wie können wir das ganze Land kontrollieren und gleichzeitig die Palästinenser loswerden?“, erklärt Dr. Jeff Halper. In den vergangenen vierzig Jahren haben die Behörden sowohl in Israel wie vor allem auch in den besetzten Gebieten über 18‘000 Häuser abbrechen lassen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Israel rechtfertigt diese illegale Politik mit drei Gründen.

1. Kollektivstrafen: Wird Israel attackiert, antwortet die Besatzungsmacht mit der Zerstörung von Häusern, die den Familien der tatsächlichen oder auch nur mutmaßlichen Angreifern gehören, sowie von benachbarten Gebäuden bis hin zu ganzen Quartieren. Fast die Hälfte der geschleiften Häuser waren von völlig unschuldigen Zivilisten bewohnt. In 97 Prozent der Fälle tauchten die Abbruchtruppen ohne Vorwarnung auf. Die vorsätzliche Zerstörung von Privateigentum als Form der Kollektivstrafe ist ein klarer Verstoß gegen die Vierte Genfer Konvention und explizit verboten.

2. Militärische Operationen: Laut internationalem Recht darf die Armee Privateigentum nur während einer laufenden Kriegshandlung zerstören, wenn dazu eine absolute Notwendigkeit besteht. Vor allem im Gazastreifen versteckte sich die Besatzungsmacht hinter diesem Vorwand, wenn sie nach einem Raketenangriff auf Israel regelmäßig ganze Wohnquartiere einebnete. Der UN-Sonderbeauftragte Miloon Kothari erklärte nach dem israelischen Angriff auf Beit Hannoun vom 8. November 2006: „Seit den jüngsten israelischen Einfällen in Gaza erhalte ich laufend alarmierende Berichte von vorsätzlichen Angriffen der israelischen Streitkräfte auf Wohnhäuser, Privatbesitz und die öffentliche Infrastruktur. Solche Handlungen haben katastrophale Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, vor allem Frauen und Kinder, und schaffen Unsicherheit sowie psychische Traumata.“

3. Administrative Gründe: In Ostjerusalem, dem israelischen Kernland und den von Israel verwalteten besetzten Gebieten werden die meisten palästinensischen Häuser abgerissen, weil ihre Besitzer keine Baugenehmigung haben. Es ist für Palästinenser nämlich praktisch unmöglich, eine solche zu erhalten. So erklärte Oberst Shlomo Politus, Rechtsberater der israelischen Armee, 2003 lapidar vor der Knesset: „Es gibt keine Baugenehmigungen mehr für Palästinenser.“

Allein in den letzten drei Jahren fielen dieser Politik Hunderte von palästinensischen Häusern zum Opfer. Eine Entschädigung erhalten die Betroffenen nicht. Manchmal müssen sie sogar noch für die Abbruchkosten aufkommen.

Solch himmelschreiende Ungerechtigkeit ruft mitfühlende Menschen aus der ganzen Welt auf den Plan. Zu ihnen gehörte auch Rachel Corrie. Die amerikanische Friedensaktivistin war Mitglied der Internationalen Solidaritätsbewegung ISM und reiste während des Al Aqsa-Palästinenseraufstands in den damals noch von Israel besetzten Gazastreifen. Dort wurde sie am 16. März 2003 getötet. Im Flüchtlingslager von Rafah, der Heimat des Journalisten Mohammad Omer, stellte sie sich vor das letzte noch stehende Haus eines ansonsten bereits eingeebneten Wohnquartiers. Doch der ebenfalls aus Amerika stammende Caterpillar-Bulldozer der israelischen Armee hielt nicht an.

Das Militär sprach von einem Unfall, bei dem der Fahrer die direkt vor ihm stehende 24jährige Frau übersehen habe, wobei anschließend herabfallende Trümmerteile ihren Tod verursacht hätten. Augenzeugen der ISM behaupten indes bis heute, der Fahrer des Bulldozers habe Rachel Corrie absichtlich zweimal überfahren, worauf sie mit gebrochenem Rückgrat wenige Minuten später inmitten der Gesteinsbrocken verstarb.

Der verantwortliche Soldat wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Wirft ein palästinensischer Jugendlicher hingegen Steine an die von der israelischen Besatzungsmacht errichtete Sperrmauer, die sein Dorf einschließt, kommen mitten in der Nacht israelische Soldaten zum Haus seiner Familie, um ihn zu verhaften. Vor seinem Vater und seinen Brüdern wird er geschlagen, gefesselt und ins Gefängnis abgeführt, wo er 26 Tage lang eingekerkert bleibt – obwohl er geistig und körperlich behindert ist. Der damals 17jährige Ahmad aus West Toura (nahe Jenin) wird jenen Mai 2004 sein Leben lang nicht vergessen.

Ausgebeutete Natur

Wenn die Würde eines (nichtjüdischen) Menschen schon nicht viel zu zählen scheint, so darf man sich von der israelischen Besatzungsmacht auch nicht viel Respekt vor der Umwelt erhoffen. 1997 annektierte der damalige Premierminister Benjamin Netanjahu einen der schönsten bewaldeten Hügel im besetzten Palästina und ließ ihn für den Bau einer jüdischen Siedlung vollkommen kahlschlagen. Die Flüsse sind verseucht, manche bis zu einem tödlichen Grad. Besonders schlimm sieht es in den besetzten Gebieten aus. Da die meisten israelischen Siedlungen strategisch günstig auf Hügelkuppen liegen, fließen ihre Abwässer völlig ungeklärt ins palästinensische Ackerland, wo sie große Schäden anrichten.

In der Westbank verbrauchen die Palästinenser pro Jahr und Kopf im Schnitt 140 Kubikmeter Wasser. Die dort illegal lebenden Siedler verbrauchen 600 Kubikmeter pro Kopf – klar, modernste Wohnungen und Swimmingpools verschwenden üppig Wasser. Obwohl alle dieselben palästinensischen Quellen und die gleiche Infrastruktur benutzen, müssen die Palästinenser viermal mehr für den deutlich geringeren Wasserverbrauch bezahlen als die Siedler.

Doch auch im israelischen Kernland steht längst nicht alles zum besten. Schuld daran ist nicht zuletzt die unmenschliche und teure Okkupation Palästinas. Sie kostet nicht nur Geld, sondern fordert auch von den Besatzern ihren seelischen Tribut. Vermehrt werden Stimmen laut, welche eine zunehmende Verrohung der israelischen Gesellschaft wahrzunehmen glauben. Auch wird die Kluft zwischen arm und reich immer größer. Die vormals breite Mittelschicht löst sich allmählich in Luft auf, während sich das oberste Zehntel bereichert wie nie zuvor. Noch vor einem halben Jahrhundert gab es kaum ein Land, das eine gleichmäßigere Einkommensverteilung aufwies als die jüdische Nation.

Dr. Jeff Halper (oben), Begründer einer israelischen Hilfsorganisation: „Diese Häuser wurden von Palästinensern und Israelis wieder aufgebaut, als ein Zeichen des Zusammenlebens und des zivilen Ungehorsams gegen rassistische Gesetze.“

Heute herrschen in Israel größere Einkommens- und Vermögensunterschiede als in allen entwickelten Ländern der Welt. Schließt man das besetzte Palästina mit ein, ist Israel das Land mit der ungleichsten Vermögens- und Einkommensverteilung weltweit.

Shir Hever, ein Nationalökonom vom Jerusalem Alternative Information Center macht die Okkupation dafür verantwortlich. Die stark subventionierten Siedlungen, der Bau von Trennmauer und Verbindungsstraßen sowie der Unterhalt einer riesigen Besatzungsmaschinerie kosten Unsummen. Spender aus der ganzen Welt und vor allem die US-Regierung schießen ständig zu. Weil die USA selbst vor dem finanziellen Bankrott stehen, haben sie die Zahlungen an Israel schon vor dem Bankenkrach eingeschränkt. Jerusalem hat deshalb in Washington die Verlagerung von ziviler auf militärische Hilfe erwirkt. Damit der Bau der Sperrmauer nicht verzögert wird, kürzt die israelische Regierung lieber die Sozialleistungen an die Armen – und zweigt von der europäischen Hilfe für die Palästinenser Steuern ab.

Mittlerweile kann die Hälfte der israelischen Familien ihre monatlichen Rechnungen nicht mehr bezahlen und weist das Land die schlechteste Grundschul- und Unterstufenbildung der westlichen Welt auf. Die Reichen jedoch verdienen sich an der privatisierten Rüstungs- und Sicherheitsindustrie eine goldene Nase.

Kollegen von Shir Hever ermittelten, daß sich jedesmal, wenn die Rendite der führenden US-amerikanischen Ölkonzerne unter den Rendite-Mittelwert der Fortune-500-Unternehmen an der New Yorker Börse sank, in Nahost eine oder mehrere Krisen ereigneten, an denen Israel direkt oder indirekt beteiligt war. Sogleich stieg die Rendite der führenden Ölkonzerne wieder über den Mittelwert.

Noch stärker in die Höhe schnellt die Zahl der Ölbäume, die Israel in den besetzten Gebieten ausreißen läßt. Mehrere Hunderttausend sind es schon. Bäume, die sieben bis zehn Jahre benötigen, um Frucht zu tragen, werden innerhalb von wenigen Sekunden vernichtet – und damit die Existenz vieler palästinensischer Bauern. Junge Männer werfen sich weinend auf ihre zerfetzten Bäume, während die alten schreiend und mit bloßen Fäusten auf die schwer bewaffneten israelischen Besatzer losgehen, die zur Sicherheit der Bulldozer und Motorsägen abgestellt sind. Akiva Eldar, Journalist der israelischen Zeitung Ha’aretz fragt schockiert: „Wie kann man einem anderen Volk antun, was vor sechzig Jahren dem eigenen Volk angetan wurde?“

Jimmy Carter: Apartheid!

Jimmy Carter hielt das Schweigen nicht mehr länger aus. Und so schrieb der ehemalige US-Präsident ein Buch mit dem Titel Palästina – Frieden, nicht Apartheid,3 das im November 2006 erschien. Carter prangert die israelische Besatzungspolitik an und spricht von „einem System der Apartheid; zwei Völker sitzen auf demselben Land, jedoch komplett voneinander getrennt. Die völlig dominierenden Israelis wenden unterdrückerische Gewalt an, indem sie die Palästinenser ihrer menschlichen Grundrechte berauben“.

Von den amerikanischen Massenmedien wurde das Buch vollkommen ignoriert – jedenfalls so lange, bis die Israellobby Jimmy Carter verbal zu attackieren begann. Der erfahrene Staatsmann reagierte höflich und furchtlos. In der Los Angeles Times erklärte Carter, es komme „einem politischen Selbstmord gleich, wenn sich ein Politiker für eine ausgewogene Haltung im Nahostkonflikt einsetzt“. Und in einem CNN-Interview beklagte er „die ungeheure Einschüchterung in unserem Land, welche die Presse mundtot macht“.

Die Zionisten schreckten auf, denn das klang schon sehr nach der von der Israellobby vehement verneinten Behauptung, jüdische Interessen würden die amerikanischen Massenmedien kontrollieren. Jimmy Carter offen des Antisemitismus zu bezichtigen, wagten seine Kritiker nicht. Schließlich sind seine Verdienste gegenüber dem jüdischen Staat über jeden Zweifel erhaben, war er doch der Architekt jenes Friedensvertrages zwischen Israel und einem seiner Nachbarn, Ägypten, der noch am längsten hielt.4

Das hinderte seine jüdischen Kritiker nicht, ihm in vielen Medienberichten bösartige Absichten zu unterstellen. Er verharmlose den Holocaust, weil er diesen in seinem Buch nur zweimal flüchtig erwähnt und die Lebensumstände der Palästinenser öffentlich als „eines der schlimmsten Beispiele für den Raub von Menschenrechten“ in der Welt bezeichnet habe. So spiele Carter den sogenannten Holocaust-Leugnern in die Hände. Carter rechtfertigte sich, er werde ja einzig von jüdischen Organisationen angegriffen.

Daraufhin schrieb Deborah Lipstadt eine vernichtende Buchrezension. Lipstadt hatte schon mitgeholfen, den britischen Historiker David Irving ins Gefängnis zu bringen. In ihrer Eigenschaft als Professorin für „Modernes Judentum und Holocaust-Studien“ an der Emory Universität von Atlanta gehört die amerikanisch-jüdische Historikerin zu den weltweit bekanntesten Wächtern über das Andenken der Judenverfolgung. In ihrem Zeitungskommentar entgegnet sie Jimmy Carter, er werde längst nicht nur von Vertretern jüdischer Organisationen angegriffen. Zum Beweis listete sie viele Namen aus der Welt der Medien, Politik und Universitäten auf, die sein Buch öffentlich kritisiert hatten und merkte an: „Alle sind sie Juden. Macht das ihre Kritik unwirksam?“

Eine angeblich sich selbst ­hassende Jüdin

Jene Einseitigkeit, die Deborah Lipstadt Jimmy Carter vorgeworfen hatte, kritisierte Evelyn Hecht-Galinski auch am früheren israelischen Botschafter in Berlin, Shimon Stein. Dieser habe in einem Artikel zum sechzigsten Geburtstag seines Staates in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) „Geschichtsverdrehung und Mystifizierung“ betrieben, da er über die „Vertreibung und Enteignung der Palästinenser“ schweige, „die mit der Gründung des Staates Israel einherging“.

Die Sätze stammen aus einem Leserbrief, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 26. Juli 2008 veröffentlichte. „Wo bleibt der ­Aufschrei der Welt, wo der Hinweis auf die Verpflichtung Israels, nach internationalem Recht ohne Diskriminierung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit in den besetzten Gebieten zu sorgen?“, fragte sie weiter und schloß mit den Worten: „Gerade im Angesicht unserer gemeinsamen Vergangenheit müssen kritische Anmerkungen zu begangenem Unrecht möglich sein, auch wenn sie Israel betreffen.“

Die Zukunft der Kinder Palästinas: Freiheit oder Radikalismus.

Evelyn Hecht-Galinskis Vater ist Heinz Galinski, der verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Trotzdem meldet sie sich immer wieder zu Wort, indem sie die Politik Israels anprangert. Darin liegt politische Sprengkraft. Dessen ist sich auch Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats, bewußt – und versucht aus diesem Grund, Evelyn Hecht-Galinski öffentlich zu diskreditieren. Gegenüber der Jerusalem Post bezeichnete Kramer die streitbare Deutsche als eine der „führenden Vertreterinnen“ eines jüdischen Antizionismus, „die offensichtlich ihren Selbsthaß in antisemitischen und antizionistischen Äußerungen zu bewältigen versucht“.

Die Tendenz, auf die Politik Israels zielende Kritik als grundsätzlichen Antisemi­tismus brandmarken und damit mundtot machen zu wollen, ist nicht neu. Neu ist, daß nun auch einflußreiche Vertreter der deutschen Medienlandschaft davor warnen. Patrick Bahners etwa schreibt in einem Kommentar vom 21. August 2008 in der FAZ: „Der Antisemitismusvorwurf eignet sich zum moralischen Totschlag.“ Denn schließlich seien es „Stimmen aus der israelischen Friedensbewegung, die die Einzäunung des Westjordanlands mit der Mauer des Warschauer Ghettos vergleichen“.

Weil Evelyn Hecht-Galinski die Okkupation der israelischen Besatzungsmacht mit der nationalsozialistischen Politik vergleicht, wurde sie von einem der vehementesten deutschen Verteidiger des Zionismus öffentlich als „notorische Antisemitin“ verunglimpft. Der in Polen geborene jüdische Journalist Henryk M. Broder ist für seine scharfe Zunge berüchtigt. „Seine preisgekrönte publizistische Strategie der verbalen Aggression nutzt den Spielraum der Meinungsfreiheit, um ihn einzuschränken“, schreibt Patrick Bahners. „Kritiker Israels sollen eingeschüchtert werden.“

Doch bei Hecht-Galinski geriet Broder an die Falsche. Sie klagte gegen den 62jährigen und gewann zumindest teilweise: Am 3. September 2008 entschied das Kölner Landgericht bezüglich den von Hecht-Galinski gemachten Aussagen, Broder werde es „unter An­­drohung eines Ordnungsgeldes bis zu 250‘000 Euro (…) verboten, zu äußern: Evelyn Hecht-Ga­linski gebe antisemitische Statements ab“. Künftige Unterstellungen dieser Art müsse Broder hieb- und stichfest beweisen können, bevor er sie in die Welt setze.

Rassismus mit religiöser Dimension

Auch in den USA wagen es jüdische Stimmen, endlich Partei für die Palästinenser zu ergreifen. Zu ihnen gehört der Psychiater Joel Kovel, der mit seinem im vergangenen Jahr publizierten Buch schonungslos offen mit dem Zionismus abrechnet. Wer die aktuelle Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetze, der mache sich, so Kovel, einer „intellektuellen Barbarei“ schuldig.

Barbarisch ist jenes Wort, das die 21 Menschenrechtsaktivisten aus Südafrika während ihrer fünftägigen Reise durch die besetzten Palästinensergebiete begleitete. Unter ihnen befanden sich Richter am Obersten Gerichtshof Südafrikas, eine ehemalige Ministerin, Parlamentsabgeordnete, Anwälte, Schriftsteller, Journalisten. Schwarze wie Weiße, die Hälfte von ihnen Juden. Alle hatten sie unter dem Einsatz ihres Lebens gegen die Apartheid gekämpft.

Was diese Menschen während ihres Besuchs des Westjordanlands im Juli 2008 sahen, erschütterte sie bis ins Mark. „Nichts kann einen für das Schlimme vorbereiten, das wir hier gesehen haben“, sagte Mondli Makhanya, Herausgeber der Sunday Times von Südafrika. Genauso schockiert zeigte sich Edwin Cameron, Richter am Obersten Berufungsgericht: „Uns ist klar, daß die Situation hier unerträglich ist.“ Ein jüdisches Delegationsmitglied, das aus Angst vor Repressalien aus der jüdischen Gemeinschaft seinen Namen nicht publiziert sehen will, verlautete, daß die Israelis das Rassentrennungsregime noch effizienter ausführten als die Südafrikaner. Und Nozizwe Madlala-Routledge, die ehemalige Verteidigungs- und Gesundheitsministerin von Südafrika, kann nicht glauben, womit sie im abgeriegelten Nablus, wo 90 Prozent der Kinder im alten Stadtviertel an Anämie und Unterernährung leiden, konfrontiert wird. Es sei schlimmer als alles, was sie selbst durchgemacht habe, sogar schlimmer als die vom Apartheid­regime über sie verhängte Haftstrafe: „Die absolute Kontrolle über das Leben der Menschen, der Mangel an Bewegungsfreiheit, überall Armeepräsenz, die totale Trennung und diese großflächige Zerstörung.“

Militante jüdische Siedler in Hebron.

Militante jüdische Siedler in Hebron.

Vielleicht verstand sich Israel deshalb so gut mit dem rassistischen Südafrika und pflegte warmherzigen Kontakt zur Apart­heidregierung. Da waren zum Beispiel der äußerst profitable Diamantenhandel zwischen dem jüdischen Staat und dem damals unter Sanktionen stehenden Südafrika, sowie die fruchtbaren Militärbeziehungen zwischen den beiden Ländern.

Die Apartheid konnte man dank inter­nationaler Sanktionen stürzen, doch Israel werde von den USA gestützt, meint Madlala-Routledge pessimistisch. Hier verstärke man die rassistische Ideologie durch die Religion, was in Südafrika nicht der Fall war. „Wenn man vom ‚verheißenen Land’ und ‚auserwählten Volk’ spricht, wird dem Rassismus eine religiöse Dimension verliehen, die wir nicht hatten.“

Die südafrikanische Delegation besuchte auch Balata, das größte Flüchtlingslager in der Westbank und ein Ort, der vor sechzig Jahren als vorübergehende Bleibe für 5‘000 Flüchtlinge gedacht war. Heute leben 26‘000 Menschen in seinen engen Gassen. Am Ende der Reise zog Sunday Times-Herausgeber Makhanya sein deprimierendes Fazit: „Hier sind der Rassismus und die Brutalität schlimmer als in der schrecklichsten Periode der Apartheid. Das Apartheidregime sah die Schwarzen als minderwertig an; ich denke, daß die Israelis die Palästinenser gar nicht als Menschen betrachten. Wie kann sich ein menschliches Hirn diese totale Trennung ausdenken, die getrennten Straßen, die Kontrollpunkte?“5

Zionistischer Heilsanspruch

„Mauern und Ghettos bringen keinen Frieden“, warnt Dr. Ismail Daiq von den Palästinensischen Komitees für Landwirtschaftshilfe. „Nur Gerechtigkeit bringt Frieden.“ Die Machthaber Israels denken jedoch nicht daran, das Land ihrer angeblichen Vorväter den Palästinensern zu überlassen. Das käme in ihren Augen einem Verrat am Zionismus gleich. So hatte Ariel Sharon den später ermordeten Rabin wegen dem Osloer Friedensabkommen denn auch öffentlich „Verräter“ geschimpft. Viel wichtiger als Frieden ist seinesgleichen nämlich die „Erlösung des Heiligen Landes“.

Diese Ideologie des orthodoxen Zionismus stammt von Rabbi Kook (1865-1935), der 1919 Oberrabbiner Jerusalems und Palä­stinas wurde. So lehren die Führer der gläubigen Siedlungsbewegung, „daß dieses Land den Juden von Gott gegeben wurde“, erklärt der israelische Journalist Akiva Eldar. „Niemand, keine Regierung und kein Mensch, hat das Recht, ein Stück dieses Landes einem Nichtjuden zu geben.“

Diese Haltung offenbart auch eine am 11. Oktober 2007 veröffentlichte repräsentative Umfrage. Sie kommt zum Schluß, 81 Prozent der Israelis würden es begrüßen, daß der Jüdische Nationalfond,6 der größte Grundbesitzverwalter Israels, Boden ausschließlich an Juden verkauft. Die fundamentalistischen Juden glauben gar, jeder Quadratmeter Boden, den ein Jude besitze, sei „erlöst“ worden. Ein Fleckchen Erde im einstmals Heiligen Land, das aber einem Nichtjuden gehört, sehne sich noch immer nach „Erlösung“.

Von dieser Haltung hat die Welt schon lange Kenntnis – auch wenn sie es nicht wahrhaben will: Menachem Ussischkin, der von 1922 bis 1941 Vorsitzender eben jenes Jüdischen Nationalfonds war, verkündete schon am 27. April 1930 an einer Pressekonferenz in Jerusalem: „Wir haben zur Geburt der größten Lüge beigetragen, weil wir unser Werk wie ein Vogel Strauß geführt und unsere Bestrebungen nicht in ihrer vollen Wahrheit enthüllt haben. Wir hätten stets offen proklamieren sollen, daß wir unser Land in unseren Besitz zurückfordern. Wenn das Land frei ist von Bewohnern – gut. Und wenn Bewohner da sind, dann muß man sie eben an irgendeinen anderen Ort hinführen, aber wir haben das Land zu bekommen! Wir haben ein Ideal, das größer und erhabener ist als die Sorge um einige Hundert Fellachen.“

Daß sich die Palästinenser wehren würden, war den Zionisten schon immer klar. So forderte Vladimir Jabotinsky, der Begründer der zionistischen Rechten, bereits 1923: „Diese Kolonialisierung kann nur weiter­­­geführt und entwickelt werden (…) hinter einer eisernen Mauer, welche die einge­borene Bevölkerung nicht durchbrechen kann.“

Diese Mauer ist heute Wirklichkeit ge­­worden.

Zwei Staaten oder bloß einer?

Premierminister Shamir pflegte jeweils zu sagen: „Am Ende werden sie sich an die vollendeten Tatsachen gewöhnen.“ Das tut auch Präsident George W. Bush. Der „schlechteste US-Präsident aller Zeiten“ schrieb im April 2004 einen wenig beachteten Brief an den damaligen israelischen Premierminister Ariel Sharon. Dieses Dokument, das von beiden amerikanischen Abgeordnetenhäusern praktisch einstimmig ratifiziert worden war, machte das Osloer Friedensabkommen und die wichtigste UN-Resolution 242, auf welche sich eine Zweistaatenlösung abstützt, zu der wertlosen Makulatur, die sie in den Augen Israels immer schon waren. In seinem verbalen Kniefall verkündete Bush: „Im Lichte der neuen Realitäten auf dem Land, welche große israelische Bevölkerungszentren mit einschließen [gemeint sind die Siedlungen], ist es unrealistisch zu erwarten, daß die abschließenden Verhandlungen zu einem vollständigen Rückzug Israels auf die Waffenstillstandslinie von 1967 führen werden.“

Mit diesem schlichten Satz verurteilte die mächtigste Nation der Welt einen überlebensfähigen palästinensischen Staat zum Tode, bevor er überhaupt geboren werden konnte. Denn durch die faktische Annexion des Großraums um Ostjerusalem und die Zersplitterung des Westjordanlands in diverse Kantone und von israelischen Sicherheitskräften eingeschlossenen Ghettos hat man Palä­stina wirtschaftlich bereits das Genick gebrochen.

Die Palästinenser müssen zusehen, wie jüdische Siedlungen ihr Land auffressen (gelb: israelisches Gebiet).

Selbst wenn Israel den Palästinensern tatsächlich einige abgenagte Knochen überlassen sollte, um daraus ein Klappergestell zusammenzuflicken, das man kaum „Staat“ nennen kann, werden sie als „Gefangene in einem kleinen Teil des ihnen verbliebenen Landes“ (Jimmy Carter) für immer und ewig von der Gnade des übermächtigen Umzinglers abhängen. Unter der Einschränkung Nr. 5 machte Israels Premier­minister Ehud Olmert nämlich folgendes klar: „Der provisorische Staat wird provisorische Grenzen und gewisse Aspekte von Souveränität aufweisen, vollständig demilitarisiert sein, (…) und nicht über die Autorität verfügen, Verteidigungsallianzen oder militärische Kooperationen einzugehen. Zudem wird Israel die Kontrolle über sämtliche Personen und Waren ausüben, welche die Grenze passieren, sowie die Oberhoheit über den Luftraum und das elektromagnetische Spektrum behalten.“

Wahrlich Orwell’sche Verhältnisse, die Israel den Palästinensern zugestehen will! Um sicherzustellen, daß Palästina ein Vasallenstaat billiger Arbeitssklaven wird – oder seine Bevölkerung endlich freiwillig ins Exil, in die Diaspora, geht?

Auf Israel, diesen in seiner Essenz jüdischen Staat, kommt nämlich ein großes demographisches Problem zu: Die Juden in der Diaspora assimilieren sich zusehends und gehen Mischehen mit Nichtjuden ein, was das Judentum langsam zum Verschwinden bringt. In Israel selbst nimmt die arabische Bevölkerung im Vergleich zur jüdischen laufend zu – und es wird in absehbarer Zeit immer schwieriger werden, einer bald nichtjüdischen Mehrheit Bürgerrechte zu verweigern, welche für jüdische Israeli selbstverständlich sind.

Deshalb sollen die Palästinenser weg. Weg aus Israel und zusammengepfercht in einen Ghettostaat namens Palästina. Oder noch besser: weg in arabische Nachbarstaaten wie Jordanien oder den Libanon.

Den Zionismus überwinden

Weil die vollendeten Tatsachen, die Israel in den besetzten Gebieten mit Siedlungs- und Mauerbau geschaffen hat, eine auch nur schon im Ansatz gerechte Zweistaatenlösung verunmöglichen, bleibt nur noch ein einziger gerechter Ausweg: „Palesrael – eine säkulare und universale Demokratie für Israel/Pa­­lästina.“ So lautet der Untertitel des 2007 erschienenen Buchs Den Zionismus überwinden,7 das der New Yorker Jude und Psychiater Joel Kovel geschrieben hat. Israel sei als exklusiv jüdischer Staat8 ein rassistischer und damit ein illegitimer Staat, folgert Kovel. Die Wurzel des Übels liege nicht in der illegalen Besetzung des Westjordanlands, sondern in der Jüdischkeit Israels. Der Zionismus, so führt Hochschuldozent Kovel weiter aus, habe zu einer „Wiedereinsetzung des [alttestamentarischen] Stammeswesens in der Gestalt eines modernen, äußerst militarisierten und aggressiven Staates“ geführt, der mitten in die islamische Welt gepflanzt wurde. „Deshalb muß man den Zionismus überwinden und die Menschen von seinen Ketten befreien.“

Mit der Kernforderung der Palästinenser würde man dieses Ziel friedlich erreichen. Und so ruft Joel Kovel die Welt dazu auf, das Rückkehrrecht der 1948 und 1967 vertriebenen Palästinenser nach Israel zu unterstützen. Dieses in der UN-Resolution verlangte Rückkehrrecht würde als erstes das Ende der Besatzung bedingen und mit den Rückkehrern, welche volle und gleiche Rechte erhalten, die Jüdischkeit des Staates zunichte machen. So könnten mit Gerechtigkeit und etwas gutem Willen sowohl Juden wie Araber friedlich miteinander leben, wie sie es in vergangenen Jahrhunderten in Palästina und Spanien bereits erfolgreich getan haben.

Kein Platz für Moral

„Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Kollaps Israels, oder der Verlust seiner jüdischen Wesensart die Existenz des jüdischen Volkes als Ganzes untergraben wird“, warnte Yehezkel Dror am 15. Mai 2008 in der einflußreichen jüdischen US-Tageszeitung Forward. Sein Kommentar steht unter dem Titel Wenn es um das Überleben des jüdischen Volkes geht, gibt es keinen Platz für Moral. „Die physische Existenz [Israels] muß an erster Stelle stehen“, schreibt der emeritierte Professor für politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Das jüdische Volk sollte nicht zum Gefangenen der politischen Korrektheit und anderer modischer Denk-Repressionen gemacht werden (…) Ich behaupte, daß das Gebot zur Existenzsicherung alle moralischen Werte übertrifft (…) selbst wenn es sich um liberale und humanistische Werte handelt, bzw. wenn es um Menschenrechte und Demokratisierung geht.“ Dror ist eine bekannte Persönlichkeit und Präsident des Jewish People Policy Planning Institute. Er wurde mit dem Israel-Preis ausgezeichnet.

Wegen Männern wie ihm hat sich Abraham Burg 2004 aus der israelischen Politik zurückgezogen. Der einstige Vorsitzende der Zionistischen Weltorganisation war Knesset-Sprecher und einer der prominentesten Führer der Arbeiterpartei. Sein Vater ist Gründer der Nationalreligiösen Partei Israels und ein weltweit anerkannter Rabbiner. Trotzdem geht Burg mit dem Zionistenstaat hart ins Gericht. „Heute frage ich mich: Sind alle Juden meine Brüder? Meine Antwort ist: nein (…) Seit der Shoah9 glaube ich, daß es so etwas wie ein genetisches Judentum nicht gibt, sondern nur jüdische Werte (…) Selbst wenn sie beschnitten sind und den Sabbat respektieren und die Zehn Gebote – die ­niederträchtigen Besatzer sind nicht meine ­Brüder“, schreibt Abraham Burg in seinem neuen Buch Der Holocaust ist vorbei.10

Darin kontrastiert er das „Judentum des Ghettos“, dessen Rassismus er beklagt, mit dem „universalen Judentum“, dessen Humanismus er unterstützt. Die Vorstellung, Gottes auserwähltes Volk zu sein, weist er vehement zurück, da dies zu einem Anspruch rassistischer Überlegenheit führe. „Der Krebs des Rassismus frißt uns alle weg“, warnte er 2003 in einem Interview mit der israelischen Zeitung Yedioth Aharonoth. Man habe die Werte der Unabhängigkeitserklärung verraten, als sich Israel „in einen Kolonialstaat verwandelte, der von einer unmoralischen Clique korrupter Banditen geführt wurde“, zürnte Burg weiter und sagte gegenüber den Journalisten, das Ende des Zionismus sei nahe.

Deshalb schrieb der israelische Historiker Dr. Meir Margalit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel einen offenen Brief, als diese im Frühjahr 2008 Israel einen Staatsbesuch abstattete und dabei das Leiden der Palästinenser mit keinem Wort erwähnte. „Wir brauchen keine Solidaritätsbekundung und auch keine pro-zionistische Reden, sondern internationalen Druck, der die Besatzung beenden kann. Alleine schaffen wir das nämlich nicht, denn der israelischen Regierung fehlt die Kraft, die einzige Operation durchzuführen, die unser Leben retten kann: die Entfernung des Tumors, der sich ‚besetzte Gebiete’ nennt.“ Er fährt fort: „Wenn Sie wirklich an der Seite Israels gegen seine Feinde stehen wollten, dann hätten Sie zuallererst den Staat Israel selbst kritisiert. Die größte Gefahr, die Israel zu fürchten hat (…), ist Israel selbst. Seit 1967 betreibt der Staat Israel nämlich ein System der Selbstvernichtung (…), denn jedem ist klar, daß die Fortsetzung der Besatzung das Ende des Staates Israel nach sich ziehen wird.“

 

Es gibt Hoffnung

Gesunde Zellen öffnen sich und kommunizieren miteinander. Das gilt nicht nur für einen Organismus, sondern auch zwischen Völkern. Israel und Palästinenser müssen miteinander reden, einander kennenlernen. Nur so ist Heilung und letztlich Frieden möglich. Herausragende Persönlichkeiten haben das längst erkannt und arbeiten an dieser notwendigen Verbrüderung. Ein Beispiel aus der Welt der Musik beeindruckt besonders:

Daniel Barenboim & Edward Said1999 in Weimar riefen der argentinisch-israelische Dirigent Daniel Barenboim und der amerikanisch-palästinensische Musiker und Schriftsteller Edward Said das West-Östliche Divan Orchester11 ins Leben. Junge Musiker im Alter von 14 bis 25 aus Ägypten, Syrien, dem Libanon, Jordanien, Tunesien, Israel, Palästina, und Andalusien treffen sich alljährlich für eine Arbeits- und anschließende Aufführungsperiode. Im August 2005 gab dieses kulturübergreifende Symphonieorchester ein vielbeachtetes Konzert in der palästinensischen Stadt Ramallah, das in vielen Ländern live übertragen wurde. Indem sie zusammen musizieren und gemeinsam über Gott und die Welt diskutieren, lernen diese jungen Menschen, daß sie so unterschiedlich gar nicht sind, unter denselben Ängsten leiden und dieselben Träume und Wünsche hegen. Ein palästinensischer Teilnehmer sagte vor der Fernsehkamera: "Fast alle Israeli, die ich bis anhin sah, saßen in Panzern und trugen Armeeuniformen; sie hatten für mich nie etwas Menschliches."

Auch Daniel Barenboim, der Jude, und Edward Said, der Christ, wurden engste Freunde. Saids Tod im Jahr 2003 traf den Meisterdirigenten schwer. Weil nun vermehrt auch Juden das israelische Ungerechtigkeitsregime anprangern, weil Israeli mit Freiwilligen aus aller Welt zusammen zerstörte Häuser der Palästinenser wieder aufbauen, lebt der Traum vom Frieden im Nahost indes weiter und gewinnt täglich an Lebenskraft – aller gegenteiliger politischen Ränke zum Trotz.

 

Quellenangaben

  • 1 Publiziert in der US-Zeitung The Nation, 31. Juli 2008
  • 2 Die Eiserne Mauer, 2006. Ein Film von Mohammed Alatar.
  • 3 Jimmy Carter: Palestine, Peace not Apartheid; leider nur in englischer Sprache erhältlich.
  • 4 Camp David-Abkommen, 1978
  • 5 Publiziert von Gideon Levy am 12. Juli 2008 in der israelischen Tageszeitung Ha'aretz.
  • 6 Der jüdische Nationalfond verwaltet 92 Prozent des Landes in Israel und erlaubt Nichtjuden die Nutzung des Bodens nicht.
  • 7 Joel Kovel: Overcoming Zionism: Creating a Single Democratic State in Israel/Palestine; Pluto Press 2007.
  • 8 Jeder Jude, der auf mütterlicher Seite eine jüdische Großmutter aufweisen kann, erhält automatisch die israelische Staatsbürgerschaft.
  • 9 Jüdisch für "Katastrophe"; wird zur Bezeichnung der Judenvernichtung verwendet.
  • 10 Avram Burg: The Holocaust is Over; We Must Rise from Its Ashes; Macmillan 2008.
  • 11 Der Name leitet sich von Goethes berühmter Gedichtsammlung West-östlicher Divan ab.