Immer mehr Menschen greifen zu Schmerzmitteln, als wären sie Lutschbonbons. Dabei können manche sogar in die Heroinabhängigkeit führen. Auch andere Nebenwirkungen sind weit gravierender, als allgemein angenommen – im schlimmsten Fall tödlich. Doch Schmerzen haben einen Sinn. Und es gibt viele Möglichkeiten, wie wir Schmerzen ohne Chemie in den Griff bekommen können.
Weinend sitzt der Bub in der Stube und streicht über sein schmerzendes, leicht geprelltes Knie. Der Zusammenstoß beim Fußballspielen war heftig gewesen. Sein Vater betritt den Raum, schaut ihn lächelnd an und sagt: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Damit war das Thema früher, noch vor wenigen Jahrzehnten, bereits erledigt. Heute könnte es leicht sein, dass der Vater zur Hausapotheke greift und dem Junior ein Schmerzmittel in die Hand drückt. Tja, früher waren die Menschen eben weniger mitfühlend, mag jetzt einer sagen. Vielleicht. Und Schmerzmittel gab es damals auch weniger. Auch richtig. Allerdings gibt es Aspirin schon eine kleine Ewigkeit. Man hat es jedoch nur in Ausnahmefällen eingenommen. Für Kinder waren Schmerzmittel sowieso tabu.
Analgetika – so der Fachbegriff für Schmerzmittel – sind für viele Menschen zu einem Teil des Alltags geworden. Jeder vierte Deutsche nimmt laut Umfragen (fast) täglich Schmerzmittel zu sich, deutlich mehr als die Hälfte aller Bundesbürger zumindest alle drei Monate. Damit sind Analgetika die klare Nummer eins unter den regelmäßig geschluckten Arzneimitteln mit Suchtpotenzial. Geschätzte 500'000 Deutsche sind süchtig, vor allem nach schweren Schmerzmitteln wie dem synthetischen Opiat Tramadol. Bekannt ist dieses unter der Marke Tramal des Pharmakonzerns Grünenthal. Das ist jene Firma, die Anfang der 1960er-Jahre durch den Contergan-Skandal weltberüchtigt wurde, weil die Einnahme dieses Schlafmittels während der Schwangerschaft zu Todgeburten und Missbildungen bei Tausenden von Neugeborenen führte.
Opiate und synthetische Opiate (Opioide) wirken direkt auf das Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) und unterdrücken weitgehend das Schmerzsignal. Außerdem machen sie schnell abhängig. Entzugssymptome bei einem schnellen Absetzen sind unter anderem Herzrasen, Muskelzittern oder Angstattacken. Das vor allem bei Krebspatienten eingesetzte Morphium gilt als Einbahnstraße in Richtung Tod. Trotz dieser massiven Schmerzmittel brechen Schmerzen häufig durch, was in einen Teufelskreis mit noch stärkeren Schmerzmitteln oder noch höheren Dosen führt.
Nicht selten endet eine Schmerzmittelsucht tödlich. So starb der 57-jährige Popstar Prince im April 2016 „versehentlich“ an einer Überdosis des Schmerzmittels Fentanyl, wie eine gerichtsmedizinische Untersuchung ergab. Dieses synthetische Opiat, welches Morphium ähnelt, ist 50 Mal stärker als Heroin und 100 Mal stärker als Morphium. Nur so konnte Prince noch Auftritte mit seinen von exzessiven Bühnenshows ruinierten Hüften und Knien absolvieren. Doch ein Leben ohne Bühne konnte sich der Sänger nicht vorstellen – was letztlich auch sein Todesurteil war. Prince steht beispielhaft für einen Trend, vor allem in den USA: Der Missbrauch an verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln ist zur „Epidemie“ geworden – so bezeichnete die staatliche Gesundheitsbehörde CDC die Situation schon im Jahr 2011. Starben 1999 etwa 4'000 Menschen an einer Überdosis Opioiden, waren es 2008 annähernd 15'000 und 2014 mindestens 28'000 Personen – davon knapp 5'500 allein wegen Fentanyl. Die Dunkelziffer ist indes weit höher, da man oft auf eine Obduktion der Suchttoten verzichtet.
Besonders Opiat-Schmerzmittel können völlig unvermittelt und rasant in die Hölle führen. Chris, eine junge Frau aus den USA, war gerade Mutter geworden. Was gibt es Schöneres – auch wenn der Kaiserschnitt bei der Geburt ihr Glück ein wenig trübte? Als Schmerzmittel bekam sie Tabletten mit dem Opiat-Wirkstoff Oxycodon. „Ich hätte mir nie vorstellen können, eines Tages auf Heroin zu sein und wegen Schmerzmitteln in einer Situation wie dieser zu stecken“, sagte sie Jahre später verzweifelt in die Kameras, als sie von einer Polizeistreife im US-Bundesstaat Kentucky angehalten wurde. „Jedem Mädchen, das ich kenne, geht es wie mir. Eine Freundin hatte sogar einen Magisterabschluss und eine Stelle als College-Professorin. Jetzt ist sie tot. Überdosis.“ Weil die Polizisten keinen Stoff finden, lassen sie die junge Frau laufen. Davor wischt sie sich noch die Tränen aus ihren Augen. Chris hat drei Kinder, die bei den Großeltern aufwachsen, wie es im ARD-Journal Weltspiegel weiter hieß.
Amokläufe analysiert!
John Noveske war ein prominenter US-Waffenproduzent, der in einem Facebook-Eintrag darauf hinwies, dass fast alle Amokläufer unter Medikamenten standen. Einen Tag später, am 4. Januar 2013, kam er unter mysteriösen Umständen bei einem Autounfall ums Leben. Viele glauben, das sei kein Zufall: Amokläufe der letzten 20 Jahre analysiert
Oxycodon kann als Opiat-Schmerzmittel in kurzer Zeit abhängig machen. Und es führt viele, die es einnehmen, zu einer anderen Droge: Heroin. Die chemische Struktur des legal verschriebenen Schmerzmittels und des illegalen Suchtmittels sind fast identisch, weshalb sie sich auch an dieselben Rezeptoren im Gehirn binden. Das Perverse an der Sache, das sich die betroffenen Pharmakonzerne vorwerfen lassen müssen: „Heroin ist viel billiger und zudem leichter zu besorgen“, sagt ein Sheriff. Schon längst gibt es nicht nur Dealer für Heroin, sondern auch für solche Schmerzmittel. Die Polizei steckt in der Zwickmühle: Je mehr Schmerzmittel-Dealer sie festnimmt und je schwerer es wird, die Pillen auf der Straße zu bekommen, desto rasanter wächst die Zahl der Heroin-Abhängigen.
Der Teufelskreis wurde in den 1990er-Jahren in Gang gesetzt, als die Ärzteschaft beschloss, schon moderate Schmerzen mit starken Schmerzmitteln zu betäuben. Auch in Europa ging man in diese Richtung, aber längst nicht so radikal wie in den USA. Innerhalb von zehn Jahren explodierten die Verschreibungen von Schmerzmitteln im Land der unbegrenzten Möglichkeiten so sehr, dass Millionen Amerikaner danach süchtig wurden. Etwa 80 Prozent der weltweit konsumierten Schmerzmittel kamen in den USA zum Einsatz – also bei fünf Prozent der Weltbevölkerung. Als die Behörden den Medikamentenzugang einschränkten, stiegen viele Abhängige auf Heroin um. Aus diesem Grund grassiert derzeit die schlimmste Heroinsucht seit den 1970er-Jahren. Über 10'500 Menschen starben 2014 daran, doppelt so viele wie 2012.
Wie Studien zeigen, ist die Gefahr, aufgrund von Schmerzmitteln heroinsüchtig zu werden, rund zwanzig Mal größer. Etwa 80 Prozent aller Heroinabhängigen waren zuvor von Opiat-Schmerzmitteln wie Oxycodon oder Hydrocodon abhängig. Kein Wunder, wenn man die ähnliche Wirkung betrachtet: eine starke Schmerzlinderung und (bei der missbräuchlichen Verwendung der Schmerzmittel) euphorische Gefühle, zusammen mit Benommenheit, gelegentlich Übelkeit und bei höheren Dosen verlangsamte Atmung bis zur Atemlähmung.
Alle diese Drogen verlangen nach immer höheren Dosierungen und führen, wenn sie nicht verfügbar sind, zu starken Entzugserscheinungen und nach längerer Einnahme auch zu Depressionen. Heroin ist in den USA nicht nur billiger und leichter zu bekommen als Opiat-Schmerzmittel, man kann sich damit auch viel schneller in die kurze und fatale Euphorie katapultieren. Inzwischen gibt es zahlreiche Dokumentationen und Medienberichte zum Thema Heroinsucht in den USA, teilweise wird auch der Zusammenhang mit Schmerzmitteln erwähnt. Eine Aussage machen Betroffene fast immer: Sie hätten sich nie vorstellen können, einmal heroinsüchtig zu werden.
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