Nur die analogen Erinnerungen zählen

David Seiler | 24. Mai 2024

Über 95 Prozent aller befragten Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 in Deutschland, Österreich und der Schweiz besitzen heute ein Smartphone. Und fast alle nutzen TikTok, Instagram und Co. Ein Leben ohne Smartphone und Social Media ist für viele unvorstellbar. Wohl auch, weil sie es gar nicht anders kennen. Noch nie gab es eine Generation, die so intensiv und ununterbrochen mit digitalen Reizen überflutet wurde. – Ein Blick zurück, damit wir es für die Zukunft besser machen können.

Glückliche Kindheitserinnerungen
Spielen in der Natur fördert die kindliche Entwicklung ungemein.

Als Kind der 90er-Jahre hatte ich das grosse Glück, noch gänzlich ohne Handy, Smartphone, Tablet und Co aufwachsen zu können. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, habe ich fast ausschliesslich nur analoge Erinnerungen. Sprich, ich erinnere mich an all die Abenteuer, die ich mit Freunden und Familie im realen Leben erfahren habe. Wir zogen stundenlang durch die Wälder, bauten Hütten, stauten Bäche, machten Feuer und picknickten. Wir hatten die beste Zeit zusammen, wenn wir mit unseren Fahrrädern und dem Tret-Gokart das Dorf unsicher machten. Und dabei alkoholfreies Panaché (Biermischgetränk) kauften und uns richtig cool fühlten ... wie Jungs halt so sind. Im Sommer verbrachten wir fast jede freie Minute zusammen im Schwimmbad oder auf der Wiese beim Fussballspielen. 

Manchmal machten wir auch richtig dumme Sachen, wie zum Beispiel ohne unseren Eltern etwas zu sagen einfach zu verschwinden und stundenlang durch die Bäche in den angrenzenden Feldern zu waten. Wir waren ja schliesslich Entdecker auf grosser Mission. Oder Nägel an Pfeilen zu befestigen und aufeinander zu schiessen war aus der heutigen Sicht eines Erwachsenen wohl auch nicht die beste Idee. Rückblickend hätte das wohl arg ins Auge gehen können. Ist es zum Glück aber nicht. Und heute würde ich wohl auch keine alten und baufälligen Hausruinen mehr erkunden. Spannend war es damals aber trotzdem.

Auch ich hatte irgendwann Zugang zu einem Computer. Darauf lief jedoch nur Windows 98 und das einzige Spiel, das ich manchmal spielen durfte, war Age of Empires II. Ich kann mich noch heute, über 20 Jahre später, noch sehr genau an die Freude erinnern, als ich das gewünschte Spiel endlich bekam und auf Papas altem Computer spielen durfte. An die vielen Stunden die ich das Game zockte, kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Weil es keine reale Tätigkeit war, die mein Gehirn in irgendeiner Form nachhaltig stimuliert hatte. Und ja, auch ich hatte irgendwann einen GameBoy, mit dem ich das damals in die Welt der Pokémon eintauchen konnte. Aber auch vom der Tätigkeit des Gamens an sich gibt es keine nennenswerten Erinnerungen. So gesehen war auch das eigentlich nur "verschwendete" Zeit.

Was bleibenden Eindruck hinterlassen hat, waren all die tollen Momente mit Freunden, Familie oder alleine in der Natur, die freudvollen Stunden bei Spielnachmittagen oder die Zeit im Schwimmbad und auf der Fußballwiese. Eine Zeit, in der wir noch wirklich Kinder sein konnten, im Hier und Jetzt lebten, ohne ständig den Feed unserer Social-Media-Kanäle checken zu müssen. Niemand musste sich ständig filmen oder irgendetwas fotografieren, um seine Follower zu beeindrucken. Wir folgten einander auch so durch dick und dünn.

Heute gehen Menschen in Comedy-Shows, ins Restaurant, an Konzerte oder schöne Orte in der Natur und haben ständig das Smartphone in der Hand. Viele von uns haben verlernt, das Leben zu sehen, wie es wirklich ist. Und beim Bearbeiten der Fotos zu Hause denken sie sich dann: "Wow, wie toll. Das müsste ich einmal in natura erleben." Ganz so schlimm ist es wohl noch nicht, doch warum sich den Stress antun, immer auf der Suche nach dem besten Foto, dem beeindruckendsten Ort und dem extravagantesten Essen zu sein? Warum nicht einfach das Smartphone weglegen und den Moment genießen. Denn aus dem bewusst gelebten Augenblick wird eine Erinnerung. Die flüchtigen Momente des Glücks, ausgelöst durch die Zustimmung in sozialen Netzwerken, verblasst irgendwann zu Schall und Rauch.

Jetzt bin ich selber Vater und es macht mich manchmal traurig zu sehen, wie viele Eltern selber immer nur hinter einem Bildschirm kleben und den Bezug und die Verbindung zu ihrem Nachwuchs total verloren haben. Sei es auf dem Spielplatz, auf dem Spaziergang oder in einem Restaurant. Wir früheren Generationen hätten all die guten analogen Erinnerungen nicht, wenn unsere Eltern sie uns nicht ermöglicht hätten. Hinzu kommt, dass Kinder ungemein von Vorbildern bzw. durch Nachahmung lernen. Je früher ein Kind merkt, dass Papas Smartphone und Mamas Tablet wichtiger ist als vermeintlich alles andere, umso mehr wird es auch so ein Ding haben wollen.

Eine meiner frühsten Kindheitserinnerungen ist jene, als wir zu Hause junge Hundewelpen hatten. Tatsächlich war das von meinen Eltern keine geplante Aktion, aber die Erfahrung war trotzdem genial für mich als Kleinkind. Ich weiss noch, wie wir mit der Hundemama und all den kleinen Welpen im Wald spazierten. Mann, war das eine Rasselbande. Ich will nicht sagen, dass jedes Kind Hundewelpen haben muss, um glücklich zu sein. Doch verlieren immer mehr Kinder den Bezug zur Realität. Bereits 2015 war es so, dass fast die Hälfte alle befragten Vier- bis Zwölfjährigen noch nie auf einen Baum geklettert ist. Und mehr als die Hälfte alle Eltern hätte damals ihren Kindern verboten, alleine im Wald zu spielen. Und fast ein Viertel der Kinder hat noch nie ein freilebendes Wildtier (zum Beispiel ein Reh) gesehen. Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt das elementare Wissen über Pflanzen und Wildtiere vor unsere Haustüre. Dabei ist schon lange belegt, wie wichtig Naturerfahrungen für die kindliche Entwicklung sind. Spielen am Bach, auf der Wiese oder im Wald fördert die Motorik, das Sprachvermögen, Selbstbewusstein und soziale Kompetenzen.

Aber die Social-Media-Sucht betrifft längst nicht nur Kinder und Jugendliche. Auch immer mehr Erwachsene und Rentner sind zu beobachten, wie sie von allem und jedem ein Foto machen und es teilen müssen. Doch warum? Macht es uns irgendwie langfristig glücklicher und zufriedener, wenn wir der halben Welt zeigen können, wo wir waren, was wir gemacht und gegessen haben? Oder sind es nicht vielmehr die Emotionen und Eindrücke der Erlebnisse – die Schönheit des bewusst erlebten Augenblicks – die wir konservieren und für die Zukunft in uns tragen? Immer vorausgesetzt, wir nehmen unsere Umwelt bewusst und nicht durch die Handykamera wahr. Oder erinnern Sie sich noch an die vielen Momente, in denen Sie ein Foto gemacht haben? Wir täten also gut daran, das Smartphone wegzulegen und endlich aufzuwachen aus dem Social-Media-Träumen und uns ins reale Leben zu begeben – für uns und unsere Kinder!

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