"Friluftsliv" macht uns glücklich
Die glücklichsten Menschen der Welt leben alle in den skandinavischen Ländern. Ein Blick auf die nordische Lebensweise und ihre Kultur zeigt: Wir Menschen brauchen eigentlich nicht viel, um glücklich zu sein.
Der norwegische Lyriker Henrik Ibsen beschrieb mit seiner Wortschöpfung "Friluftsliv" schon im 19. Jahrhundert die auch heute noch geltende Auffassung der Norweger, dass der Großteil des Lebens am besten draußen verbracht wird. Wir Mitteleuropäer täten gut daran, uns an dieser Lebensphilosophie zu orientieren. Denn gemäß dem World Happiness Report 2024 liegen die fünf skandinavischen Länder alle in den Top 10 der Rangliste – wovon Finnland, Dänemark, Island und Schweden die Plätze eins bis vier belegen und Norwegen auf dem siebten Rang ist. Offensichtlich machen die nordischen Länder etwas ganz richtig, denn sie haben auch zufriedene Kinder, die sie zu glücklichen Erwachsenen erziehen.
Das norwegische Friluftsliv setzt sich aus "fri" (frei), "luft" (Luft) und "liv" (Leben) zusammen und meint so viel wie "Leben in der freien Natur". Ibsen nutzte den Begriff, um zu beschreiben, wie wichtig es für das geistige und körperliche Wohlbefinden ist, Zeit an abgelegenen Orten zu verbringen. Dabei ist Friluftsliv nicht an eine bestimmte Aktivität gebunden, es hat eine viel tiefere Bedeutung. Es ist ein fester Bestandteil der nationalen Identität Norwegens und bedeutet, sich vom Alltagsstress zu lösen und Teil des kulturellen "wir" zu sein, das die Menschen als Teil der Natur zusammenhält. Das Erleben der Natur steht immer im Vordergrund, wobei sich die Sinne ungestört auf die Umgebung einlassen können. Man entschleunigt und lebt im Hier und Jetzt. Friluftsliv ist unabhängig vom Wetter und hat zu jeder Jahreszeit Saison. Die Vorteile liegen auf der Hand:
Körperliche Aktivitäten an der frischen Luft steigern die Ausdauer und beugen Krankheiten vor, die durch Bewegungsmangel entstehen. Und auch die psychische Gesundheit profitiert vom Aufenthalt im Freien: Dort kann das Gehirn zur Ruhe kommen und sich von all den Reizen erholen, denen es im Alltag permanent ausgesetzt ist. Regelmäßige Aufenthalte im Freien verringern den Stress, stärken das Immunsystem und helfen so, die körpereigenen Energiereserven wieder aufzuladen (Stichwort Biophilia-Effekt).
Die Skandinavier sind allesamt sehr naturverbunden und daher ist es ihnen wichtig, dass auch ihre Kinder viel Zeit in der Natur und im Freien verbringen. Kinder wachsen in den nordischen Ländern daher ganz selbstverständlich sehr naturverbunden auf. Wir alle kennen das Bild der schlafenden Kinder, die im Kinderwagen vor dem Haus stehen – Frischluft im wahrsten Sinne des Wortes. Aber auch die Kindergärten und Schulen sind sehr naturbezogen und es gibt viele Waldkindergärten und -Schulen in denen Friluftsliv praktiziert wird. Das bewusste Erleben der Natur ist für alle Altersstufen wichtiger Teil des Alltags. Eigentlich logisch, fördert die frische Luft doch die Konzentration und hilft, Stress abzubauen. Die gute Laune gibt es gratis dazu.
Friluftsliv hat auch Einfluss auf die Kindererziehung. Skandinavische Eltern legen viel Wert auf das freie Spiel ihrer Kinder. Hierbei lassen die Eltern ihren Kinder viel Freiraum, mischen sich nur sehr wenig ein und geben keine Richtung vor. Der Spielfluss wird ganz den Kindern überlassen. Diese lernen dadurch, ihren Fähigkeiten zu vertrauen. Dadurch lernen sie eine Selbstwirksamkeit und können Hindernisse und Probleme besser alleine bewältigen.
Was wir von den Skandinaviern lernen können
Es ist keine kulturelle Aneignung, wenn wir uns von den nordischen Kulturen abschauen, was besonders gut funktioniert, und diese Ansätze auch in unser Leben integrieren.
- Das freie Spiel fördern
Das lässt sich draußen viel leichter umsetzen als innerhalb der vier Wänden. Je freier Kinder in ihrem Spielen sein dürfen, umso mehr werden sie spielen. Kinder können sich sehr schnell in neue (und ungewohnte) Umgebungen einfügen und ihrer Kreativität freien Lauf lassen. - Kinder mehr freie Zeit gewähren
Eltern haben oftmals die Tendenz, den Tag ihres Kindes von morgens bis abends voll durchzustrukturieren und jede freie Minute zu verplanen. Das Kind muss ja vermeintlich beschäftigt werden. Das gilt auch für Familienausflüge. Diese müssen jedoch nicht verplant sein, die Rahmenbedingungen genügen. Dies hilft den Kindern, einfach in ihren ganz eigenen Flow zu kommen und sich in der Natur mit sich selbst zu verweilen. Es braucht nämlich nicht viel, um Kinder glücklich zu machen. - Mehr Ausflüge in die Natur
Städte haben fürwahr etwas faszinierendes an sich – jedoch meist nur für Erwachsene. Kinder langweilen sich oftmals sehr schnell in den großen Häuserschluchten. Die Natur ist willkommener Tapetenwechsel und die Kinder finden alles, was sie zum Spielen brauchen. Und das erlaubt es den Eltern, selbst auch einmal zu sein und durchzuatmen. - Kinder brauchen Bewegung
Kinder müssen nicht überallhin mit dem Eltern-Taxi chauffiert sein. Wenn es die Strecke erlaubt, kann der Weg zur Schule oder ins Training auch gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewältigt werden. Und wer einen Garten hat, der schickt seine Kinder am besten so oft wie möglich raus zum Toben und Spielen. - Regen macht schön
Es gibt kein schlechtes Wetter, nur die falsche Kleidung. Nieselregen oder kühlere Temperaturen sollen kein Hinderungsgrund sein, Zeit im Freien zu verbringen.
Und der folgende Ratschlag ist kein Kulturgut aus dem hohen Norden, sondern vielmehr essentiell wichtig, um glückliche und zufriedene Kinder zu haben: Kinder sollen so wenig Zeit wie möglich mit Smartphone, Tablet und Computer verbringen – was natürlich auch fürs Internet gilt. Denn das Beispiel der Amazonas-Indianer sollte uns abschreckendes Beispiel genug sein.
Die Marubo-Indianer im Amazonasgebiet haben seit September 2023 dank Elon Musk und seinen Starlink-Satelliten Zugang zum Internet. Dies ist einerseits für die Stammesmitglieder sehr wertvoll, da sie bei Notfällen sofort medizinische Hilfe anfordern können. Was auch schon einige Leben gerettet hat. Doch bis jetzt verändert das Internet das Leben der knapp 2'000 Dorfbewohner nicht nur positiv. Denn für viele Stammesmitglieder wurde das Internet immer wichtiger und andere Dinge vernachlässigt. "Wenn man im Dorf nicht jagt, fischt und pflanzt, isst man nicht", so ein Bewohner. Der Stamm sah sich folglich gezwungen, strikte Internetzeiten einzuführen. Eine Stammesälteste führt weiter aus: "Junge Leute sind durch das Internet faul geworden, sie lernen die Sitten der Weißen kennen." Die jungen Stammesmitglieder würden den ganzen Nachmittag einfach nur noch am Smartphone verbringen wollen. Zudem würden viele junge Männer vermehrt harte Pornografie konsumieren, was zur Folge hat, dass diese nun aggressives Sexualverhalten an den Tag legen.
Nicht ohne Grund also, werden in letzter Zeit immer mehr Stimmen laut, die eine strikte Altersbeschränkung für Soziale Medien und Internetnutzung fordern. Denn auch hierzulande tummeln sich Kinder und Jugendliche laut aktuellen Erhebungen jeden Tag dreieinhalb bis fünf Stunden in der virtuellen Welt von Social Media – im Durchschnitt! Praktisch alle haben ein eigenes Smartphone und nutzen TikTok, Instagram und Co. Eine solche Reizüberflutung gab es noch nie. Doch die Handys machen unsere Jugend systematisch krank. Das schreibt der US-Psychologieprofessor Jonathan Haidt in seinem neuen Buch "Generation Angst". Die Generation Z (ab 1996 geboren) ist so psychotisch, neurotisch, depressiv und verängstigt wie keine vor ihr. Zahlen belegen, dass dieses besorgniserregende Phänomen um das Jahr 2010 begann, nur wenige Jahre nach der Gründung von Facebook und dem Aufkommen der Social Media. Deshalb fordert der Schweizer Philosoph Rolf Dobelli radikal: „Social Media sollte für unter 16-Jährige verboten sein. Auch in der Schweiz. Und für Smartphones sollte das Zugangsalter bei 14 liegen.“ Dass das keine Utopie bleiben muss, zeigt der US-Bundesstaat Florida. Dort hat man gerade ein Gesetz verabschiedet, das Social Media für unter 14-Jährige verbietet.
Doch da Verbote alleine nicht funktionieren, braucht es immer sinnvolle Alternativen, um den Kindern und Jugendlichen den vermeintlichen "Verzicht" schmackhaft zu machen – womit wir wieder beim Friluftsliv sind.
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