„Der Himmel ist kein Ort, sondern ein Zustand“

Die krebskranke Anita Moorjani lag im Sterben – und fand sich plötzlich in einer lichtvollen Welt wieder. Das Nahtoderlebnis gab ihrem Leben einen neuen Sinn und ließ sie vom Krebs genesen.

„Oh mein Gott, was für ein unglaubliches Gefühl! Ich bin so frei und leicht. Wie kommt es, dass ich in meinem Körper keinen Schmerz mehr empfinde? Wohin ist der plötzlich verschwunden? Hey, warum scheint sich meine ganze Umgebung von mir zu entfernen? Aber das erschreckt mich gar nicht! Warum habe ich keine Angst? Wohin hat sich die Angst verflüchtigt? Wahnsinn, ich kann meine Angst nicht mehr finden!“

Jeder muss für sich selbst herausfinden, was ihm hilft, immer wieder die eigene Mitte zu finden und zur Ruhe zu kommen.

Jeder muss für sich selbst herausfinden, was ihm hilft, immer wieder die eigene Mitte zu finden und zur Ruhe zu kommen.

Als sie diese Gedanken hatte, war es der 2. Februar 2006 – Anita Moorjani war als Folge ihrer schweren Krebserkrankung gerade ins Koma gefallen und wurde von ihren Familienangehörigen eiligst ins Krankenhaus gebracht. Dort teilte die Onkologin diesen mit: „Es ist zu spät, sie noch zu retten.“ Die Familie flehte die Ärztin an, alles Menschenmögliche zu tun, um die geliebte Ehefrau und Tochter am Leben zu erhalten. Aber Anita Moorjanis Organe begannen bereits zu versagen. Die Ärztin war überzeugt: „Die Nacht wird sie nicht überleben. Sie bitten mich um etwas Unmögliches.“

Derweil war Anita Moorjani, obwohl sie im Koma lag, das Geschehen um sie herum voll bewusst. „Von wem redet die Ärztin?“, fragte sie sich. „Ich habe mich nie in meinem Leben besser gefühlt! Und warum sehen Mama und Danny so angsterfüllt und besorgt aus? Mama, bitte weine nicht. Was ist los? Weinst du meinetwegen? Weine nicht! Mir geht es gut, liebe Mama, wirklich!“ Anita Moorjani dachte, sie spräche die Worte laut, doch es kam kein Ton heraus. „Schau Danny – ich kann mich ohne meinen Rollstuhl bewegen. Das fühlt sich so erstaunlich an! Und ich bin nicht mehr an die Sauerstoffflasche angeschlossen. Oh, ich atme auch nicht mehr so mühsam, und meine Hautläsionen sind verschwunden. Sie nässen nicht mehr und tun auch nicht mehr weh. Nach vier qualvollen Jahren bin ich endlich geheilt!“

Im Buch über ihre Nahtoderfahrung schreibt Anita Moorjani, dass sie sich zu jenem Zeitpunkt in einem Zustand reinster Freude befand und jubilierte. Endlich war sie von den starken Schmerzen befreit, die der Krebs, der ihren Körper verwüstete, verursacht hatte! Gleichzeitig nahm sie aber auch wahr, was ihre Familienangehörigen und auch die Ärztin gerade durchmachten. Sie konnte die Angst, Sorge, Hilflosigkeit und Verzweiflung fühlen. Und irgendwann setzte die Erkenntnis ein, dass sie im Sterben lag. „Oh … ich sterbe! So fühlt sich das also an? So habe ich es mir nie vorgestellt. Ich fühle mich so wunderbar friedvoll und ruhig … und endlich geheilt!“

Anita Moorjani beobachtete nun, wie ein Team von Medizinern ihren Körper auf die Intensivstation verlegte. Sie umschwärmten den fast leblosen Körper mit fieberhafter Aktivität, schlossen ihn an Apparate an und hantierten mit Nadeln und Schläuchen. Währenddessen empfand Anita Moorjani für den schlaffen Körper auf dem Krankenhausbett – nichts. Für sie sah er viel zu klein und unbedeutend aus, um das, was sie gerade erlebte, in sich beherbergen zu können. „Und dann hatte ich das Gefühl, von etwas umfangen zu werden, das ich nur als reine, bedingungslose Liebe beschreiben kann. Aber selbst das Wort Liebe wird dem nicht gerecht. Es war die größtmögliche Art von Wertschätzung, und noch nie zuvor hatte ich dergleichen erlebt. Es war jenseits von jeder uns vorstellbaren Form körperlicher Zuneigung, und es war bedingungslos – dies kam mir zu, ganz gleich, was ich jemals getan hatte.“ Anita Moorjani war in diese Energie gleichsam eingetaucht und fühlte sich durch sie erneuert. Sie gab ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit, so, als sei sie nach all den Jahren des Kampfes, des Schmerzes, der Furcht und der Angst schließlich angekommen. „Endlich war ich nach Hause gekommen“, schreibt Anita Moorjani rückblickend.

Ein langer Leidensweg

Geboren wurde Anita Moorjani am 16. März 1959 in Singapur und ihre Kindheit war eingebettet in drei Sprachen und Kulturen. Als Kind indischer Eltern wuchs sie in der damaligen britischen Kolonie Hongkong auf, einer pulsierenden und betriebsamen Metropole, die überwiegend von Chinesen bevölkert ist. Mit den ortsansässigen Leuten sprach sie daher Kantonesisch, in der britischen Schule, die sie besuchte, lernte sie Englisch und zu Hause sprach ihre Familie die indische Muttersprache Sindhi. Die Familie praktizierte die traditionelle Lebensweise der Hindus und folgte den Lehren der in den Veden enthaltenen Schriften. Anita Moorjani wuchs daher mit dem Glauben an Reinkarnation und Karma auf.

Als Anita Moorjani im Koma lag, spürte sie die Gegenwart ihres verstorbenen Vaters und ihrer an Krebs verstorbenen Freundin.

Als Anita Moorjani im Koma lag, spürte sie die Gegenwart ihres verstorbenen Vaters und ihrer an Krebs verstorbenen Freundin.

Mit den kulturellen Unterschieden hatte sie als Kind stark zu kämpfen. Sie war hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen. An der britischen Schule, die sie besuchte, waren die meisten Kinder in ihrer Klasse blond und blauäugig, und so stach Anita heraus und wurde oft gehänselt, weil sie eine dunklere Hautfarbe und dickes schwarz-gewelltes Haar hatte. Sie war deshalb häufig traurig, fühlte sich zurückgewiesen und einsam. Freunde hatte Anita nur unter den indischen Kindern, die mit ihr den Vedanta-Unterricht besuchten. Hier war sie in der Klasse beliebt, was im starken Gegensatz dazu stand, wie es ihr sonst an ihrer Schule erging, in der sie so verzweifelt gern dazugehören wollte. So wuchs Anita mit dem Gefühl auf, zwei verschiedene Leben zu führen.

In ihrer Jugendzeit empfand Anita Moorjani die Bräuche der traditionellen hinduistischen Lebensweise immer einschränkender und sah durch diese ihre Träume und Wünsche gefährdet. Trotzdem ließ sie sich zu einer arrangierten Ehe überreden, doch nur, um diese wenige Tage vor dem festgesetzten Hochzeitstag – als alles schon gekauft und bezahlt war – platzen zu lassen. Eine Entscheidung, die zu erheblichem Aufruhr und unschönen Beschimpfungen führte. Diese Ereignisse hinterließen tiefe Spuren in ihrer Seele.

Ihren perfekten Seelenpartner sollte Anita Moorjani eines Tages dennoch finden – doch nicht als Folge der Bemühungen ihrer Eltern, sondern bei einem spontanen Treffen in einer Bar. Danny Moorjani stammte ebenfalls aus einer Familie mit indischem Hintergrund, war aber wie Anita in Hongkong aufgewachsen und hatte das britische Schulsystem durchlaufen. Er lehnte viele der indischen Sitten und Bräuche ab. Am 6. Dezember 1995 schlossen die beiden den Bund der Ehe.

In den kommenden Monaten und Jahren normalisierte sich das Leben der jungen Inderin – glücklicherweise. Sie hatte einen guten Job bei einer französischen Firma und fühlte sich beliebt und erfolgreich, sobald sie sich außerhalb der Grenzen ihrer eigenen Kultur bewegte. Doch an ihr nagte stets das Gefühl, irgendwie unzureichend zu sein, das Empfinden, versagt oder nicht den Standard erreicht zu haben, den man von ihr erwartete. „Diese nörgelnde Stimme folgte mir überallhin und sorgte dafür, dass ich nie das Gefühl hatte, gut genug oder hinreichend verdienstvoll zu sein. Irgendwie war ich beschädigte Ware beziehungsweise mit Makeln behaftet.“

Dann kam die Angst

Im Sommer 2001 wurde bei Anitas bester Freundin Soni Krebs diagnostiziert und nur ein paar Monate später auch bei Dannys Schwager, dem Mann seiner jüngeren Schwester. „Diese Nachricht flößte mir große Angst ein, denn die beiden Betroffenen waren ungefähr in meinem Alter. Ich begann, so viel wie möglich über Krebs und seine Ursachen zu recherchieren. Anfangs tat ich das in der Hoffnung, helfen zu können. Ich wollte für Soni da sein, ihr bei ihrem Kampf beistehen. Aber je mehr ich über diese Krankheit las, desto mehr fürchtete ich mich vor allem, was potenziell Krebs verursachen konnte. Das nahm solche Ausmaße an, dass ich mich schließlich vor dem Leben selbst fürchtete.“

Innerhalb eines Jahres starb Anitas Freundin Soni, ebenso Dannys Schwager. Operation, Chemo- und Strahlentherapie konnten ihre Leben nicht retten. Und dann, kurz vor dem Tod von Soni im Frühjahr 2002 zeigte sich, dass auch Anita Moorjani selbst an Krebs erkrankt war – an Morbus Hodgkin, einer Form von Lymphknotenkrebs. Dies zu einer Zeit also, als sie zusehen musste, wie diese Krankheit zwei ihr sehr nahestehende Menschen dahinraffte. Hilflos erlebte Anita Moorjani, wie die Chemotherapie die Körper, die sie heilen sollte, zerstörte. Furcht, Angst, Verzweiflung, Frustration, Wut und Zorn – das war das Spektrum an Emotionen, mit denen es Anita Moorjani nach dem Tod ihrer Freundin sowie nach der eigenen Krebsdiagnose zu tun hatte.

Wie erwartet riet ihr der zuständige Arzt zu einer Kombination von Chemo- und Strahlentherapie. Doch für Anita Moorjani war klar: „Ich werde mich keiner Chemotherapie unterziehen“, und sie begann, sich selbstständig nach Alternativen umzusehen. „Aus Angst und Verzweiflung recherchierte ich weiterhin alles, was ich über einen ganzheitlichen Gesundheitsansatz in Erfahrung bringen konnte, wozu auch die Heilsysteme des Ostens gehörten. Ich suchte diverse Spezialisten für Naturheilkunde auf und probierte verschiedene Arten von Heilverfahren aus. Ich versuchte es mit Hypnose, meditierte, betete, rezitierte Mantras und nahm chinesische Heilkräuter ein. Schließlich gab ich meine Arbeit auf und reiste nach Indien, um mich dem ayurvedischen Heilverfahren zu unterziehen.“ Insgesamt sechs Monate verbrachte sie in ihrem ursprünglichen Heimatland, während deren sie schließlich das Gefühl bekam, ihre Gesundheit wiederzuerlangen. „Mein Yogameister erlegte mir einen äußerst strikten Tagesablauf und Gesundheitsplan auf. Ich musste eine sehr spezielle vegetarische Kost und Kräutermedizin zu mir nehmen und bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang eine Abfolge von Asanas, Yogastellungen, durchführen.“ Die Art und Weise, wie der Yogameister mit ihr umging, erstaunte sie, denn er schien nicht einmal daran zu glauben, dass sie Krebs hatte. Er sagte zu ihr: „Krebs ist nur ein Wort, das Angst erzeugt. Vergiss das Wort, und wir konzentrieren uns einfach auf das Ausbalancieren deines Körpers. Keine Krankheit kann bleiben, wenn dein ganzes System im Gleichgewicht ist.“

Am Ende der sechs Monate war der Yogameister davon überzeugt, dass seine Krebspatientin geheilt war – und sie selber war es auch. „Ich fühlte mich siegreich, so als hätte ich endlich den Durchbruch geschafft, und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und wieder bei Danny zu sein.“

Nach ihrer Rückkehr nach Hongkong fühlte sich Anita Moorjani physisch und emotional besser, als dies seit Langem der Fall gewesen war, doch der Jubel war nicht von langer Dauer. Ihre Bekannten wollten wissen, was sie so lange in Indien gemacht hatte und wie sie denn geheilt worden war. „Wenn ich ihnen dann von meinem ayurvedischen Heilverfahren erzählte, reagierten sie hauptsächlich negativ und angstbesetzt. Es waren wohlmeinende Menschen, denen an mir und meinem Wohlergehen wirklich etwas lag, deshalb hatten sie so großen Einfluss auf mich. Doch sie waren skeptisch, was meine Entscheidungen anging. Die meisten glaubten, dass dem Krebs so nicht beizukommen sei, und ich fühlte, wie sich allmählich wieder Zweifel und Angst in meine Psyche schlichen, während ich meine Haltung verteidigte.“ In diesem Moment hätte sie erneut nach Indien reisen sollen, um ihre Gesundheit und Angstfreiheit zurückzuerlangen, kommentiert Anita Moorjani rückblickend. Stattdessen ließ sie sich vom Skeptizismus gegenüber der Wahl ihrer Behandlungsmethode beeinflussen und blieb in Hongkong.