Die Welt im Würgegriff von Amazon

Eigentlich wollte Jeff Bezos seine Firma „Relentless“ nennen: „Gnadenlos“. Nimmt man Amazon unter die Lupe, zeigt sich, dass der reichste Mann der Welt dieser Firmenphilosophie unerbittlich huldigt. Lesen Sie hier, wie ein harmlos wirkender Internetmarktplatz zum Kraken mutiert ist, der Arbeiter, Staaten und am Ende den ganzen Planeten zu erdrücken droht – und seine Fangarme bereits ins Weltall ausstreckt.

„Wenn wir jetzt nichts gegen die Marktmacht Amazons unternehmen, dann hat Amazon in 20 Jahren die Größe der Tyrell-Corporation [aus dem Film Blade Runner]. Ein Konzern, der praktisch die ganze Welt beherrscht und von der Wiege bis zur Bahre alle Dienstleistungen abdeckt“, warnt der Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger. Sein Kollege Gerrit Heinemann, Handelsexperte an der Hochschule Niederrhein bläst ähnlich düster ins Horn: „Wir haben es mit einer Feuerwalze zu tun, die man ganz deutlich am Horizont sieht. Da muss man mobilisieren. Es reicht nicht, einfach nur die Fenster zu schließen.“

Amazon gibt die Richtung vor und die restliche (Händler-)Welt muss versuchen, Schritt zu halten. Doch das ist gar nicht so einfach – vor allem, weil Amazon selten fair spielt. Aus diesem Grund müssen wir jetzt entscheiden, wie unsere gesellschaftliche Zukunft aussehen soll. Wollen wir einem skrupellosen Konzern tatsächlich erlauben, sich immer mehr in unserem Alltag breitzumachen, wie es bereits verschiedene Hollywoodfilme düster an die Wand malten? Einem Konzern, der danach strebt, die einzige Handelsplattform zu sein, und der genau weiß, was des Käufers Herz begehrt? Einem Konzern, der irgendwann alle Verbrauchsgüter selber produziert und anbietet? Bereits vor den Corona-Beschränkungen gab es in deutschen Klein- und Mittelstädten bei Verkaufslokalen eine Leerstandsquote von bis zu 40 Prozent. Immer mehr kleines Gewerbe hält dem Druck von Amazon nicht stand. Die Corona-Krise macht alles nur noch schlimmer. Die große Frage lautet daher: Liefern wir uns aus, wenn wir uns beliefern lassen?

Doch der Reihe nach. Amazon-Gründer Jeff Bezos hatte an der Elite-Universität Princeton studiert und heuerte im Verlauf seiner Wall-Street-Karriere beim Hedgefonds von David Shaw an. Shaw seinerseits hatte die amerikanische Börse revolutioniert, weil er als Erster spezielle Computeralgorithmen für den Hochgeschwindigkeitshandel von Wertpapieren einsetzte. Das war in den 1990er-Jahren, kurze Zeit nach der Erfindung des World Wide Web. Bezos’ Aufgabe bestand darin, für Shaw lukrative neue Geschäftsbereiche zu finden. Der damals 30-jährige Bezos erkannte schnell das unermessliche Potenzial des Internet und machte sich 1994 selbstständig, um seine Idee von einem ausschließlichen Internetladen zu realisieren. Das war die Geburtsstunde von amazon.com.

Auf der Suche nach einem passenden Firmennamen dachte Bezos auch über relentless.com nach (englisch für „unbarmherzig“, „unerbittlich“, „gnadenlos“) – Freunde rieten ihm jedoch davon ab. Sich nach dem größten Fluss der Welt zu benennen war vielleicht weniger ehrlich, doch bestimmt öffentlichkeitswirksamer.

Die meisten erfolgreichen Unternehmer gründen eine Firma, weil sie für ihr eigenes Produkt brennen. Nicht so Jeff Bezos. Ihm war klar, dass man mit dem schnell wachsenden Internet viel Geld verdienen würde. Und hierbei wollte er ganz oben mitmischen. Ironischerweise war sich Bezos anfänglich nicht einmal im Klaren darüber, welche Produkte er denn überhaupt verkaufen sollte. Also erstellte er eine Liste mit zwanzig möglichen Gütern, darunter Kleidung, Büromaterial, Computersoftware und Musik. Letztlich entschied er sich aus einem simplen Grund für Bücher: Es gibt so viele verschiedene Buchtitel, dass ein Onlinehändler damit einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem stationären Handel genoss, schließlich kann eine Buchhandlung unmöglich alle lieferbaren Titel ausstellen.

Eigentlich wollte sich Bezos mit seiner Firma in San Francisco niederlassen. Einziger Knackpunkt: In Amerika müssen Händler nur denjenigen Kunden Mehrwertsteuer berechnen, die im gleichen Staat leben, wo auch das Unternehmen seinen Sitz hat. Da Kalifornien bereits damals der bevölkerungsreichste Bundesstaat war, hätte Bezos dort seinen zentralen Vorteil gegenüber dem Einzelhandel verloren: Nämlich Bücher günstiger anbieten zu können. Also entschied er sich für Seattle im Bundesstaat Washington, der nur ein Sechstel der Bevölkerung von Kalifornien aufwies. Als reiner Internethändler konnte Bezos sowieso landesweit ausliefern, musste aber in den übrigen 49 Gliedstaaten keine Mehrwertsteuer auf den Preis schlagen und unterbot so fast überall den lokalen Buchhandel. Als Konsequenz verloren die Buchhändler immer mehr Kunden an Amazon. Diese schauten sich zwar vor Ort nach interessanten Neu-Erscheinungen um, bestellten dann aber lieber bei Bezos in Seattle. Heute werden über 70 Prozent aller Buchverkäufe in den USA über Amazon abgewickelt. Mittlerweile ist die Maxime der Steuer-Ersparnis zur zentralen DNA des Weltkonzerns geworden.

Forbes-Titel vom 30. September 2018: „Bezos entfesselt: Er hat den innovativsten und gefürchtetsten Moloch des 21. Jahrhunderts geschaffen – und jede Branche ist nun Freiwild.“

Mächtig, mächtiger, Amazon

Jeff Bezos ist unter anderem so erfolgreich, weil er den Blick fürs Detail behält, dabei aber niemals den Horizont der Zukunft aus den Augen verliert. Er spricht die Sprache der Finanzmärkte und versteht es wie kein anderer, den Wall-Street-Investoren seine Vision zu verkaufen. In einer Wirtschaft, in der alle nur an kurzfristigen Renditen interessiert sind, schafft er es, seine langfristigen Ziele zu erreichen und zugleich seine Geldgeber hinter sich zu vereinen. Bezos gibt den Börsianern zu verstehen, dass er über ein System verfügt, den Markt zu monopolisieren. Dies braucht zwar Zeit, aber dafür wird die Rendite umso höher ausfallen. Egal in welchem Sektor sich Amazon neu engagiert, am Anfang macht der Konzern ganz bewusst hohe Verluste, um Konkurrenten finanziell auszubluten. So hatten es die USA im Kalten Krieg beim Wettrüsten mit der Sowjetunion gemacht.

2013 stieg Amazon in Indien ein, einem schnell wachsenden Markt, der auf über 100 Milliarden Dollar geschätzt wird. In den ersten Jahren investierte Bezos über fünf Milliarden Dollar und machte dabei einen Verlust von knapp 900 Millionen Dollar. Die Investoren machen mit, weil sie wissen, dass kaum jemand diesen gnadenlosen Preiskampf überlebt. Am Ende werden die Konkurrenten in der Regel von Amazon übernommen.

So trieb Bezos beispielsweise das Unternehmen Quidsi in den Ruin, welches mit der Internetseite diapers.com einen florierenden Handel mit Windeln und Babybedarf besaß. Amazon bot nun über Monate hinweg Windeln zu Preisen an, die weit unter den Selbstkosten lagen. Allein hierfür war Bezos bereit, innerhalb von drei Monaten etwa 100 Millionen Dollar Verlust zu machen. Quidsi konnte da nicht mithalten und die Besitzer sahen sich gezwungen, ihre Firma an Amazon zu verkaufen. Anfänglich hatten sie den Handelsriesen Walmart als Partner in Betracht gezogen, doch aus dem Umfeld von Jeff Bezos kam der Hinweis, Amazon werde seine Windeln notfalls verschenken, bis Quidsi vor Bezos kapituliere.

Nicht ganz zufällig wurde der neue Dienst Amazon Mom (heute Amazon Family) am gleichen Tag lanciert, an dem der Kaufvertrag von Quidsi unterschrieben wurde. Mit diesem Programm erhalten Familien Rabatte auf Windeln, Babynahrung und andere exklusive Angebote sowie personalisierte Produktempfehlungen von Amazon.

Als Amazon höhere Provisionen auf Buchverkäufe seiner Händler verdienen wollte, wandte man die „Gazellen Strategie“ an (so die interne Bezeichnung), um die geforderten vier Prozent mehr Marge zu erhalten: Ein Gepard sucht sich nämlich immer die schwächste Gazelle als Opfer aus. Also setzten Bezos’ Manager erst die kleinen Anbieter unter Druck und arbeiteten sich dann langsam zu den Großen vor. Der Psychokrieg zeigte Wirkung, sodass schließlich auch einflussreiche Verlagshäuser ohne nennenswerte Gegenwehr einknickten. Als eine der schwachen „Gazellen“ es trotzdem wagte, sich der Margenerhöhung zu widersetzen, verschwand auf Amazon von einem Tag auf den anderen der „In den Warenkorb“-Button bei allen Buchtiteln des betreffenden Verlages – niemand konnte also noch einen Kauf abschließen – und zwar so lange, bis der Verlag nachgab.

In den USA kontrolliert Amazon mittlerweile über die Hälfte des gesamten Onlinehandels, was mit einem beträchtlichen Händlersterben einhergeht. So warfen in den letzten zehn Jahren allein in den Vereinigten Staaten ungefähr 85'000 Einzelhändler und etwa 35'000 kleine bis mittelgroße Hersteller das Handtuch. Amazon trägt daran nicht die Alleinschuld, ist aber Hauptursache. Fakt ist auch: Für jeden Arbeitsplatz, den Amazon schafft, verschwinden woanders zwei. Amerika ist auch auf diesem Gebiet das Land der unbegrenzten Möglichkeiten: 2014 hatte Amazon allein in den Bundesstaaten Illinois und Missouri Waren im Wert von zwei respektive einer Milliarde Dollar verkauft – ohne dort einen einzigen Angestellten zu haben! In der Folge war der Umsatz des lokalen Einzelhandels auf ein Viertel geschrumpft. Überall auf der Welt verursacht Amazon auf diese Weise steigende Arbeitslosenzahlen und massive Einbrüche bei den staatlichen Steuereinnahmen.