Cradle to Cradle: Die Zukunft neu denken

Wann verliert die Erde endgültig ihr Gleichgewicht? Wenn wir das nicht am eigenen Leib erfahren wollen, müssen wir lernen, in Kreisläufen zu denken und zu handeln. Albin Kälin, ein unermüdlicher Pionier der Kreislaufwirtschaft, erklärt, wie dies mit „Cradle to Cradle“ gelingen kann.

In der Schweiz fallen jedes Jahr pro Person 716 Kilogramm Abfall an. Das hat mit unserem hohen Lebensstandard zu tun, und obwohl die Schweiz im Abfallproduzieren zu den Spitzenreitern gehört, sieht es in vielen anderen, vor allem westlichen Ländern nicht viel anders aus. Mit Recycling versuchen wir, das Problem in den Griff zu bekommen. Dabei werden Wertstoffe zwar teilweise wiederverwendet, doch eben weder vollständig noch in gleichbleibender Qualität. Es bleibt immer ein Rest-Abfall, der auf Mülldeponien wandert oder verbrannt wird, womit die Ressourcen unwiederbringlich zerstört werden.

Die Planetenuhr tickt. Doch es ist nicht zu spät, neue Lösungen zu finden.

Die Planetenuhr tickt. Doch es ist nicht zu spät, neue Lösungen zu finden.

Doch Rohstoffe sind nicht unendlich. Schon heute können bestimmte seltene Metalle, die man beispielsweise für Elektrogeräte benötigt, nicht mehr in genügender Menge abgebaut werden. So gefährden wir selber laufend unsere Zukunft und vor allem die der kommenden Generationen. Die Ausfahrt aus der Einbahnstraße geht nur über einen Paradigmenwechsel. Anstatt unsere Produkte nach dem linearen und meist mit Schuldgefühlen behafteten Denkansatz "Reduzieren, Minimieren, Verhindern" zu gestalten, müssen wir die richtigen Dinge richtig tun und für die Gesellschaft und die Umwelt eine positive Wirkung erzeugen. Dies darf durchaus luxuriös, lustvoll und verschwenderisch sein, ganz nach dem Vorbild der Natur. Beim Design- und Produktionsansatz des Cradle to Cradle – das bedeutet: von der Wiege zur Wiege – können Ressourcen innerhalb eines Kreislaufs immer wieder neu verwendet werden, ohne Abfall (denn jedes Material ist immer wieder Nähr- oder neuer Ausgangsstoff für neue Materialien), ohne Qualitätsverlust, ohne „mea culpa“.

Cradle to Cradle ist nicht neu. Das Konzept wurde vor rund drei Jahrzehnten vom amerikanischen Architekten William McDonough und dem deutschen Chemiker Professor Michael Braungart entwickelt. Einer, der fast von Anfang an mit dabei war und seither in seinen Anstrengungen, den Menschen das Denken in Kreisläufen beizubringen, nie nachgelassen hat, ist der ausgebildete Textilkaufmann und Gründer und Geschäftsführer der EPEA Switzerland GmbH Albin Kälin. Er entwickelte 1992 das erste Cradle to Cradle-Produkt Climatex, einen kompostierbaren Sitzstoffbezug. Die ZeitenSchrift hatte erstmals vor sechs Jahren über Cradle to Cradle berichtet;1 nun wollten wir von Albin Kälin wissen, welche Veränderungen inzwischen auf diesem wichtigen Gebiet stattgefunden haben.

Albin Kälin: Wir haben jetzt 25 Jahre lang gearbeitet. Zuerst mussten wir die Grundlagen schaffen, denn wir verfügten nicht über die entsprechende Chemie, um Cradle to Cradle-fähige Produkte herzustellen. Doch in den letzten Jahren hat sich extrem viel getan. Einerseits wurden jetzt die politischen Rahmenbedingungen in der EU geschaffen2 und nun sind alle Mitgliedstaaten gefordert, diese umzusetzen. Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) respektive Cradle to Cradle wird somit zum Standard! Zweitens konnten wir in den letzten drei Jahren große Problemstellungen bezüglich der Chemie lösen, beispielsweise für das Färben von Zellulose. Die bisherige Methode konnte nur gerade von einem Bruchteil der Textilindustrie umgesetzt werden. Doch nun haben wir eine Möglichkeit gefunden, die für die gesamte Textilindustrie funktioniert. Ein weiteres Beispiel sind Verpackungen. Hier ist die Problematik, dass die Druckfarben auf die Lebensmittel übergehen. Nach zwanzig Jahren haben wir jetzt diese Nuss endlich geknackt. Und das Dritte ist das Thema Kunststoff, Stichwort „Plastikflaschen im Meer“ oder „Mikrofasern“. Auch da haben wir eine konkrete Lösung gefunden. Wir sagen also nicht mehr bloß: „So sollte es sein“, sondern: „So können wir es tun.“ Wir haben heute in allen Bereichen Pilotprojekte, quasi „Leuchtturm-Projekte“, wo Firmen zeigen, wie man Cradle to Cradle erfolgreich umsetzt. Das ist ein großer Fortschritt.

Mein Lieblingsprojekt ist übrigens Wolford (Damenunterwäsche). Dort galt es, biologisch abbaubare Elastomer-Fäden, also biologisch abbaubaren Stretch, zu entwickeln. Doch vor allem ist es uns gelungen, dass nicht nur die Farbstoffe, Materialien usw. wirklich ökologisch einwandfrei sind, sondern wir konnten gleichzeitig den Look, die Haptik, die Ästhetik beibehalten, sodass es ein Luxusprodukt bleibt. Das ist deshalb so wichtig, weil die Menschen, die sich für das Thema interessieren, vor allem aus der Mittelschicht stammen. Diese Gesellschaftsschicht ist sehr kritisch, was auch mit der Bildung und dem Bewusstsein zu tun hat. Es ist großartig, ein luxuriöses Produkt realisieren zu können, das den Menschen Freude bereitet und ihnen ermöglicht, sich mit etwas Schönem zu umgeben. Weitere Beispiele sind hier auch der Möbelhersteller USM aus der Schweiz oder die Firma Jab Anstoetz, die weltweit Inneneinrichtungsstoffe vertreibt.

Sie haben nun einige Produkte und Firmen genannt, doch wie funktioniert das überhaupt, wenn ein Unternehmen eine Cradle to Cradle-Zertifizierung wünscht?

Wir verkaufen keine Zertifizierungen, unser Ansatz ist ein anderer. Wir wollen Firmen finden, die in der Regel inhabergeführt sind, die ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und den kommenden Generationen übernehmen wollen. Diese sprechen wir an und versuchen, die Produkte über ein Projekt zu optimieren. Wenn der Prototyp dann vorhanden ist, ist die Entscheidung für oder wider die Zertifizierung eine kaufmännische oder marketingtechnische. Wir können diese anbieten, wir sind auch akkreditierte Gutachter für die Cradle to Cradle Certified™-Zertifizierung. Mit EPEA Switzerland sind wir weltweit und in allen Branchen tätig. Doch suchen wir meistens Personen – es geht um Individuen –, die auch dafür empfänglich sind, die Risiken einzugehen. Denn man muss klar von Risiken sprechen, weil es ein Innovationsprozess ist und das Ergebnis am Anfang nicht klar feststeht.

Natürlich bemerken wir nach wie vor bei vielen Industrien einen extremen Widerstand. Wir sehen viele Ablenkungen durch Großkonzerne, die mit Begriffen wie Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft um sich werfen. Sie haben eine Plastikstrategie, die völlig daneben ist, und wecken mit der Verwendung von Terminologien wie „biobasiert“ falsche Vorstellungen beim Konsumenten; hier spreche ich von Danone, Nestlé, LEGO und IKEA. Sie ändern die Chemie nicht, stattdessen nehmen sie Rohstoffe aus der Natur. Wir werden deshalb Lebensmittelpreiserhöhungen haben, soziale Unruhen und möglicherweise sogar Schlimmeres. Das Thema „Flaschen im Meer“ ist dennoch nicht gelöst, weil der Plastik nicht biologisch abbaubar ist und die Chemikalien im Plastik meist toxisch sind. Doch auf diese Weise verhindert man die Innovation.

Quellenangaben

  • 1 siehe Artikel Cradle to Cradle: Hoffnung für einen überlasteten Planeten
  • 2 Die Europäische Kommission hat bereits am 2. Dezember 2015 und das Europäische Parlament am 14. März 2017 ein ehrgeiziges Paket zur Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) verabschiedet. Dabei sollen eine leistungsfähigere, stärker kreislauforientierte Wirtschaft gefördert und Ressourcen nachhaltiger genutzt werden.