Digitale Bildung: Lost in Space

Die neue Heilsbringerin heißt „digitale Bildung“. Sie soll Schülern das Lernen erleichtern und sie intelligenter machen, doch das Gegenteil ist der Fall. Wird sie trotzdem so massiv gefördert, weil die Computerisierung von uns Menschen ein wichtiger Schritt hin zur Weltdiktatur ist?

Wir marschieren mit Riesenschritten auf ein technotronisches Zeitalter zu. Eine Ära, welche die Menschen mit Maschinen und Computern dominiert. Eine Ära, die den Cyborg, das Mischwesen aus Roboter und lebendigem Organismus, als „optimierten“ Menschen preist – übrigens eine Vorstellung, die immer mehr Hollywood-Filme mit Absicht in unser Unterbewusstsein pflanzen. Denn es fragt sich, wer dereinst eine voll digitalisierte Welt kontrollieren wird.

Von der Realität entfremdet: Die digitale Bildung greift vergeblich nach den Sternen (Illustration: Kind bewegt sich im virtuellen Raumanzug durchs Sonnensystem).

Von der Realität entfremdet: Die digitale Bildung greift vergeblich nach den Sternen (Illustration: Kind bewegt sich im virtuellen Raumanzug durchs Sonnensystem).

Alles beginnt so harmlos. Zum Beispiel mit der Schulbildung 2.0. Verantwortungsvolle Politiker und besorgte Eltern möchten die Kinder bestmöglich auf eine schwierige Zukunft und Arbeitswelt vorbereiten, die nicht nur alle Dinge miteinander vernetzt, sondern eben auch die Menschen in das weltweite Internet einbaut. In vielen Ländern strebt man mit dem Schlagwort „digitale Bildung“ Schulreformen an, die das Lernen einfacher, individueller und effektiver machen sollen – also intelligentere und selbstständigere Menschen hervorbringen wird. Schon früh sollen die Kinder den Umgang mit elektronischen Medien wie Computer und Tablets lernen, während die Lehrer – sofern sie überhaupt noch für den Unterricht gebraucht werden – vor interaktiven digitalen Wandtafeln stehen. So werden die Kids der Generation iGen, die sich ohne iPhone und Smartphones eh schon gehirnamputiert fühlen würden, bestens auf den harten Berufsalltag vorbereitet.

Das behaupten zumindest Internet- und Softwaregiganten wie Google, Apple, Microsoft oder SAP, fleißig unterstützt von den Telekommunikationsriesen dieser Welt. Es herrscht Goldgräberstimmung. In den Schulstuben entsteht ein neuer Markt, der Milliardenumsätze in schier unvorstellbarer Höhe verspricht. Doch was ist von den Versprechen der Industrie zu halten? Nur weil sie von den Massenmedien und vielen Bildungspolitikern nachgeplappert werden, sollten wir sie nicht für bare Münze nehmen. Bevor die Bildungsverantwortlichen in den Gemeinden viel Geld ausgeben, um die örtlichen Schulen mit WLAN und Tablets auszustatten, lohnt sich ein Blick in andere Länder. So würde man nämlich erkennen, dass die digitale Bildung nicht als Fortschritt betrachtet werden muss, sondern als ein Rückschritt, der zudem ernste Gefahren für die Gesundheit der Kinder mit sich bringt.

Bildung oder Verblendung?

Computer sind schlechte Lehrer: Australien gab 2012 etwa zweieinhalb Milliarden Dollar aus, um die Schulen mit Laptops auszustatten. So wollte man dem schlechten PISA-Ranking entgegenwirken, das den Bildungsstand einer Nation im Vergleich zu anderen Ländern festhält. Seit 2016 werden die Geräte wieder aus dem Unterricht entfernt: Die Schüler haben auf den Notebooks alles gemacht, nur nicht gelernt. Ähnliche Erfahrungen machte man auch in Südkorea, Thailand, der Türkei und in den USA. Auch dort findet eine Rückkehr zu traditionellen Unterrichtsmaterialien statt.

2015 veröffentlichte die OECD1 einen Bericht, wonach Kinder, die in der Schule sehr häufig einen Computer verwenden, sehr viel schlechtere Lernergebnisse aufweisen. Dementsprechend zeigen Länder mit stark digitalisiertem Unterricht keinerlei Verbesserungen in Lesen, Mathematik oder Wissenschaft.2

Sprechen und Lesen fällt schwer: Je mehr Kinder digitale Medien nutzen, desto stärker werden sie in ihrer Sprachentwicklung gehemmt. Zu diesem Schluss kommt eine 2016 auf dem US-Kinderärztekongress vorgestellte Studie.3 Der Grund: Digitale Medien vermitteln weder Tonfall noch Mimik oder Emotionen des Gegenübers. So führt die virtuelle Kommunikation über Facebook und WhatsApp nicht nur zu einem zurückgebliebenen Sprachvermögen, sondern auch zu einer verminderten Lesefähigkeit. Ein Trend, den man seit 25 Jahren feststellt und der sich laufend verschärft. Damals wurden übrigens in vielen Ländern die ersten flächendeckenden digitalen Mobilfunknetze eingeführt. Heute halten die meisten Kinder in der Freizeit kaum je ein Buch in Händen, weil sie viel zu beschäftigt mit ihrem Smartphone sind. Deshalb können sie immer schlechter lesen. Und das behindert die schulische Leistung in fast allen Fächern, weil das Erlernen und Verstehen des Unterrichtstoffs schwerer fällt.

Kinder entfremden sich von der Natur – und vom Leben selbst: Was ein Erwachsener am Tag arbeitet, sitzen Kinder vor elektronischen Medien. Schon vor drei Jahren verbrachten Kinder und Jugendliche zwischen acht und achtzehn Jahren durchschnittlich siebeneinhalb Stunden täglich damit, auf ein Display zu starren. Dies das Resultat einer britischen Umfrage. Laut dem deutschen „Jugendreport Natur 2016“ entdecken Kinder die Natur nicht mehr spielerisch draußen, sondern „lernen sie sich an“, während sie in der Schulstube oder in der Wohnung sitzen. „Es ist nicht dieses Ergebnis der Studie, was nachdenklich macht“, schrieb die Stuttgarter Zeitung im September 2016, „sondern das rasante Tempo, mit dem die Entfremdung von der Natur fortschreitet.“

Wenn Kinder nicht mehr auf Bäume klettern und im Dreck wühlen, miteinander Fangen spielen oder Knetfiguren formen, können sie ihre sensorischen Fähigkeiten nicht voll entfalten. Das reale Leben versorgt das wachsende Gehirn mit Impulsen, die für seine Entwicklung unerlässlich sind. Fehlen die vielfältigen Bewegungen und Eindrücke, werden Gehirnstrukturen nicht oder falsch aufgebaut. Das Denken, Lernen, Handeln und Planen bleibt zeitlebens geschwächt.

Gerade Kleinkinder lernen durch Nachahmung. Sitzen Eltern ständig vor dem Computer oder daddeln auf ihrem Smartphone herum, anstatt sich mit ihrem Kind zu beschäftigen, beeinträchtigt das nicht nur die seelische Entwicklung ihres kleinen Lieblings, sondern eben auch dessen Gehirn, weil sich viel zu wenig Synapsen bilden können. Ob ein Kind die aus vielen Tausend Pixeln zusammengesetzte „Katze“ auf dem Tablet betrachtet oder das flauschig-warme Tier im Arm hält und sein beruhigendes Schnurren hört und im Bauch spürt, ist fürwahr nicht dasselbe! Wer also meint, Kleinkinder könnten das Leben lernen und erfahren, indem sie vor Bildschirmen mit kindergerechten (Lern-)Inhalten „parkiert“ werden, irrt dramatisch.

Quellenangaben

  • 1 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
    Entwicklung umfasst 35 Mitgliedsstaaten.
  • 2 OECD-Bericht 2015: „Students, Computers and Learning:
    Making the Connection“
  • 3 www.aappublications.org