Im Gegensatz zu uns Westlern erziehen indigene Völker ihre Kinder mit einer verblüffenden Leichtigkeit zu hilfsbereiten und ausgeglichenen Erwachsenen. Höchste Zeit also, sich auf eine kulturelle Weltreise zu begeben!
Stellen Sie sich vor, Sie liegen mitten in der Nacht wach und fürchten sich vor dem nächsten Tag. Aber nicht etwa wegen der geopolitischen Lage oder einer schwierigen Situation auf der Arbeit. Nein, Ihr dreijähriges Kind oder besser gesagt dessen unmögliches Verhalten ist die Ursache für Ihre Schlaflosigkeit. So erging es der amerikanischen Bestsellerautorin Michaeleen Doucleff mit ihrer Tochter Rosy. In dem kleinen Mädchen loderte ein unkontrolliertes Feuer, das sie antrieb und sie mit wilder Entschlossenheit durch die Welt marschieren ließ. Oder wie es eine Freundin einmal beschrieb: Rosy zerstörte Welten. Obwohl Doucleff viele westliche Erziehungsmethoden ausprobiert und etliche Elternratgeber gewälzt hatte, realisierte sie, dass sie mit ihrem Erziehungslatein am sprichwörtlichen Ende angelangt war. Es musste sich grundlegend etwas ändern.
Doucleff kam als Reporterin mit Menschen auf der ganzen Welt zusammen. Und so auch mit unzähligen Eltern, deren fremde Erziehungskultur sie immer stärker faszinierte. Denn ganz im Gegensatz zu ihr schienen diese Eltern mit sich und ihren Kindern glücklich und zufrieden zu sein. Die Kinder hingegen beeindruckten sie aufgrund ihrer hilfsbereiten und ausgeglichenen Art, die so ganz anders war als das aufbrausende Temperament ihrer Tochter.
War die Lösung für all ihre Erziehungsprobleme vielleicht bei den indigenen Völkern zu finden? Kurz entschlossen begab sich Michaeleen mit Rosy auf eine Studienreise durch die Welt, die die Beziehung zu ihrer Tochter heilte. Und von der wir Eltern viel lernen können.
Die erste Station ihrer Expedition führte Michaeleen und Rosy nach Mexiko in ein Maya-Dorf. Denn Maya-Kinder sind besonders tüchtig, eigenständig und hilfsbereit. Sie helfen beim Kochen, waschen ab, räumen auf, erledigen Gartenarbeit und kümmern sich um ihre Geschwister. Und das alles freiwillig und ohne dass jemand sie darum gebeten oder gar mit Belohnungen gelockt hätte. Dieses Verhalten ist so bemerkenswert, dass Anthropologen schon seit mehr als vierzig Jahren die örtlichen Familienstrukturen beobachten. Die Studien lassen sodann auch staunen: Bereits Kleinkinder helfen freiwillig und freudig im Haushalt mit. Und je älter die Kinder werden, desto komplexer und anspruchsvoller werden die übernommenen Tätigkeiten. Doch was noch mehr erstaunt: Drei Viertel der befragten Mütter geben an, dass es die Kinder sind, die normalerweise die Initiative ergreifen. Das Kind sieht, was im Haushalt erledigt werden muss, und kümmert sich darum – ganz ohne Anweisung der Mutter. Natürlich wünschen sich alle Eltern hilfsbereite Kinder. Doch das „Wunder der Maya“ geht viel tiefer, denn sie erziehen ihre Kinder nicht einfach nur ganz natürlich zum Mithelfen. Vielmehr bringen die Eltern ihren Kindern bei, auf ihre Umgebung zu achten und zu erkennen, wenn etwas benötigt wird oder erledigt werden muss – und es dann auch zu tun. Diese Erziehung zur Hilfsbereitschaft dauert Jahre und muss langsam umgesetzt werden.
Mit der Hilfsbereitschaft verhält es sich ein bisschen wie mit dem Lesen. Man kann einem Vierjährigen nicht einfach das Alphabet ausdrucken, einmal vorlesen und an den Kühlschrank hängen. Und dann von ihm erwarten, dass er nun selbstständig lesen lernt. Genauso wenig wird ein Haushaltsplan in der Küche ein Kind Hilfsbereitschaft lehren. Solch ein Plan könnte sogar eher kontraproduktiv sein, denn das eigentliche Ziel ist es ja, das Kind darin zu schulen, auf seine Umgebung zu achten und selbstständig zu agieren, anstatt auf Anweisung zu handeln.
Egal in welche Familie auf der Welt man schaut, überall fällt etwas auf: Alle Kinder haben den starken Drang zu helfen. Doch im Unterschied zu vielen westlichen Familien fördern indigene Familien genau diese Veranlagung und lassen sie nicht verkümmern. Und darin liegt auch das Geheimnis ihres Erfolgs. Denn die Maya-Mütter nehmen sich Zeit für ihre Kinder und lassen den Nachwuchs bewusst im Haushalt mithelfen – auch wenn eine Arbeit dadurch länger geht oder mehr Chaos entsteht. Wie oft passiert es gestressten (europäischen) Eltern, dass sie den Haushalt lieber selber machen – weil ihnen schlicht die Zeit (und Geduld) fehlt, wenn der Junior auch noch beim Abwasch oder Kochen mithelfen will? Oder setzen Kinder gar vor den Fernseher, damit sie aus dem Weg sind. Das Fatale dabei: Kinder bekommen dadurch vermittelt, eben nicht auf ihre Umgebung zu achten und nicht mitzuhelfen. Wir bringen dem Nachwuchs damit bei, dass es nicht seine Aufgabe ist, und ersticken so den natürlichen Drang zu helfen im Keim. Das Kind lernt, dass Helfen nicht in seiner Verantwortung oder Möglichkeit liegt. Die indigenen Eltern Mexikos hingegen nehmen die Hilfe ihrer Kinder gerne an, sie bitten sogar darum. Auch wenn das Kind vielleicht aufgrund seiner motorischen Fähigkeiten noch nicht so sanft vorgeht. Das Chaos, das beim Helfen entsteht, sehen die Maya als Investition. Der inkompetente Vierjährige, der den Abwasch liebt, wird sich mit der Zeit zu dem kompetenten Neunjährigen entwickeln, der gerne hilft und das dann auch kann.
Natürlich nehmen auch die Maya nicht ausnahmslos jedes Hilfsangebot an. Ist eine Aufgabe noch zu schwer oder gefährlich, teilt der Elternteil das Angebot einfach in machbare Unteraufgaben auf. Wenn ein Kind beginnt, Ressourcen zu verschwenden oder Blödsinn zu treiben, dann leiten die Eltern es an, sorgfältiger zu sein, oder entziehen ihm die Aufgabe ganz. Völlig ohne elterliche Führung geht es dann doch nicht.
Der erste und wichtigste Schritt für hilfsbereite Kinder lautet: Lassen Sie Ihren Nachwuchs machen. Lassen Sie Ihre Tochter im Spülbecken abwaschen (und die halbe Küche fluten) und den Sohn mit dem Staubsauger durch die Wohnung ziehen und dabei den Teppich verschieben. Denn was anfänglich noch im Chaos enden mag, wird mit jedem Altersjahr geordneter vonstattengehen. Eltern obliegt die wichtige Aufgabe, den angeborenen Helferdrang ihrer Kinder so zu lenken, dass diese ihre Hilfsbereitschaft am besten ausleben können. Wir westlichen Eltern machen oft einen großen Denkfehler, indem wir überzeugt sind, dass unser Nachwuchs noch zu klein ist, um helfen zu können. Deshalb bitten wir ihn gar nicht erst darum oder lehnen entsprechende Angebote ab. Doch wie lautet das Motto eines großen Baumarktes: Es gibt immer was zu tun!
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