Was Kindern in Kitas wirklich passiert

In Kindertagesstätten sollen kleine Kinder Geborgenheit und Bildung erhalten und im Miteinander soziale Kompetenz entwickeln. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt: Die Wirklichkeit sieht oft ganz anders aus. Die Pädagogin Dr. Anke Elisabeth Ballmann bricht das Schweigen rund um den oft erschreckenden Alltag in Erziehungseinrichtungen und fordert neue Wege in Bildungspolitik und Erziehungswesen.

Ein Nachmittag in der Kinderkrippe Bärenhorst. Die einjährige Lena sitzt auf dem Boden und spielt. Plötzlich schlägt sie einem anderen Kind ein Spielzeug an den Kopf. Die Erzieherin sieht es und kommt drohend auf Lena zu. Sie schreit sie an: „Du gehst mir ja so was von auf die Nerven, du kleines Miststück.“ Sie packt Lena am Arm und zieht sie aus dem Gruppenraum auf den Flur. Dort befiehlt sie ihr im harschen Ton, dass sie jetzt fünf Minuten alleine auf der Bank sitzen und darüber nachdenken soll, was sie gerade getan hat.

Bei Überforderung wird gern zur Isolation des Störenfrieds gegriffen.

Bei Überforderung wird gern zur Isolation des Störenfrieds gegriffen.

Lena ist ein Jahr alt. Hat sie verstanden, was sie falsch gemacht hat? Kann sie sich in diesem Alter bereits in andere Menschen hineinversetzen und wissen, dass sie einem anderen Kind wehgetan hat? Weiß sie denn überhaupt, was fünf Minuten sind? Wohl kaum. Lena sitzt jetzt alleine im Flur und weint. Niemand ist für sie da. Was löst das in ihr aus? „Für eine Einjährige ist dieses Erlebnis eine emotionale Katastrophe, die mit hoher Wahrscheinlichkeit unerwünschte spätere Folgen haben wird. Das weiß ich deswegen so genau, weil nach meiner Erfahrung diese sogenannte Pädagogin Lena nicht das letzte Mal ‚Miststück‘ genannt hat. An diesem Tag hat vielmehr ein fatales Muster seinen Anfang genommen.“

Schauplatzwechsel: In einer anderen Kita stapft die eineinhalbjährige Magdalena – auf leicht wackeligen Beinchen – vor einem Krippenkinderwagen umher und lächelt selig vor sich hin. Sie ist ganz auf sich selbst konzentriert und vollkommen im gegenwärtigen Moment, wie Kinder das so wunderbar können. „Wenn du nicht zur Seite gehst, fahre ich dich um!“, zischt plötzlich eine ungeduldige Stimme. Magdalena schaut auf, versteht nicht, was los ist, lächelt aber trotzdem freundlich in die Richtung der Stimme. Im nächsten Moment liegt das Kleinkind auf dem Boden. Ihre Erzieherin ist tatsächlich frontal mit einem Kinderwagen in sie hineingefahren. Einfach deshalb, weil das Mädchen sich nicht rasch genug wegbewegt hat. „Siehst du, das hast du nun davon“, zetert die Erzieherin, packt Magdalena und setzt sie voller Wucht in den Kinderwagen zu den fünf anderen Kindern, die das Spektakel mit großen Augen beobachtet haben. Leider nicht nur an diesem Tag herrscht in dieser Kita eine Pädagogik, die mit Einschüchterungen und Demütigungen arbeitet. Hier ist das ganz normal und gehört quasi zum Alltag.

All das erzählt Dr. Anke Elisabeth Ballmann in ihrem Buch „Seelenprügel“. Die promovierte Pädagogin und Psychologin setzt sich seit über 25 Jahren für kindgerechtes Lernen und gewaltfreie Pädagogik ein. Sie führt in ihrem Institut Lernmeer Fort- und Weiterbildungen für Erzieherinnen durch und berät Kita-Lehrkräfte. Sie hat zehn Jahre lang direkt mit Kindern und in Kitas gearbeitet, besuchte in dieser Zeit mehrere Hundert Kindertagesstätten. Und hat so erlebt, wie es hinter den Kulissen vieler Einrichtungen aussieht und was dort alles geschieht. Dabei saß sie oft mehrere Stunden still in einer Ecke und hörte übelste Beschimpfungen durch das angestammte Personal an den Kindern mit an.

Dr. Ballmann berichtet in ihrem Buch über Vorfälle, wie sie tagein, tagaus und landauf, landab in Kitas passieren. Denn seelische Gewalttaten oder Seelenprügel, wie Ballmann das nennt, sind nicht nur – wie es bei körperlicher Gewalt meist der Fall ist – im häuslichen Umfeld zu finden. Diese Gewalt sei vielmehr institutionalisiert und finde in zahlreichen Kinderkrippen und Kindergärten statt. Wissenschaftlich wird psychische Gewalt so definiert, dass ein Mensch immer wieder aufs Neue verbal und nonverbal abgewertet und vernachlässigt wird, keine Anerkennung bekommt und ihm von seinem Umfeld eine liebevolle, zugewandte Beziehung verwehrt bleibt. Das große Dilemma dabei: Psychische Gewalt ist auf den ersten und zweiten Blick kaum nachweisbar. Sie ist unsichtbar und daher nicht greifbar.

Ballmann berichtet, dass der in viel zu vielen Institutionen übliche Kommunikationsstil in Varianten so klingt: „Wie kann man nur so dumm sein?“, „Aus dir wird nie etwas!“, „Du lernst das nie!“, „So geht das mit dir nicht weiter!“, „Wenn du nicht sofort …, dann …!“, „Ich zähle jetzt bis drei …!“. Verbale und nonverbale Kränkungen, Drohungen, Vorwürfe, Beleidigungen, Kritik, Beschämung und Isolation sei für diese Kinder ein Teil ihrer Welt. „Doch nach außen ist alles gut – weil nicht sein kann, was nicht sein darf“, schreibt die Pädagogin.

Verbale Gewalt in Erziehungseinrichtungen und – so traurig es ist – auch Elternhäusern wird im Moment wie ein unterschwellig vor sich hin glühendes Tabu betrachtet. Ballmann berichtet, dass es zum Beispiel immer noch Personal in Kitas gibt, das Kindern bewusst Angst macht, weil es sie tatsächlich das Fürchten lehren will. Diese „Fachkräfte“ drohen damit, dass der Nikolaus ungezogene Kinder in den Sack steckt und mitnimmt, dass sie in den Keller zu den Spinnen müssen, dass die Mama traurig und krank wird, wenn sie nicht brav sind und das Muttertagsherz nicht in der von der Erzieherin festgelegten Farbe anmalen, und dass niemand „jemanden“, der sich so böse verhält, liebhaben kann. Drohungen, die ein Leben lang zu einem schlechten Gewissen führen können, weil permanent Schuld in die Seele eines so jungen Menschen getrieben wird.

In diesem Zusammenhang gibt es einige Untersuchungen, die bekanntesten sind die Wiener Krippenstudie, die NICHD-Studie und die NUBBEK-Studie, deren erschreckende Ergebnisse aufzeigen, dass die meisten Krippen in pädagogischer Hinsicht als schlecht bis mangelhaft einzustufen sind. Tatsächlich ist es nicht wirklich neu, dass in Kitas immer wieder Varianten von Gewalt gegen Kinder vorkommen. Sogar die Massenmedien berichten ab und zu darüber. Im Jahr 2017 brachte etwa die ARD eine vielbeachtete Reportage mit dem Titel Blackbox Kita – was passiert mit den Kindern? Einige Tage lang herrschte beim lesenden und fernsehenden Publikum allgemeine Empörung, danach ging man wieder zur Tagesordnung über. „Wir tun nichts oder nicht genug“, stellt Anke Ballmann betroffen fest.

Problematisch wird es, wenn die Bedrohung durch die Bindungsperson zu einer Dauersituation wird und wenn Kinder über längere Zeit oder immer wieder tief beängstigenden Situationen ausgesetzt sind. Auch hier belegen Studien, dass solche Handlungen sichtbare Spuren hinterlassen – und zwar in bestimmten Regionen des Gehirns, die im Fall von fortgesetzter psychischer Gewalt Veränderungen aufzeigen. Je mehr Gewalt ein Kind erfahren hat, desto weniger arbeiten jene Regionen im Gehirn, die für Lernen und die Regulation von Emotionen zuständig sind, und desto größer ist der Bereich, in dem die Angst regiert.

Im Jahr 2010 machte die Amerikanerin Naomi Eisenberger mit ihrem Forschungsteam an der University of California diesbezüglich eine interessante Entdeckung. In einem Versuch grenzte man Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg sozial aus. Dabei wurde mit einem bildgebenden Verfahren in ihre Gehirne geschaut. Die Forscher stellten hierbei fest, dass genau jener Bereich im Gehirn, der bei körperlichem Schmerz aktiv wird – der vordere singuläre Cortex –, auch bei seelischem Schmerz aktiv ist. Je stärker das durch die Probanden erlebte Gefühl der Zurückweisung war, desto aktiver zeigte sich dieser Teil des Gehirns.

Es ist bekannt, dass Kinder, die keine sicheren Bindungen in ihrem Leben haben, sich nicht gut entwickeln können – weder kognitiv noch motorisch oder sprachlich. Kinder können extreme Angstgefühle entwickeln, wenn Bezugspersonen sich ihnen gegenüber emotional gefährdend verhalten und zum Beispiel durch wiederholte Beschämungen oder Ignorieren des Kindes dessen innersten Kern schmerzlich treffen. Entwickelt sich daraus eine Bindungsstörung, ist die Fähigkeit eines Menschen, gesunde Bindungen einzugehen, extrem beeinträchtigt, und es „entstehen“ Kinder, die entweder niemandem mehr vertrauen oder wahllos jedem Menschen vertrauen, der nur annähernd freundlich zu ihnen ist. Eine gesunde und schützende Distanz ist ihnen dann fremd. Ein Beispiel aus dem Alltag von Anke Ballmann: „Eines Tages beschäftigte ich mich während eines Termins in einer mir bis dahin nicht bekannten Kita kurz mit einem kleinen Mädchen, das gleich bei meinem Eintreffen auf mich zugestürzt war und mein Bein umklammerte. Nach fünf Minuten gemeinsamen Spielens sagte sie mir, dass sie mich liebhaben würde, ob ich ihre Mama sein wolle und für immer bei ihr bleiben könne. Die wenig empathische Erzieherin, die der Szene beiwohnte, meinte mit sauertöpfischem Lächeln, ich sei wohl ein Kindermagnet. Ich hätte weinen können, denn ich erkannte die Not des Mädchens, das so vertrauensvoll an mir klebte, obwohl es mich nie zuvor gesehen hatte. Hier starrte mich höchstwahrscheinlich eine waschechte Bindungsstörung an.“

Die gute Nachricht: Es gibt neben solchen Negativbeispielen zweifellos auch zahlreiche wunderbare, einfühlsame und begnadete Erzieherinnen – viele davon kennt Ballmann persönlich. Mit ihrem Buch will sie Eltern und Erziehungsberechtigten aufzeigen, wozu einige schwarze Schafe unter den Erzieherinnen fähig sind – oft, weil sie sich gestresst und überfordert fühlen, weil sie sich in Kinder nicht hineinversetzen können, weil ihnen alles zu viel wird. Oder auch, weil sie grundsätzliche sadistische Ansätze haben und diese an Schwächeren lustvoll ausleben.