Was wir von Sterbenden lernen können

Mit dem Tod möchten wir möglichst nichts zu tun haben. Das ist schade. Denn wenn wir den Tod enttabuisieren, werden wir auch besser leben. Von unseren Mitmenschen, die den letzten Weg angetreten haben, können wir diesbezüglich eine Menge lernen, nicht nur über den Tod, sondern vor allem über das Leben.

Zu sterben ist ein Nichts. Nicht zu leben ist schrecklich!

Victor Hugo

Es gibt mehr Leben im Tod als Tod im Leben. Das vermeintliche Ende ist nur ein neuer Beginn.

Er ist der Elefant im Raum. Alle wissen genau, dass er da ist, geben sich aber die größte Mühe, ihn zu ignorieren und seine Existenz zu leugnen. Doch es hilft nichts: Irgendwann stehen wir ihm alle gegenüber, dem Tod. Denn von den schätzungsweise rund 110 Milliarden Menschen, die je auf dieser Erde gelebt haben, wissen wir eines mit hundertprozentiger Sicherheit: Jeder Einzelne von ihnen ist irgendwann gestorben. Angesichts der Tatsache, dass wir es hier mit der wohl einzigen Sache in unserem Leben zu tun haben, der wir uns ganz sicher sein können, ist es schon erstaunlich, wie sehr wir sie zu leugnen versuchen. Doch was ist der Grund für diese kollektive Realitätsflucht?

Zweifellos ist es für den Menschen schwierig, sich eine Welt vorzustellen, in der er selbst nicht vorkommt. Schon der griechische Philosoph Epikur von Samos sagte: „Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht!“ Solange wir diese Welt erleben, sind wir ja da. An einen jenseitigen „Daseinszustand“ kann sich kaum jemand erinnern, außer Menschen, die durch ein Nahtod-Erlebnis gingen. Ihre Perspektive auf die Welt, auf Leben und Tod hat sich dadurch meist grundlegend verändert.

Doch warum fürchten sich so viele Menschen vor dem Tod? Die Natur zeigt uns ständig, dass sich alles Leben in einem Kreislauf bewegt. Es ist ein Werden und Vergehen, ein Ein- und Ausatmen. Wir tendieren dazu, Geburt und Tod als Anfangs- und Endpunkte zu betrachten. In Wahrheit sind es nur zwei Punkte in einem Kontinuum des Lebendigseins, denn auch im „Tod“ sind wir nicht tot. Wir leben tatsächlich ewig, sind uns unserer selbst stets bewusst, hüben wie drüben, und alles, was sich ändert, ist unser Daseinszustand: Vom physischen Leben wechseln wir in ein ätherisches Leben über. Und es ist die weitaus kürzere Zeit in unserem ganzen Dasein, die wir in einem physischen Körper verbracht haben! Das ätherische Leben und die feinstoffliche Welt ist unsere eigentliche Heimat, und auf die Erde begeben wir uns lediglich, um zu beweisen, dass wir das, was wir „drüben“ gelernt haben, in einer physischen Welt anwenden und verwirklichen können.

Es scheint ganz so, als würde unsere Angst vor dem Tod und unser Leugnen von ihm umso stärker, je mehr Fortschritte in Wissenschaft und Medizin die Menschheit macht. Unsere heutige Maschinenmedizin hat das natürliche Sterben schwieriger gemacht, sie hat es entmenschlicht, indem sie es Maschinen übergab. Denken wir an die Corona-Zeit: Wie viele Menschen wurden im Sterben komplett allein gelassen, weil es ihren Angehörigen verboten war, sich an ihr Bett zu setzen, sie zu trösten, zu begleiten, ihre Hand zu halten, ihnen sanft übers Haar zu streichen? Wie vielen von ihnen und ihren Liebsten hat man damit wichtige Entwicklungsschritte, die gerade während des Sterbeprozesses oftmals geschehen, vorenthalten und verunmöglicht? Wie vielen von ihnen hat man damit den vielleicht letzten großen Liebesdienst verweigert, den wir einem Menschen erweisen können, nämlich ihn in Würde gehen zu lassen?

Vielleicht war Sterben früher einfacher, weil die Menschen in der Regel ihren letzten Weg in den eigenen vier Wänden antraten, im Kreis ihrer Familie. Sie konnten ihre Angelegenheiten ordnen, Abschied nehmen und die Zeit beanspruchen, die ihr Sterben eben dauerte, nun da sie ihre Lebensreise in jenem Körper, den sie gerade bewohnten, nicht mehr fortsetzen konnten. Bestenfalls hatten sie gelernt, was sie lernen sollten, gelehrt, was sie lehren konnten – denn jeder ist immer Schüler und Lehrer zugleich –, und also ihre Aufgabe für dieses Mal erfüllt. Der Tod ist wie die Geburt ein Augenblick, in dem wir loslassen und uns letztlich einer höheren Macht überlassen müssen, ob wir nun an diese glauben oder nicht. Nicht zufällig sprechen wir sowohl bei der Geburt wie beim Tod von einem „Schwellenmoment“. Wie schon erwähnt ist der Tod kein gähnender Abgrund ins Nichts, der sich vor uns auftut und uns auf Nimmerwiedersehen verschlingt. Nein, er ist einfach nur eine Schwelle, ein Übergang von einem „Aggregats- oder Seinszustand“ in einen anderen. Der Tod ist nur für den Unwissenden bedrohlich. Für den Wissenden ist er einfach ein Schritt von hier nach dort. Es lohnt sich also, sich um dieses Wissen zu bemühen!

✵ So merkwürdig dies klingen mag: Im Sterben liegt große Kraft und eine große Chance, falls ein Mensch gewillt ist, sich diesem Prozess hinzugeben. Menschen, die Angehörige beim Sterben begleitet haben, berichten oft von kleinen „Wundern“, die noch geschehen, von letzten Aufgaben, die der Sterbende noch erfüllt, etwa wenn er zerstrittene Familienmitglieder am Sterbebett in Versöhnung zusammenbringt. Auch Fachleute wie Ärzte oder Pflegepersonal berichten, dass Menschen gerade am Schluss ihres Lebens noch viele Lektionen lernen. Das ist eine sehr gute Nachricht, denn es bedeutet, dass uns sogar in unseren letzten Tagen, bis zum Schluss, immer noch Gelegenheiten geboten werden, um Dinge zu lernen, die wir dann nicht ungelöst in eine etwaige neue Verkörperung hinübernehmen müssen.

Doch wie geht denn das nun, das Sterben? Zunächst ist hier daran zu erinnern, dass keiner von uns ein Neuling in Sachen Sterben ist. Wir alle haben viel Übung darin, denn, technisch gesehen, sterben wir jede Nacht ein bisschen. Nicht grundlos wird der Schlaf der „kleine Bruder des Todes“ genannt, einfach darum, weil der Ablauf mit einem winzigen, jedoch entscheidenden Unterschied identisch ist. Wer in geistigen Dingen ein wenig bewandert ist, weiß, dass wir nicht unser Körper sind. Wir sind vielmehr ein Lichtwesen, das diesen jeweiligen Körper „bewohnt“ und für eine Weile als physisches Vehikel benutzt, um sich in dieser materiellen Welt aufhalten, lernen und wachsen zu können. Nacht für Nacht verlassen wir, während wir schlafen, unseren Körper, um in unserem feinstofflichen Lichtkörper in den himmlischen Gefilden zu dienen und zu lernen, sofern wir nicht in der geisterhaften „Astralsphäre“ hängen bleiben, was uns dann Alpträume beschert. Während wir uns vom Körper entfernt haben, kann dieser den dringend notwendigen Hausputz betreiben.1 Die einzige Verbindung zwischen unserem Lichtkörper und unserem physischen Körper ist dann ein Energiestrahl, der „Silberschnur“ genannt wird. Auf ihm kann unsere Seele wieder in den Körper zurückkehren. Im Augenblick des Todes geschieht genau dasselbe; wir verlassen einfach nur unseren physischen Körper, so, wie wir ein Kleidungsstück ablegen würden. Nur wird diesmal die Silberschnur endgültig durchtrennt. Dieses Wissen, dass am Sterben nicht alles unbekannt und ungewiss ist, sollte unsere Furcht vor dem Tod zu lindern vermögen.

Die letzten Schritte

Sehen wir uns den Sterbeprozess näher an. Wir sprechen hier nicht vom plötzlichen Tod durch einen Unfall, eine Gewalttat, einen Herzinfarkt oder das unbewusste friedliche Sterben im Schlaf.2 In den meisten Fällen geht dem Tod eine Phase des Sterbens voraus, meist von einer Krankheit verursacht. Die meisten Menschen fürchten denn auch den Sterbeprozess viel mehr als den Tod. Doch ist es genau diese Zeit, die einen sterbenden Menschen wie auch seine Familie noch auf wundersame Weise beschenken kann.

Die bekannte schweizerisch-amerikanische Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross begann – trotz zunächst heftigem Widerstand vonseiten der Ärzte und des Pflegepersonals – als Erste, mit Hunderten von todkranken und sterbenden Patienten Interviews zu führen, um von ihnen etwas über das Sterben zu lernen. Ihr verdanken wir auch das Aufkommen der Palliativmedizin. Aufgrund ihrer jahrzehntelangen Forschung definierte sie fünf Phasen des Sterbeprozesses, die von fast allen Menschen durchlaufen werden und unterschiedlich lange dauern können. Das Wissen um diese Abschnitte ist für Angehörige wichtig, da es ihnen hilft, die Sterbenden und ihre Situation besser zu verstehen.

Quellenangaben

  • 1 Mehr über die Bedeutung des Schlafes lesen Sie in ZeitenSchrift Nr. 71 im Artikel Schlaf: Die Reisen der Nacht.
  • 2 Mehr dazu können Sie zum Beispiel in ZeitenSchrift Nr. 18 erfahren. Auch andernorts haben wir schon über den Tod oder auch über Nahtoderlebnisse geschrieben. Auf unserer Webseite finden Sie mit der Stichwortsuche „Tod“ Artikel zu verschiedenen Aspekten des Themas.