Fast Fashion: Vom Konsum erdrückt

Schneller, billiger und immer mehr – für viele vor allem junge Menschen scheint Shopping eine Ersatzbefriedigung in einer sinnentleerten Welt zu sein. Skrupellose Online-Händler sorgen mittels künstlicher Intelligenz dafür, dass die Kassen ständig weiterklingeln.

Wir kaufen immer mehr Kleidung, tragen diese aber nur wenige Male oder gar nicht.

Schätzfrage: Wie viele Kleidungsstücke besitzen Sie? Fünfzig, Hundert, Zweihundert? Nehmen wir den durchschnittlichen Deutschen oder die durchschnittliche Deutsche als Richtwert, dann dürften es ungefähr 95 Teile sein. Allerdings vergammeln rund zwanzig Prozent davon in den Tiefen der Regale, denn sie werden nie angezogen. Nichtsdestotrotz kaufen wir jedes Jahr rund sechzig Kleidungsstücke neu hinzu – verteilt wären das also jede Woche mindestens ein Teil –, doch auch davon tragen wir vierzig Prozent höchstens vier Mal oder sogar nie.

Es ist etwas mehr als zehn Jahre her, als die Welt aufgeschreckt wurde durch ein Desaster, das mehr als tausend Menschen tötete und weitere fast zweieinhalbtausend verletzte. Damals stürzte in Bangladesch die Rana-Plaza-Textilfabrik ein, in der Dutzende westliche Modefirmen wie C&A, Mango, Inditex (dazu gehören beispielsweise die Marken Zara, Stradivarius, Pull & Bear und Bershka) und Benetton Kleidung herstellen ließen – unter prekären Bedingungen und Nichtbeachtung lebenswichtiger Sicherheitsvorschriften. Spätestens damals wurde deutlich, dass die glitzernde Fassade der Modewelt eine hässliche Rückseite besitzt. Die Firmen gelobten Besserung, der Eigentümer des maroden Gebäudes, der versucht hatte, sich nach der Katastrophe nach Indien abzusetzen, sitzt immer noch in Haft. Wie Amnesty International im April 2023 schrieb, hat Bangladesch seither einiges in den Arbeitsschutz investiert, aber noch längst nicht genug. Und was ist geblieben von dem Schock, der doch bei vielen Menschen dazu geführt hatte, ihre eigenen Konsumgewohnheiten zumindest in Bezug auf Kleidung zu überdenken?

Sie ahnen es schon: Die Tragödie blieb nur kurz im Gedächtnis haften. Und auch wenn es Gegentrends gibt – beispielsweise wuchs 2022 der Markt für Secondhandkleider weltweit um 28 Prozent im Vergleich zu einem Vier-Prozent-Wachstum bei neuen Textilien –, so ist die Flutwelle des Überkonsums an Kleidern schon fast ins Unermessliche angeschwollen. Tatsächlich hat sich unsere Wahrnehmung von Kleidung in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Wurden Hose, Kleid oder Jacke vorher noch als langlebiges Gebrauchsgut betrachtet, dem man Sorge trug und das, wenn nötig, auch geflickt wurde, so sind Kleider heute nicht viel mehr als ein schnelllebiges Verbrauchsgut, vergleichbar mit Nahrungsmitteln, Kosmetikprodukten oder Benzin. Dinge also, die schnell aufgebraucht und ebenso schnell ersetzt werden müssen. Zweimal im selben Kleid ins Konzert? Geht doch nicht. Den Bikini vom letzten Jahr auch diesen Sommer tragen? Wohl kaum. Auf dem Instagram-Post im selben Pullover wie letzte Woche zu sehen sein? Undenkbar!

Und diese nicht enden wollende Nachfrage muss natürlich befriedigt werden. So hat sich die Textilproduktion sei der Jahrtausendwende mehr als verdoppelt. Heute werden jährlich über achtzig Milliarden neue Kleidungsstücke produziert. Eine Umkehrung dieses Trends ist nicht in Sicht: Experten gehen davon aus, dass wir im Jahr 2050 sogar die dreifache Menge an Kleidung kaufen werden. Doch weil ein Trend den nächsten jagt, bleibt schon jetzt rund ein Viertel der neu produzierten Ware in den Läden oder im Lager liegen. Diese – brandneuen – Kleidungsstücke werden weggeworfen oder vernichtet. Zusammengerechnet jede Sekunde eine ganze LKW-Ladung voll!

Gab es früher noch zwei Saisons, zu denen die Kunden mit neuen Looks beglückt wurden, nämlich im Sommer und Winter, erwuchsen daraus irgendwann vier Saisons – eine für jede Jahreszeit. Heute aber gibt es mindestens 52 sogenannte Mikro-Saisons, was bedeutet, dass jede Woche eine neue Kollektion in die Läden kommt.

„Fast Fashion“ nennt sich dieses Phänomen, also schnelle Mode, wobei „schnelllebig“ wohl das passendere Wort wäre. Branchenführer sind H&M, Primark, UNIQLO, Forever 21 und Zara (Inditex). Doch wenn Sie glauben, dass die rund 10'000 Modelle, die beispielsweise Zara jedes Jahr neu auf den Markt bringt, viel seien, dann täuschen Sie sich ganz gewaltig.

Konsum auf Steroiden

Die Covid-Krise und die Digitalisierung, genau genommen die Durchdringung unseres Alltags mit Anwendungen von künstlicher Intelligenz, haben nämlich auch der Modewelt einen zusätzlichen neuen Trend beschert, der die bestehenden Probleme indes multipliziert. Ultra Fast Fashion produziert ebenfalls zwischen 6'000 bis 10'000 neue Kleidermodelle – pro Tag! Wie das geht? Wir stellen vor: Shein („Schi-In“ ausgesprochen), Liebling der Generation Z. Das Unternehmen wurde 2008 in Nanjing, China, gegründet und war damals noch ein kleines Brautmodengeschäft. Der Gründer, Xu Yingtian, hat von Mode eigentlich keine Ahnung, denn sein Fachgebiet ist Coding und Informationstechnologie mit speziellem Fokus auf suchmaschinenoptimiertem Marketing. Anders gesagt, Xu Yingtian weiß genau, wie man in unserem digitalisierten Zeitalter Waren an die Frau oder den Mann bringt.

Corona war für ihn eine Sternstunde, denn weil praktisch alle Geschäfte außer den Lebensmittelhändlern schließen mussten, blieb den Menschen keine andere Option, als ihre Einkäufe im Internet zu tätigen. Die steigende Beliebtheit des Videoportals TikTok war die zweite Zutat, die es brauchte, um Shein zu seinem kometenhaften Aufstieg zu verhelfen. Heute ist Shein nämlich die größte Online-Modefirma der Welt. Letztes Jahr erzielte das Unternehmen einen Umsatz von 23 Milliarden Dollar, nächstes Jahr sollen es schon mehr als 58 Milliarden sein. Allein zwischen Januar und Oktober 2023 luden 208 Millionen Menschen aus 150 Ländern die Shein-App neu auf ihr Smartphone herunter. Damit hat die chinesische Firma sogar Amazon als meistgenutzte Shopping-App abgelöst.

Shein ist eine reine Online-Firma. Abgesehen von kurzzeitig zu Werbezwecken aufgestellten Pop-up-Läden sucht man vergebens nach einem physischen Shein-Geschäft. Shein ist perfekt auf die sich ständig verändernden Konsumgewohnheiten der 15- bis 25-Jährigen (meistens Frauen) ausgerichtet. Die Kleider werden superschnell geliefert und sind spottbillig, ein Bikini ist schon ab 5 Euro zu haben, ein T-Shirt kostet 6 Euro. Und die Auswahl ist riesig. Sie benötigen ein neues T-Shirt? Wenn Sie eine Frau sind, stehen Ihnen 4'800 Modelle zur Auswahl. Rechnen Sie genügend Zeit ein für die Online-Suche …!

Shein verschwendet kein Geld für eine aufwändige Lieferkette. Zwischenebenen wie Einkäufer, Agenten oder Zwischenhändler sind ausgeschaltet. Der Kunde bestellt sozusagen direkt beim Hersteller in China. Rund 8'000 Lieferanten produzieren für Shein, die meisten sind in der südchinesischen Provinz Guangdong angesiedelt. In seine Arbeitskräfte investiert Shein aber offenbar auch nicht allzu viel. Der Lohn reicht kaum für das Nötigste, die durchschnittliche Arbeitszeit in den Fabriken beträgt 57,6 Stunden pro Woche. Oft haben die Angestellten keinen ordentlichen Arbeitsvertrag und Überstunden sind an der Tagesordnung. Wie im November 2021 die Nichtregierungsorganisation Public Eye feststellte, kann deshalb die wöchentliche Arbeitszeit bis auf 75 Stunden ansteigen. Auch Vorwürfe bezüglich der Sicherheit am Arbeitsplatz musste sich Shein gefallen lassen, etwa weil Notausgänge versperrt sind oder beim Brandschutz gespart wird.

Von der Shopping-App ausspioniert

Jede Menge Geld investiert Shein hingegen ins Marketing. Wie bei TikTok beruht das Geschäftsmodell des chinesischen Moderiesen auf dem massiven Tracking und Auswerten von Nutzerdaten. Zu diesem Zweck setzt Shein auf künstliche Intelligenz, welche das Verhaltensmuster und die modischen Vorlieben der Nutzer analysiert. Auf diese Weise kann den meist sehr jungen Konsumentinnen und Konsumenten nicht nur maßgeschneiderte Werbung zugespielt werden, sondern es lassen sich so auch mögliche Trends praktisch in Echtzeit eruieren. Shein testet solche aus, indem es beispielsweise einen neuen Pulli nur in kleiner Stückzahl anfertigt oder sogar bewirbt, noch bevor überhaupt ein einziges Kleidungsstück hergestellt wurde. Findet das Produkt bei den Konsumenten Anklang, gehen automatisch Aufträge für die Massenproduktion an die Schneidereien in China. Um Trends in den sozialen Medien aufzuspüren, verwendet Shein zudem Bilderkennungsalgorithmen, die auf Instagram gepostete Fotos von Kleidung auswertet. Außerdem kopiert Shein auf diese Weise auch schamlos die Designs von angesagten Modeschöpfern, um diese dann in Rekordzeit zum Spottpreis selber anzubieten.

Ebenfalls in der Trickkiste von Shein steckt die Zusammenarbeit mit Influencern, Bloggern und Reality-Show-Teilnehmern in den sozialen Medien. Allein in Indien bezahlte Shein 2'000 Influencer, bevor die indische Regierung die App verbot. Berühmt-berüchtigt sind die sogenannten #SHEINhaul-Videos (übersetzt: „Beutezug bei Shein“) geworden. In diesen auf TikTok und ähnlichen Kanälen gezeigten Videos kippen Influencer schachtel- und sackweise Shein-Klamotten ins Zimmer, wobei sie in den höchsten Tönen jubilieren, wie wenig Geld sie für diese supertollen Kleider bezahlt hätten.