China: Big Dragon is watching You

Durch die Digitalisierung und den schrankenlosen Einsatz künstlicher Intelligenz steigt China zur führenden Weltmacht auf. Gleichzeitig entwickelt es sich zur raffiniertesten Diktatur der Welt, in welcher der Kommunismus mit neuer Kraft sein rotes Haupt erhebt. Ein Lehrstück darüber, wie leicht die totale Überwachung inzwischen geworden ist.

Chinas Überwachungssystem „Skynet“ (Himmelsnetz) soll im öffentlichen Raum jeden Chinesen innerhalb einer Sekunde identifizieren können, behauptet die Regierung.Chinas Überwachungssystem „Skynet“ (Himmelsnetz) soll im öffentlichen Raum jeden Chinesen innerhalb einer Sekunde identifizieren können, behauptet die Regierung.

Chinas Überwachungssystem „Skynet“ (Himmelsnetz) soll im öffentlichen Raum jeden Chinesen innerhalb einer Sekunde identifizieren können, behauptet die Regierung.Chinas Überwachungssystem „Skynet“ (Himmelsnetz) soll im öffentlichen Raum jeden Chinesen innerhalb einer Sekunde identifizieren können, behauptet die Regierung.

Wenn Sie nach einem beispielhaft demokratischen Staat gefragt werden, kommt Ihnen dann spontan China in den Sinn? Wohl eher nicht. China sieht das allerdings anders. Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – dies seien „sozialistische Kernwerte“, so behauptet es die Kommunistische Partei Chinas und so ist es auf Bannern und Plakaten überall in China zu lesen. Tatsächlich betrachtet sich China in Sachen Demokratie sogar als fortschrittlicher als der Westen. „Chinas aufgeklärte Demokratie stellt den Westen in den Schatten“, schrieb die Nachrichtenagentur Xinhua im Oktober 2017. Und Xi Jinping selbst, der Staatspräsident Chinas und – noch wichtiger – Parteichef, sagt, Chinas Demokratie sei die echteste Demokratie überhaupt und zudem noch die effizienteste. In Artikel 1 der Verfassung Chinas steht: „Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes.“ Und weiter: „Die Sabotage des sozialistischen Systems ist jeder Organisation oder jedem Individuum verboten.“

Unter Sabotage kann natürlich eine Menge fallen, darunter beispielsweise die Recherche oder das Überprüfen von Fakten durch die Presse. Dies sei ein Akt der „Subversion unserer Ideologie“, heißt es dazu im „Dokument Nummer neun“, einem Strategiepapier der Partei gegen „westliche Werte“ (wie Zivilgesellschaft, Gewaltenteilung, unabhängige Justiz und Medien oder Vergangenheitsbewältigung) aus dem Jahr 2013, dem Jahr, in dem Xi Jinping an die Macht kam. Es war auch das Jahr, in dem das kurze Aufkeimen dessen, was man tatsächlich als eine Art demokratischen Dialog hätte bezeichnen können, ein abruptes Ende fand.

„Die Durchleuchtung des gesamten Volkes ist Wirklichkeit geworden. Keiner hat mehr irgendeinen Winkel, in dem er sich noch verstecken könnte. Diese Ära ist eine wunderschöne. Uns allen bleibt nur mehr, gemeinsam den einen selben Gedanken zu denken. Alles andere Denken gebt bitte auf.“

Aus einem Aufsatz von YouShanDaBu auf WeChat, der von Chinas Zensur sogleich gelöscht wurde.

Um China heute zu verstehen, muss man einen Moment zurück in die Vergangenheit blicken. Mao Zedongs blutige Kulturrevolution, die das kulturelle und geistige Erbe Chinas fast vollständig vernichtete und wahrscheinlich mehr als hundert Millionen Menschen das Leben kostete, ist gerade mal ein halbes Jahrhundert her. Viele, die damals als Jugendliche zu Maos „Roten Garden“ gehörten und oft schrecklichste Taten verübten, sind heute noch am Leben. Was damals geschah, ist bis heute nicht aufgearbeitet. In China wird Mao immer noch als der Mann verehrt, der die Feinde der Nation vernichtete. „Alle, die jünger sind als fünfzig, haben praktisch keine Ahnung von den Dingen, die unter Mao geschehen sind“, stellt der Journalist und Autor Yang Jisheng fest. Viele wissen auch nicht, was am 3. und 4. Juni 1989 auf dem Tian’anmen-Platz in Peking geschah, als das Militär die studentische Demokratiebewegung niederschlug. Auf Baidu Baike, dem chinesischen Wikipedia, existiert kein Eintrag für das Jahr 1989, zwischen 1988 und 1990 ist ... nichts. Es dauert mehrere Generationen, um ein nationales Trauma wie das, was China unter Mao erlitten hat, zu heilen, sofern man denn der Wahrheit ins Auge blickt. So aber haben die Menschen vor allem eines gelernt: zu überleben und dabei keinem zu trauen. Teile und herrsche, so geht das.

Das menschliche Herz sei das erste Opfer der ständigen Manipulation der Menschen durch die Staatsmacht, sagte der südkoreanische Ex-Diplomat und Wissenschaftler Ra Jong-yil. Wenn keiner keinem trauen kann, dann gehen Solidarität und Mitgefühl sehr schnell verloren. Und daher erstaunt es nicht, wenn der 1964 geborene Charles Zhang, Chef des Internetunternehmens Sohu erklärt: „Meine Generation hat in Wirklichkeit keine Werte und keine Prinzipien. (…) Also herrschen die Gesetze des Dschungels. (…) Statt dich an Prinzipien zu halten, fängst du an, alles nur zu benutzen.“ Und in dieser Atmosphäre also, wo sich jeder selbst der Nächste ist, war es ausgerechnet ein sogenanntes „Soziales Medium“, das eine Art soziales Gefühl hervorzurufen vermochte – „sozial“ im Wortsinn von „nicht einzeln“ respektive als „der menschlichen Gemeinschaft zugehörend“. Auf dem 2009 lancierten Twitter-Äquivalent Weibo wurde erstmals lebhaft diskutiert über Dinge wie Lebensmittelskandale, Luftverschmutzung und ja, Politik. Mit Weibo hätten die Leute begonnen, nachzudenken und sich zu vernetzen. Sie seien plötzlich nicht mehr als einsame Wesen dagestanden, die sich einer übermächtigen Organisation gegenübersehen und irgendwann kapitulieren, so beschrieb es der damals auf Weibo sehr aktive Blogger Murong Xuecun. Doch dann kam Xi Jinping und bewies, dass es eben doch möglich ist, einen Wackelpudding an die Wand zu nageln.1 Zunächst wurden die Meinungsführer auf Weibo an ihre Pflicht erinnert, die „Interessen des Staates“ zu vertreten. Dann wurde einer dieser Meinungsführer verhaftet, nur um kurze Zeit später öffentlich im Fernsehen an den Pranger gestellt zu werden, als „Gerüchteverbreiter“ und „Zuhälter“. Und schließlich erließ das Oberste Gericht ein neues Gesetz: Wer die „gesellschaftliche Ordnung stört“, indem er ein „Gerücht“ verbreitet, welches mehr als fünfhundert Mal weitergeleitet oder mehr als 5'000 Mal angeklickt wird, muss bis zu drei Jahre ins Gefängnis. All die Blogger, die in dem Riesenreich von 1,4 Milliarden Menschen mehrere Millionen Follower hatten, wurden still. Weibo verwandelte sich praktisch über Nacht vom politischen Medium zur zwar immer noch sehr erfolgreichen, jedoch seichten Unterhaltungsplattform. Und so kam es, dass 2018, als Xi Jinping mit einer Verfassungsänderung dafür sorgte, dass er lebenslang das Oberhaupt Chinas bleiben wird, der am häufigsten auf Weibo gelesene Artikel lautete „Wenn die Freundin superviel Geld hat“, knapp gefolgt von der ebenfalls sehr dringlichen Debatte um die Frage, ob man in Hochgeschwindigkeitszügen Instantnudeln essen dürfe.

Die Mauer im Kopf

Nach einer Hochrechnung von Beijing News sind rund zwei Millionen Zensoren täglich damit beschäftigt, unliebsame Nachrichten von Chinas Bürgern fernzuhalten. Jeden Tag verschickt Peking Listen mit Themen, die tabu sind, und Wörtern, die ebenfalls verboten sind. Die „Great Firewall“ genannte Internetkontrolle ist so effizient geworden, dass Chinas Internet faktisch zu einem Intranet geworden ist, in das nur wenige Inhalte von außerhalb der Grenzen Chinas eindringen. Doch mit den technischen Einschränkungen ist es noch nicht getan. Wie die Volkszeitung im April 2018 schrieb, gelte es, „eine ‚Firewall‘ in den Gehirnen aufzubauen, erst dann können wir wirklich von einer Basis für nationale Internetsicherheit sprechen“.

Tatsächlich scheint das schon ganz gut zu gelingen, sieht man sich die Resultate einer von der Stanford University im Jahr 2018 veröffentlichten Studie an. Die Forscher untersuchten während zweier Jahre die Internetgewohnheiten von 1'800 Studenten der Universität von Peking. Obwohl es durchaus möglich wäre, mittels eines Virtual Private Networks (VPN) die Zensur zu umgehen, hatten vor Beginn der Studie achtzig Prozent der Studenten dies noch nie versucht. Klar, ein VPN-Dienst kostet meistens Geld. Liegt es also einfach an den technischen und finanziellen Hürden, dass die Studenten nicht probieren, an Informationen aus dem Ausland zu gelangen? Um dies herauszufinden stellten die Wissenschaftler den Studienteilnehmern während achtzehn Monaten kostenlos eine VPN-Software zur Verfügung. Die Resultate waren ernüchternd. Selbst nach sechsmaliger Erinnerung aktivierte nur knapp die Hälfte der Studenten die Software. Und von diesen interessierten sich nicht einmal fünf Prozent für ausländische Nachrichtenmedien, selbst wenn deren Inhalte auf Chinesisch verfasst waren.

Quellenangaben

  • 1 Dies bezieht sich auf eine Aussage vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, der im Jahr 2000 höhnte, die Versuche Chinas, das Internet zu zensieren, seien ebenso aussichtsreich wie der Versuch, einen Wackelpudding an die Wand zu nageln.