Das Schulsystem dressiert unsere Kinder, um möglichst gut und angepasst in der Gesellschaft zu funktionieren. Doch es gibt sie: Orte, an denen man lernen und sich wohlfühlen kann. Und an denen man gesehen wird als das einzigartige Menschenwesen, das man ist.
Lernen erfolgt am besten über Sinneseindrücke: In der Freien Lernwerkstatt Supersense ist der Name Programm. Pädagoge Michael Pichler-König hat sie in Wien gegründet.
„Was du mir sagst, das vergesse ich. Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich. Was du mich tun lässt, das verstehe ich.“
Konfuzius
Ein Junge, damals sechs Jahre alt, zeigte mir stolz seine Spielfiguren. Sie sahen malträtiert aus – er hatte ihnen die Köpfe abgerissen. „Und morgen mache ich das auch bei meiner Mama und meinem Papa und meiner Lehrerin“, kündigte er an. Als ich wissen wollte, warum, entgegnete er wütend: „Weil sie nur Regeln und Schimpfen im Kopf haben. Und das mag ich nicht.“ In einer Runde, in der ich mit Drittklässlerinnen zusammensaß, brach es aus einem Mädchen heraus: „Ich will nicht mehr leben.“ Alle schwiegen betroffen, bis ich fragte, was sie belasten würde. „Ich bin jeden Tag müde, ich kann einfach nicht mehr, alles ist mir zu viel, immer dieser Druck, alle wollen etwas von mir.“ Ob sie darüber schon mit den Eltern geredet habe? „Die sagen, ich soll mich nicht so anstellen.“
Wie willkommen sind Kinder? Ich habe, pädagogisch ausgebildet, viel Zeit mit vielen Kindern verbracht und nie aufgehört, mir diese Frage zu stellen. Gerade weil ich immer wieder miterleben musste, dass Kinder sich das, bewusst oder unbewusst, oft selbst fragen. Immer wieder geraten sie in Situationen, die sie zweifeln lassen, ob sie überhaupt erwünscht sind. Immer wieder müssen sie erleben, dass ihre Bedürfnisse nicht wichtig sind. Immer wieder werden sie in das hineingepresst, was Erwachsene vorgeben, was aber nicht ihrem inneren Wesen entspricht.
Allein: Müsste es nicht eigentlich eine gute Zeit für Kinder sein? Bereits Ende der 1970er-Jahre dachte der Kinderrechtler Ekkehard von Braunmühl in seinem sehr lesenswerten Buch Zeit für Kinder darüber nach: „Zu keiner Zeit wurden Kinder mehr beachtet, wussten die Erwachsenen mehr über das Wesen von Kindern, über die Bedürfnisse von Kindern, über die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen sich Kinder am besten entwickeln (…) Die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird garantiert, die Würde des Menschen ist unantastbar, Selbstbestimmung und Mitbestimmung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und andere vielversprechende Begriffe haben Hochkonjunktur – es könnte, es müsste eine reine Lust sein, als Kind in dieser Zeit zu leben.“ Trotzdem sei, wie Ekkehard von Braunmühl treffend feststellte, „irgendwie und irgendwo der Wurm drin“. Und das ist er, gut vierzig Jahre später, nicht minder.
Tatsächlich weiß man gar nicht, wo man anfangen soll, wenn man die Nöte und Beschwernisse beschreiben will, die die Kindheiten von heute prägen. Es stimmt, dass Kinder hierzulande nicht in Slums hungern, in Fabriken schwer schuften oder ständig vor Bombenangriffen fliehen müssen. Aber es stimmt leider nicht, dass es ihnen automatisch gut geht, nur weil sie davon verschont bleiben. Wie viele unglückliche Kinder es gibt, ist von keiner Statistik erfasst. Man kann nur mutmaßen. Alleine die Tatsache, dass die Kinderpsychiatrien überfüllt sind, dass immer mehr Kinder an Depressionen leiden und an Essstörungen, ist ein deutliches Alarmsignal. Da man mit Verallgemeinerungen immer falschliegt, soll an dieser Stelle gesagt sein, dass es natürlich zahlreiche – von der Statistik ebenso wenig erfasste – Kinder gibt, die sich geborgen, gesehen und geliebt fühlen.
Doch wieso tun das nicht alle? Weil das erfordert, dass nicht nur die Eltern, sondern eine ganze Gesellschaft und die von ihr gewählten Vertreter, also die Politik, das Wohl der Kinder an allererste Stelle setzt – aber genau das in der Realität nicht erfolgt. Stattdessen werden schwindelerregende Milliardenbeträge aufgewendet, um die Produktion von Geräten und Maschinen zu finanzieren, die zig Menschen töten. Der Kult des Todes, der längst um sich gegriffen hat, beeinträchtigt auch und gerade die Kinder. Man spart an allem, was sie fördert, sei es an finanzieller, sei es an emotionaler Zuwendung. Dietrich Bonhoeffer, der sich unerschütterlich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagierte, stellte zurecht fest: „Die Moral einer Gesellschaft zeigt sich in dem, was sie für ihre Kinder tut.“ Also auch in dem, was sie unterlässt.
Von allem, was an dieser Stelle aufgezählt werden kann, widmet sich dieser Text dem, was unter dem Begriff „Bildung“ zusammengefasst wird. Gerade, was das Schulsystem betrifft, mehren sich nicht erst seit heute die Klagen. Die einen glauben, man könnte es noch reparieren, man müsse nur dort oder da nachbessern, andere sind überzeugt, dass es längst am Boden liegen würde und sämtliche Wiederbelebungsversuche zwecklos wären. Zu denen, die seit vielen Jahren auf die desaströsen Zustände an den Schulen hinweisen, gehört der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther. Als Kritiker des deutschen Schulsystems will er sich dennoch nicht verstanden wissen. Das machte er auch in einem Interview mit FOCUS online deutlich, das im Februar 2023 veröffentlicht wurde. Darin stellte er außerdem klar: „Die meisten Lehrer machen es, so gut sie können. Sie brauchen unsere Unterstützung. Denn sie sind größtenteils auch Opfer dieses Systems, müssen Vorgaben erfüllen und werden von den übergeordneten Behörden und zum Teil auch von ihren Rektoren bisweilen derartig zu Objekten gemacht, dass es eigentlich unwürdig ist.“
Genauso ergeht es den Schülern. Sie werden nicht in ihrer Individualität und Einzigartigkeit erkannt und unterstützt, sondern ebenfalls zu etwas gemacht, was einem Ding gleichkommt. Hüther erklärt, warum: „Schulen hatten noch nie die Aufgabe, Heranwachsenden bei der Entfaltung ihrer Potenziale zu helfen. In allen Gesellschaftsformen ging es darum, sie auf die Aufgaben vorzubereiten, für die sie dann gebraucht wurden.“ Im Kaiserreich habe man kaisertreue Bürger hervorbringen wollen, im Nationalsozialismus sollten möglichst linientreue Nazis ausgebildet werden, im Ostblock und der DDR ordentliche Sozialisten. Insofern habe das Schulsystem seit je eine gesellschaftserhaltende Aufgabe. Aktuell fällt Hüthers Analyse so aus: „Unser heutiges gesellschaftliches System ist auf den Erwerb von Besitztümern und konsumgesicherten Wachstum ausgerichtet und aufgebaut. Und – wenn ich das sehr sarkastisch sagen darf – da macht die Schule heute einen sehr guten Job.“
Tatsache ist also: So kann es nicht mehr weitergehen. Das System Schule, wie wir es kennen, hat sich totgelaufen. Es basiert auf einem Menschenbild, wonach der Mensch sich verleugnen und unterordnen soll. Man soll nicht sich selbst entdecken und seinem Wesen gemäß einbringen, sondern seinen Platz im kapitalistischen Hamsterrad finden. Wenn man erfolgreich sein will, soll das nicht irgendein Platz sein, sondern einer, den man sich durch möglichst viel Ellbogenmentalität erworben hat. Wer sich fremdbestimmen lässt, hat gewonnen – auch wenn er sich längst verloren hat. Bereits im Mutterbauch beginnt die Maschinerie des Funktionierenmüssens. Entwickelt sich das heranwachsende Kind nicht so, wie man sich das vorstellt, weicht es ab, zeigt es Anomalien, dann wird Abtreibung ganz selbstverständlich praktiziert. Der Mensch ist also einer klar definierten Norm von Anfang an ausgeliefert. Und damit den Mächten, die diese Norm definieren.
Gibt es daraus überhaupt ein Entrinnen? Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard schrieb in seinem Roman Alte Meister diese wenig hoffnungsvollen Sätze: „Der Staat denkt, die Kinder sind die Kinder des Staates, und handelt entsprechend und tut seit Jahrhunderten seine verheerende Wirkung. Der Staat gebiert in Wahrheit die Kinder, nur Staatskinder werden geboren.“ Ihm zufolge gäbe es kein freies Kind, sondern nur das Staatskind, mit dem der Staat machen könne, was er wolle. „Der Staat bringt die Kinder auf die Welt, den Müttern wird nur eingeredet, dass sie die Kinder auf die Welt bringen, es ist der Staatsbauch, aus dem die Kinder kommen (…) Die Staatskinder kommen aus dem Staatsbauch auf die Welt und gehen in die Staatsschule, wo sie von den Staatslehrern in die Lehre genommen werden.“ Wohin wir auch schauten, es gäbe „nur Staatskinder, Staatsschüler, Staatsarbeiter, Staatsbeamte, Staatsgreise, Staatstote.“
Nicht gerade ermutigend. Doch da ich für die Resignation nicht begabt bin, schlage ich vor, diese Sätze als Appell zu nehmen, sich mit dem Zustand, den Bernhard beschreibt, nicht abzufinden, sondern daraus endlich auszubrechen. Und damit aus einer Ideologie, die den Menschen verkümmern lässt. Stattdessen gilt es, etwas aufzubauen, was ihn zu seinen höchsten Möglichkeiten bringt. Blicken wir auf die Schule, dann geht es darum, dass Kinder den Entdecker in sich leben können, denjenigen, der gestalten und sich begeistern will. Denjenigen, der weiß, dass er ein Anrecht hat auf eigene Erfahrungen, eigene Lernprozesse, eigene Sichtweisen. Demgemäß orientiert sich Schule am Lebendigen. Und versteht Wissen nicht als ein starres, nicht als ein eindimensionales Konstrukt, nicht als etwas, was nur so und nicht anders gilt.
Das bindet auch an die Quantenphysik an, in der alles darauf hinweist, dass sich widersprechende Aussagen gleichermaßen wahr sind. Sucht Wissenschaft nach einer stringenten Erzählung, irrt sie sich ohnehin. Das erkannte unter anderem der deutsche Physiker Werner Heisenberg, der in einem Essay schrieb: „Seit der Planckschen Entdeckung des Wirkungsquantums im Jahre 1900 war in der Physik ein Zustand der Verwirrung eingetreten. Die alten Regeln, nach denen man über zwei Jahrhunderte lang die Natur erfolgreich beschrieben hatte, wollten nicht zu den neuesten Erfahrungen passen, aber auch die Erfahrungen selbst waren in sich widersprüchlich.“ Das Religiöse, das der Wissenschaft inzwischen anhaftet, hat längst an Schulen Einzug gehalten – und führt in eine geistige Verengung. Allem voran ist aber ohnehin nicht der Verstand gestellt, sondern das Herz. Was nicht meint, den Verstand abzuwerten, sondern ihn ganz selbstverständlich mit dem Herzen zu verbinden, das die primäre, die leitende Instanz ist.
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