Heute sind die Meinungen nur allzu schnell gemacht, die Urteile gefällt. Und dies meist auf Basis von dem, was in der Zeitung, im Fernsehen, Radio oder den sozialen Medien berichtet wird. Der Mann, von dessen Reise in ein umkämpftes Gebiet wir hier erzählen, wollte mit eigenen Augen sehen.
Seit Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, sind die Fronten klar gezogen: Russland verkörpert das Böse und muss in die Knie gezwungen werden. Ganz nach dem Motto „Nur ein toter Russe ist ein guter Russe“, wie es bei einer Demo auf einem Schild zu lesen war, neben dem eine deutsche Bundestagsabgeordnete stand. Der ukrainische Präsident fordert fast täglich noch mehr Waffen, noch mehr Geld und noch mehr Soldaten und wird dabei von vielen Ländern großzügig unterstützt. Jedoch ist Kriegspropaganda eines der ältesten Geschäfte der Welt und mit den digitalen Medien und KI-generierten Bildern und Videos ausgefeilter, schneller und undurchsichtiger als je zuvor. Für die Öffentlichkeit wird es dadurch immer schwieriger, Tatsachen von Propaganda zu unterscheiden.
Der Deutsche Michael Berger schreibt in seinem Reisebericht: „Wenn man einer Sache nah genug kommt, findet man Antworten.“ Es macht ihn fassungslos, dass hier wie dort knapp achtzig Jahre nach dem letzten Weltkrieg ganz salopp behauptet wird, ein nächster Weltkrieg sei wahrscheinlich und man müsse das halt eben einfach so hinnehmen: „Dürfen wir noch länger einfach nur zusehen und abwarten? Es wird nicht von alleine besser. Etwa 700 Abgeordnete im Bundestag sind für die Ausweitung des Kriegs und 100 für dessen Beendigung. Laut der letzten Umfrage würden 20 Millionen deutsche Bürger diese 100 liebend gern unterstützen.“ Krieg herrscht, so Michael, weil die Menschen, die Frieden wollen, die Entscheidungen darüber jenen überlassen haben, die noch nicht ohne Krieg auskommen. Doch Michael ist überzeugt, dass der Weg zum Weltfrieden ganz einfach ist: „Es braucht nur den Willen zum Verständnis und einen ehrlichen Umgang miteinander … und die tiefe Überzeugung, dass man mit Gewalt keine Probleme lösen kann.“ Wir sollen uns von Russland und dem Donbass ab- und nur dem Leiden in der Ukraine zuwenden, „doch ein mitfühlendes Herz kann das nicht“. Also beschließt Michael, eine „Freundschaftsreise“ nach Russland und in den Donbass zu machen, um zuzuhören, zu verstehen, Freundschaften zu schließen und sich selber ein Bild von der Lage zu machen, die in den Medien so einseitig und marktschreierisch dargestellt wird.
Zwei Dingen will er besonders auf den Grund gehen:
Dazu macht sich Michael Berger im Mai 2023 auf den Weg, nur begleitet von seiner eineinhalbjährigen Eurasier-Hündin Bella. Die Reise, die insgesamt zweieinhalb Monate dauern wird, bewältigt Michael in seinem kleinen „Supermobil“.
Um Antworten auf die erste seiner beiden Fragen zu finden, steuert Michael nach Überquerung des Kaukasus zunächst die Halbinsel Krim an. „Ich spreche leider nicht wirklich Russisch. Im Verlaufe der Reise habe ich mir ein paar Worte und die Zahlen von eins bis zehn angeeignet. Trotzdem stehe ich nach wie vor wie der Ochs vorm Berg, wenn mich Russen als Landsmann ansehen, was ziemlich häufig vorkam, und mit mir in ganzen Sätzen und normaler Sprechgeschwindigkeit ein Gespräch anfangen. Um derartige Bemühungen nicht zu überstrapazieren, gewöhnte ich mir an, möglichst schnell meine zwei auswendig gelernten Standardsätze: ,Entschuldigung, ich spreche kein Russisch. Ich bin Deutscher‘, auf Russisch loszuwerden. Das erregte dann meist bei allen Anwesenden das Interesse und führte zu besonders herzlichen und kurzen Austauschen, die, wie man sich vorstellen kann, häufig zumindest teilweise mit Händen und Füßen geführt wurden.“
Als Michael die Brücke von Kertsch, die im Osten auf die Krim führt, überqueren will, gerät er zum ersten Mal in eine Militärkontrolle: „Unser schnuckeliges Wohnmobil sollte komplett geröntgt werden. Die Russen haben dazu einen Fahrzeugscanner gebaut, in den problemlos auch Reisebusse oder große LKWs hineinpassen. Ich sollte dazu an einer bestimmten Stelle vor der Röntgenhalle warten, bis wir dran waren. Das war der Soldatin, die die Abfertigung organisierte, sehr wichtig und sie wies mich an, genau diese Stelle anzufahren. Ich verstand sie nur leider nicht und gab deshalb für eine kurze Zeit das klägliche Bild eines hin und her zuckelnden Touristen ab. Bis die Dame realisierte, was da los war, und mir durch deutliche Armbewegungen den rechten Weg wies. Nach kurzer Wartezeit fuhren wir hinter einem russischen Reisebus in den Scanner ein. Da Röntgenstrahlen ja nicht gerade das Leben verlängern, sollten wir Passagiere in einem Nebengebäude warten. Dabei wurden dann auch gleich die Dokumente geprüft.“
Nach der normalen Kontrolle wird Michaels Pass an einen jungen Mann im langen Mantel weitergegeben, „offenbar ein Ranghöherer, den die Aura ,Geheimdienst‘ umgab und der offensichtlich auch den Respekt seiner wesentlich älteren Kollegen genoss. Er rief uns zu sich und wollte ebenfalls wissen, was uns denn hierherführte. Ich gab an, dass ich hier sei, um die Wahrheit über die Situation auf der Krim und im Donbass herauszufinden und zu Hause darüber zu berichten. Das beeindruckte den jungen Mann und die anderen anwesenden Soldaten sichtlich. Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich von angespannt in freudig überrascht. Nach der nochmaligen Prüfung meines Passes und der Registrierung unseres fahrbaren Heims bekam ich die Dokumente mit einem festen Händedruck und den besten Wünschen für unsere Reise zurück und wir durften gehen. Juhu! Der Überfahrt auf die Krim stand nun nichts mehr im Wege. Beim Hinausgehen verfolgten uns die Blicke vieler Anwesender und ein Soldat der uns entgegenkam, hielt uns mit einem schwungvollen ,Do svidaniya‘ (’Auf Wiedersehen!’) die Tür auf. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie sehr sich die Menschen dort ganz offenbar danach sehnen, dass die Welt erfährt, wie ihr Leben tatsächlich aussieht.“
Michael und Hund Bella kommen am 9. Mai 2023, einem der höchsten russischen Feiertage, in Sewastopol an. Als sie am Abend ins Stadtzentrum fahren, um den Feierlichkeiten zum Sieg über den Nationalsozialismus beizuwohnen, begegnen sie einem jungen Paar mit einem Beagle. Und weil die beiden Hunde sich kennenlernen wollen, kommen eben auch die Menschen miteinander ins Gespräch: „Der junge Mann hieß Sergeij1 und es stellte sich heraus, dass er seinen Bruder, der in meiner Nähe wohnt, dort schon besucht hatte. Wow, dachte ich, die Welt ist wirklich ein Dorf und … hoffentlich bald eine große Familie.“
Michael muss sich in den darauffolgenden Tagen um eine SIM-Karte kümmern, damit er auf der Krim GPS und Übersetzungsapps nutzen und telefonieren kann. Er lernt, wie Schlangestehen und Parken „auf Russisch“ funktioniert – „es gibt in Russland ein ausgeprägtes Leben-und-leben-Lassen“ – und er trifft immer wieder auf freundliche und sehr hilfsbereite Menschen. Mehrfach wird er von Leuten, die er eben erst kennengelernt hat, zum Essen eingeladen oder bekommt sogar ein Bett für die Nacht angeboten.
Über Jalta geht die Reise nach ein paar Tagen weiter in die Hauptstadt der Krim, Simferopol. Ziel ist diesmal eine Begegnungsstätte der lutherischen Kirche der Krim. Michael hatte im Internet von Daniil Kaiser gelesen, der diese Begegnungsstätte leitet. Statt auf Daniil trifft Michael auf Kirill, den Vikar der Gemeinde, der ihn zunächst zu Tee und Konfekt und am Abend zu sich nach Hause einlädt: „Es gab Fleisch mit Soße, weißen russischen Käse und andere Leckereien, mit dem anschließend obligatorischen Tee und Süßigkeiten.“ Michael schlägt das Übernachtungsangebot zwar höflich aus, nimmt hingegen die Einladung zum Duschen und Frühstücken am nächsten Morgen gerne an. Bei dieser Gelegenheit wird ihm von Kirill der Kontakt zu Kurt vermittelt. Kurt stammt ursprünglich aus Deutschland, und so bietet sich die Gelegenheit zu einem Gespräch in Michaels Muttersprache. „Kurt klärte mich darüber auf, dass in Russland das Wohneigentum die Regel ist und in Mehrfamilienhäusern das Grundstück und das Äußere der Gebäude inklusive des Treppenhauses dem Besitzer der Liegenschaft oder dem Staat gehören. In der Ukraine ist dabei über Jahrzehnte nichts oder nur wenig in Modernisierung und Infrastruktur investiert worden. Und wenngleich das ,neue‘ russische Mutterland zusammen mit der Regionalverwaltung auf der Krim vielleicht extra viel unternimmt, um den Investitionsstau aufzuholen, kann ich auf jeden Fall bestätigen, dass hier nach und nach Altes mit notwendigem Neuen ersetzt wird.“ Nachdem Michael dann Daniil, den Leiter des Begegnungszentrums, doch noch getroffen und sich mit ihm über die Geschichte der Krimdeutschen, die aktuelle Situation und die Zukunftsaussichten ausgetauscht hat, will er sich aufmachen in den Donbass. Doch daraus wird vorerst nichts, denn Michaels treue Reisebegleiterin Bella erkrankt schwer.
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